LYDIE SCHMIT (1939-1988): Mehr Sozialismus

Eine politische Biographie, verfasst von der woxx-Mitarbeiterin Renée Wagener, in der auch eine spannende Epoche der jüngeren Luxemburger Geschichte geschildert wird.

Hoher Besuch 1983: Der Jesuit und nicaraguanische Erziehungsminister Fernando Cardenal – vorne, mit Lederjacke – sowie Luxemburger Dritte-Welt-AktivistInnen werden von einer Parteidelegation unter Führung von u.a. Lydie Schmit (rechts) und Willy Dondelinger (links) empfangen.

Es klingt wie eine Ironie der Geschichte, dass der Todestag der ehemaligen LSAP-Präsidentin Lydie Schmit, der sich am 7. April zum 25. Mal jährte, fast genau mit dem Margaret Thatchers, der am 8. April verstorbenen ehemaligen englischen Premierministerin, zusammenfällt. Denn politisch dürften die beiden Frauen, deren aktive Phase die 70er und 80er Jahre umfasste, rein gar nichts gemein gehabt haben – außer vielleicht der Tatsache, dass beide beispielhaft für den in dieser Zeit sich anbahnenden Emanzipierungsprozess der Frauen in der Politik und ihrem Griff nach den „Hebeln der Macht“ stehen.

Doch während die eine ihre Lebensaufgabe darin sah, dem in ihren Augen sklerosierten Sozialstaat den Garaus zu machen, forderte die andere, am Ende ihres viel zu kurzen Lebens, in einem an ihre Parteifreundin Lydie Err gerichteten persönlichen Appell „méi Sozialismus“. Als die damals erst 49-jährige an einem Krebsleiden starb, hatte sie ihre politischen Positionen teilweise radikalisiert.

„Méi Sozialismus“ lautet auch der Titel der politischen Biografie, die Renée Wagener im Auftrag der Fondation Lydie Schmit verfasst hat, und die diese Woche vorgestellt wurde. Das 288-Seiten umfassende Buch dürfte, sowohl vom Ansatz als auch von der Form her, das erste seiner Art in Luxemburg sein. Sein Zweck war es nicht, wie sonst bei „bestellten“ Biographien üblich, ein Loblied auf die betreffende Person und die mit ihr verbundenen Organisationen zu singen. Auch beschränkt sich das Buch nicht auf die Darstellung der Protagonistin, sondern beschreibt und analysiert, als wissenschaftliches Werk, die Politik einer Zeitspanne, über die in Luxemburg bislang recht wenig historisch gearbeitet worden ist.

Dass dabei die LSAP und die im Buch erwähnten Mitglieder und Führungskräfte bis hin zu Lydie Schmit selbst nicht immer nur in vorteilhaftem Licht erscheinen und mitsamt ihren Widersprüchen dargestellt werden, liegt in der von der Fondation Lydie Schmit bewusst formulierten Zielsetzung des Auftrags an Renée Wagener. Stiftungspräsident Ben Fayot, LSAP-Abgeordneter und Verfasser mehrerer historischer Werke, insbesondere über seine eigene Partei, betonte bei der Vorstellung des Buches Anfang dieser Woche, dass der Autorin zu keiner Zeit während der über drei Jahre, die die Arbeit beanspruchte, irgendwelche Vorgaben gemacht wurden. Weder bei der Recherche noch bei der redaktionellen Arbeit war Renée Wagener nach eigenem Bekunden Druck ausgesetzt. Im Gegenteil: Sie hatte Zugang zu den Archiven der LSAP in einem Maße, das ihr ohne das Mandat der parteinahen Stiftung wohl kaum gewährt worden wäre.

Dass eine gewisse Distanz zum studierten Objekt der wissenschaftlichen Arbeit förderlich sein kann, kann Ben Fayot nur bestätigen: „Der erste Teil meiner historischen Abhandlung über die Luxemburger sozialistische Partei, der bis in die Nachkriegszeit führt, ist mir weit besser gelungen als der zweite Teil, der in die Zeit reicht, in der ich selber politisch aktiv geworden bin.“ Renée Wagener erfüllte in den Augen der Stiftung dieses Kriterium der Unabhängigkeit, insofern sie zwar politisch aktiv war, dafür aber einer anderen „mouvance“ angehörte. Die Autorin, die zehn Jahre für die Grünen im Parlament saß, gibt ihrerseits an, Lydie Schmit nie persönlich kennengelernt zu haben.

Entstanden ist so ein äußerst facettenreichen Buch, das selbst LeserInnen, die die beschriebene politische Epoche – von 1970 bis 1988 – miterlebt haben, manche Überraschung bieten dürfte. Der Haupttext des Buches, der in zehn Kapiteln die großen Etappen des politischen Wirkens von Lydie Schmit – von ihrem Eintritt in die Partei über ihre Rolle beim Wiederaufbau der Femmes socialistes nach der Spaltung, ihre Partei-Präsidentschaft während der liberal-sozialen Koalition, das kurze Intermezzo als Abgeordnete des Nationalparlaments, das Engagement als Vorsitzende der sozialistischen Fraueninternationale – bis hin zum Europamandat beschreibt, wird immer wieder unterbrochen von Interviews mit ZeitzeugInnen, die Lydie Schmit gekannt haben, ihr aber durchaus auch kritisch gegenüberstanden.

Daneben zeugen zahlreiche Bilder, Faksimiles und Auszüge aus Dokumenten von und um Lydie Schmit von ihrer weitgefächerten politischen Aktivität. Einzig ihre Erzrivalin Astrid Lulling, kommt nicht zu Wort. Allerdings sind die Schnittstellen zwischen beiden Frauen – sowohl auf kommunaler, landespolitischer und internationaler Ebene – so zahlreich im Buch dokumentiert, dass man versteht, weshalb sie sich abgrundtief verachtet haben müssen.

Als Lydie Schmit Mitte der 1970er Jahre zur Präsidentin der LSAP gewählt wurde, geschah das nicht ohne Hintergedanken der Männerriege, die faktisch die damals in Regierungsverantwortung stehende Partei führte. Die LSAP hatte, nachdem mit Astrid Lulling der erste weibliche Abgeordnete der Nachkriegszeit aus der Partei ausgeschieden war, keine weibliche Mandatsträgerin mehr aufzuweisen. Die immer stärker hervortretende Emanzipationsbewegung entwickelte sich weitgehend an der LSAP vorbei. Die konkurrierenden bürgerlichen Parteien hatten weitaus früher damit begonnen, Frauen nicht nur verstärkt in ihre Wahllisten aufzunehmen, sondern sie auch in Amt und (Minister-)Würden zu befördern. Die junge Lydie Schmit hatte ihr organisatorisches und taktisches Talent beim Wiederaufbau des „Foyer de la femme“ und der Frauensektion ihrer Partei, der sie erst 1970 beigetreten war, beweisen können.

Stippvisite im Parlament

Als Folge ihres nationalpolitischen Engagements wurde sie dann, im Jahre 1979, aus dem Stand heraus auch zur Abgeordneten gewählt. Doch für ihre Partei kamen die Wahlen 1979 einem Debakel gleich und führten zur Rückkehr auf die Oppositionsbänke. Die Einschätzung ihrer Wirkung als Parteipräsidentin fällt zwiespältig aus, da sie in einigen markanten Fragen, wie zum Beispiel der Stellung der LSAP zum geplanten Atommeiler in Remerschen, sich eher im Mainstream der Befürworter bewegte und erst später zu einer deklarierten Anti-Atom- und Cattenom-Position fand. Auch wurden ihr – eher von konservativer parteiinterner Seite – falsche und zu radikale Ansichten etwa in friedenspolitischen Fragen vorgeworfen. Ihr Festhalten an der Forderung eines Austritts aus der Nato, zum Beispiel, wurde als unvereinbar mit dem Status einer Regierungspartei kritisiert.

Doch auch die sie unterstützenden Frauen hatten manchen Grund, an ihr zu zweifeln: Als sie, nach nur einem Jahr, ihr Abgeordnetenmandat zurückgibt, ist die Enttäuschung groß, da die LSAP nunmehr nur noch über eine Abgeordnete verfügt und zum Spott der bürgerlichen Parteien wird. Engagierte Frauen finden ihre Heimat eher bei anderen linken Parteiorganisationen und insbesondere bei den 1983 gegründeten Grünen, die gleich mit paritätisch besetzten Listen und Parteigremien aufwarten, und damit die von den Sozialisten nicht einmal ansatzweise realisierte Quotenregelung sogar überspringen.

Doch Lydie Schmit zieht sich nicht aus dem politischen Leben zurück: 1982 hält sie als Vizepräsidentin der Sozialistischen Internationale, anlässlich der Jubiläumsfeier zum letzten Versuch der internationalen Sozialdemokratie 1912, den Frieden in Europa zu retten, im Basler Münster eine vielbeachtete Rede.

Etwas später macht sie vor allem als Vorsitzende der Sozialistischen Fraueninternationale von sich reden und tritt dort für Positionen ein, die sie in der eigenen Partei nur ansatzweise durchsetzen kann. Neben frauenpolitischen Themen ist es vor allem das in den 1980er Jahren heiß debattierte friedenspolitische Dossier, für das sich Lydie Schmit einsetzt. Gleiches gilt für die Entwicklungspolitik, für die sie sich, inzwischen zur Europa-Abgeordneten gewählt, zusehends stark macht.

Kommunalpolitisch bleibt sie während all der Jahre aktiv, strebt aber weder ein Schöffen- noch ein Bürgermeisteramt an, selbst dann nicht, als es ihr und ihren ParteikollegInnen 1982 endlich gelingt, die verhasste Rivalin Astrid Lulling aus der kommunalpolitischen Verantwortung zu drängen.

Das europapolitische Engagement nimmt sie auf, als sie schon von ihrer unheilbaren Erkrankung weiß. Dennoch arbeitet sie unermüdlich weiter, kann jedoch ihr Mandat nicht mehr bis zum Ende ausfüllen. Sie vermacht einen Teil ihres Erbes dem nicaraguanischen Volk, mit dem Auftrag an den Erziehungsminister Fernando Cardenal, den sie einige Jahre vorher bei dessen Besuch in Luxemburg kennengelernt hat, damit Schulmaterial „pour les enfants du Nicaragua“ zu finanzieren.

Als sie am 9. April 1988 beerdigt wird, hält sie posthum selbst die Trauerrede in Form eines Briefes, den sie an Freunde und Bekannte richtet. Die erscheinen so zahlreich, dass in der kleinen Südgemeinde Schifflingen der Verkehr zusammenbricht.

Das Buch erwähnt auch heikle Themen, wie die Mutmaßung, Lydie Schmit sei lesbisch gewesen. Im biederen Luxemburg war die Eigenständigkeit der „roten Nonne“ vielen ein Dorn im Auge. Ihre Biografin fand keine Bestätigung für eine lesbische sexuelle Orientierung und fragt daher, ob ihre „persönliche Priorität [nicht] ganz ihrem Engagement in Politik und Beruf [galt], dass es keinen Raum, aber auch kein Bedu?rfnis fu?r eine private Bindung [gab].“

Wagener, Renée: „Méi Sozialismus!“ Lydie Schmit und die LSAP 1970-1988.
Eine politische Biografie. Herausgegeben von der „Fondation Lydie Schmit“.
288 Seiten, zahlreiche Illustrationen, Bibliografie und Personen-Index. ISBN-978-2-919908-07-3.


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