DEMENZ: Eingebundenheit fördern

Welchen Platz haben Demenzerkrankte in den Krankenhäusern, und welche Leistungen bietet die Pflegeversicherung für Betroffene? Fragen, die politisch nicht mehr ignoriert werden können.

Demente Menschen sind in Krankenhäusern oft komplett verloren.

Kürzlich in der Notfallaufnahme des Centre Hospitalier in Luxemburg Stadt: Im Minutentakt treffen neue Patienten ein. Während immer mehr Verletzte und Kranke das große, mit Schalensitzen ausgestattete Wartezimmer füllen und zum Teil stundenlang ausharren müssen, bis sie zum Arzt vorgelassen werden, sind die rund ein Dutzend Notfallzimmer für Patienten, die mit dem Krankenwagen eingebracht wurden, längst belegt. Auch hier dauert es Stunden, bis die Betroffenen durchgecheckt sind. Da die Zimmer alle belegt sind, mehren sich auf dem Flur der Notfallaufnahme die Krankenbahren: Eine der Patientinnen auf dem Flur hat Krämpfe und übergibt sich in eine Nierenschale, eine andere – die nicht fixiert wurde – fällt von ihrer Bahre und schlägt auf den Boden auf. Sie erleidet einen Anfall, schreit und schlägt um sich. Das Personal ist sichtbar überfordert. Wenn hier eine invalide Person auf die Toilette muss oder Wasser braucht, kann sie lange warten. In dem Chaos laufen Pfleger herum, dazwischen irren demente Personen über die Flure. Eine entwischt aus der Notfallstation.

Verschärft wird dieser Missstand dadurch, dass verschiedene Krankenhäuser – das elektronische Patientendossier funktioniert eben noch nicht – überhaupt nicht zusammenarbeiten, sodass etwa die Ärzte des Hôpital Kirchberg nicht automatisch über das Dossier eines Patienten, der kurz zuvor im Centre Hospitalier in Behandlung war, informiert werden. Dieser muss infolgedessen die Strapazen einiger Untersuchungen unnötigerweise ein zweites Mal über sich ergehen lassen. Zudem wird die Diagnose erschwert, da Vorerkrankungen somit nicht berücksichtigt werden – gerade jedoch bei dementen Personen ist eine stringente Kommunikation extrem wichtig.

Unser Gesundheits-system ist auf die Bedürfnisse dementer Personen nicht eingerichtet.

Aber nicht nur die Notaufnahme ist nicht wirklich auf demente Personen eingestellt. Auch danach, auf den Etagen, ist das Personal vieler Spitäler mit der Betreuung von Dementen oft komplett überfordert – vor allem, wenn diese sich in einer Paniksituation befinden, unaufhörlich um Hilfe klingeln, sich den Tropf aus den Armen ziehen, zu flüchten versuchen usw. Sehr oft werden Betroffene dann einfach medikamentös ruhiggestellt oder hinter einen Tisch geklemmt. Zum Teil erlebt man als Angehöriger auch Situationen in denen Erkrankte von überlastetem – und nicht dementsprechend ausgebildetem – Pflegepersonal angeschrien werden.

Unser Gesundheitssystem ist auf die Bedürfnisse dementer Personen nicht eingerichtet. Und das, obwohl es gerade hier auf Sorgfalt ankommt. Das gilt zunächst für die Diagnose, die nicht unproblematisch ist, da die Demenz viele Ursachen haben kann – Gefäßveränderungen, hohen Blutdruck, Medikament-Nebenwirkungen usw., auch Depressionen (siehe woxx 1214). „Die Polymedikamentation ist eines unserer Hauptthemen. Wir sind immer die ersten, die sich an den ärztlichen Verschreibungen stoßen. Es werden zu viele Medikamente verschrieben, oder ein Präparat wurde, nachdem das Problem behoben ist, nicht von der Liste gestrichen“, so René Dondelinger, Geriater am Centre Hospitalier Emile Mayrisch in Düdelingen und Präsident der „Société Médicale Luxembourgeoise de Gériatrie et de Gérontologie“ auf Nachfrage der woxx. Umfangreiche Verschreibungen können auch ausgebreitete Nebenwirkungen hervorrufen, darunter ähnliche Symptome wie Demenz.

Ist die Diagnose gestellt, kommt es darauf an, die Weiterbehandlung der Betroffenen ausreichend zu koordinieren. Jedoch: „Wir befinden uns in einer personellen Unterbelegung. Warum gibt es in jedem Krankenhaus nur einen Geriater?“, fragt Dondelinger. „Wir benötigen einen Akutgeriatriedienst, bestehend aus mehreren Geriatern, die dem Notfalldienst eines Krankenhauses angegliedert sind und rund um die Uhr Geriatriefälle betreuen.“ Oft weisen Betroffene mehrere Krankheitsbilder zugleich auf; ziehen sie sich dann z.B. eine Grippe zu, geraten all die anderen Krankheitselemente aus dem Lot. So kann ein alter Mensch, der wegen einer Lungenentzündung im Bett liegt, nach zwei Wochen nicht mehr alleine aufstehen. Um ihn auf die Toilette zu begleiten, hat niemand Zeit. Die Blase schwächelt, dann bekommt er irgendwann Windeln. Dazu kommen Verstopfungen, da er nicht mehr genug Bewegung hat. „Eine korrekte Übernahme könnte diesen Abbau bremsen“, meint Dondelinger.

Auch für Nachbehandlungen fehlt es in Luxemburg an adäquaten Strukturen. Es ist tragisch – und eigentlich schon fast eine Verletzung der Menschenrechte -, dass demente Personen in dem erst 2007 eröffneten „Nationalen Zentrum für Rehabilitation und Wiedereingliederung“ auf Kirchberg nach einer Operation keinen Platz finden. Das Zentrum sei infrastrukturell nicht für diesen Personenkreis geeignet, so das Argument.

„Akutgeriatrie und Rehabilitation gehören zusammen. Hier müssen wir effektiv neue Dienste aufbauen“, konstatiert Dondelinger. Es fehle weiterhin an Möglichkeiten für eine geriatrische Wiederherstellung von Betroffenen so wie sie im Hôpital Intercommunal de Steinfort oder im Geriatrie-Kompetenzzentrum der Zitha-Klinik praktiziert wird.

Es ist eigentlich schon fast eine Verletzung der Menschenrechte -, dass demente Personen in dem erst 2007 eröffneten „Nationalen Zentrum für Rehabilitation und Wiedereingliederung“ auf Kirchberg nach einer Operation keinen Platz finden.

Aber auch eine Vereinheitlichung der Betreuung hält Dondelinger für dringend notwendig. „Die Geriater und Neurologen hätten sich gewünscht, dass im Demenzplan der Regierung über eine Art Nationalzentrum, ähnlich dem nationalen Herzzentrum, nachgedacht wird“. Dieses Zentrum müsse nicht unbedingt an einem Ort lokalisiert sein, wichtig sei nur, dass es einheitliche Diagnoseverfahren vom Scanner über eine Magnetresonanztomographie vorschreibt.

Wichtig sei zudem, die Information zu dem Thema Demenzerkrankungen zu verbessern. Dondelinger kann sich sogar regelmäßige ärztliche Kontrollen vorstellen. Eine Früherkennung könnte die Krankheitsentwicklung gegebenenfalls etwas verlangsamen. „Wir haben es hier mit einer unheilbaren Krankheit zu tun wie dem Krebs. Wenn sie früh diagnostiziert wird, kann sie medikamentös etwas abgebremst werden. Heilbar ist sie jedoch nicht“.

Ist die Krankheit diagnostiziert und die Person zunehmend auf Hilfe angewiesen, kommt die Pflegeversicherung ins Spiel. „Im Allgemeinen geht die Zahl der Nutznießer der Pflegeversicherung in die Höhe. Wir haben doppelt so viele wie im Jahr 2000“,stellt Pascale Kolb fest, zuständig für die Kommunikation der „Cellule d`évaluation et d`orientation“ der „Assurance dépendance“. Die Prognosen der Gesondheetskees (CNS) besagen, dass die Pflegeversicherung im Jahr 2030 für ungefähr 18.000 Betroffene aufkommen muss. Die Diagnose Demenz liegt an dritter Stelle (33 Prozent der eingetragenen Patienten) unter den Top Ten-Erkrankungen der Versicherung. Unter diesen Nutznießern sind 50 Prozent älter als 80 Jahre. Auch befindet sich die Mehrheit der Versicherten (rund 60 Prozent) in einer Institution. 2010 wurden 74 Prozent der Gesamtausgaben der Pflegeversicherung für Menschen mit einer dementiellen Erkrankung aufgewendet. Die durchschnittlichen Jahreskosten für Personen mit einer Demenz-Erkrankung liegen bei rund 143.000 Euro. Und die Tageskosten pro Person belaufen sich auf rund 390 Euro. Für den individuellen Pflegeplan einer bedürftigen Person wird evaluiert, was sie benötigt und wie sich das gesundheitliche Problem im Alltag bemerkbar macht. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob sie die Leistungen – wie zwei Drittel der Betroffenen – zuhause erhält oder in einem Heim, Der Plan kann auf Anforderung des Heims oder einer ambulanten Pflegestelle nachgebessert werden, wenn sich der Krankheitsverlauf verschlimmert.

„Die Pflegeversicherung schenkt dieser Bevölkerungsgruppe schon besondere Aufmerksamkeit“, findet Kolb.

Die durchschnittlichen Jahreskosten der Pflegeversicherung für Personen mit einer Demenz-Erkrankung liegen bei rund 143.000 Euro.

In Deutschland ist zum 1. Januar 2013 die Reform der Pflegeversicherung in Kraft getreten. Dabei wurden die Beitragszahlungen um 0,1 Prozent erhöht; ein Großteil der dadurch gewonnenen Mittel soll in Leistungen für Demenzkranke fließen. Für Kritiker jedoch gehen die Maßnahmen der Reform nicht weit genug: Auch hier begutachtet der medizinische Dienst der Krankenversicherung pflegebedürftige alte Menschen und teilt sie in Pflegestufen ein. Je höher die Stufe, desto höher die Leistungen. Dabei werden jedoch körperliche Gebrechen oft erheblich höher bewertet als eine Demenz.

„Diese Kritik lässt sich so nicht auf Luxemburg übertragen“, meint Kolb. Allgemein beziehe sich die Pflegeversicherung auf Hilfestellungen im Alltag, wobei diese „actes essentielles de la vie“ die drei Bereiche Hygiene, Ernährung und Mobilität betreffen. Spezifisch für Luxemburg sei jedoch, dass die Hilfestellungen, die eine Person im Alltag benötigt, von unterschiedlicher Form sein können: Von aktiven Hilfestellungen bei Menschen, die eher ein körperliches Problem haben, bis hin zu „passiven“, bei denen es um Aufsicht, Motivation oder Stimulation geht und einer Person etwa erklärt wird, was sie tun soll. „Das ist gerade bei Menschen mit dementiellen Problemen eine Leistung, die sehr oft gefordert wird“, meint Kolb. So werde die konstante Stimulation als gleichrangig mit einer aktiven Hilfestellung bewertet. „Das ist schon eine Besonderheit unseres Systems“, betont Kolb. Unabhängig von den „actes essentielles de la vie“ besteht die Möglichkeit, unterstützende Maßnahmen zu fordern. Bei dementen Personen können das Gruppenangebote in spezialisierten Einrichtungen sein, von denen es zurzeit rund 40, verteilt im ganzen Land, gibt.

Nicht nur müssen ambulante und stationäre Dienste besser verknüpft werden – auch die soziale Eingebundenheit der Betroffenen hat einen bedeutenden Einfluss auf den Verlauf der demenziellen Erkrankung.

Eine Kontrolle, ob die von der Pflegeversicherung genehmigten Leistungen auch tatsächlich von den ambulanten Pflegediensten und Institutionen erbracht wurden, gibt es jedoch nur bedingt. „Familien haben die Möglichkeit, Klagen an uns weiterzugeben, wenn Dinge auffallen – dann halten wir mit dem Haus Rücksprache. Zudem können die Familien bei der Gesundheitskasse eine Kopie des Pflegeplans anfordern“, erklärt Kolb. Auch zum Personalschlüssel der Institutionen gibt es Vorschriften. „Die Gesundheitskasse hat die Möglichkeit, die in Rechnung gestellten Hilfestellungen der Institutionen mit den jeweiligen Personalschlüsseln zu vergleichen.“ Jede Hilfestellung setzt auch eine minimale Qualifikation des Personals voraus. „Es kann nicht sein, das in Pflegeheimen unqualifiziertes Personal eingestellt wird, das dann den Pflegeplan umsetzt“, unterstreicht Kolb. Jedoch auch hier klafft die Realität oft mit den Vorgaben auseinander.

Problematisch ist zudem die Belegung der Pflegeplätze – auch hier spielen die finanziellen Zuwendungen der Pflegeversicherung eine Rolle. So gibt es keinen Mechanismus, der wirksam verhindern kann, dass Heime sich alleine nach marktwirtschaftlichen Kriterien ihre Patienten aussuchen und ihre Wartelisten verwalten. „Ursprünglich, als die Pflegeversicherung 1999 eingeführt wurde, war vorgesehen, dass sie auch die Betten verwalten sollte, was jedoch damals politisch verworfen wurde,“ erläutert Kolb. Hier habe die Pflegeversicherung nun keinen Einfluß mehr. Wie bei anderen staatlichen Einrichtungen steht auch bei der Pflegeversicherung die Reform noch aus. Demnächst wird die „Inspection générale de la sécurité socale“ ihre Bilanz vorlegen. Wie die Pflegeversicherung der finanziellen Belastung in Zukunft standhalten will – die Bevölkerung altert, was auch die Anzahl dementer Personen erhöhen wird – dazu will Kolb nichts sagen und verweist erneut auf den Demenzplan der Regierung.

Jedoch ist die Demenz nicht nur eine Kosten-, sondern auch eine soziale Frage. Nicht nur müssen ambulante und stationäre Dienste besser verknüpft werden – auch die soziale Eingebundenheit der Betroffenen hat einen bedeutenden Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung. Daher kommt dem bürgerschaftlichen Engagement eine Schlüsselrolle zu. Die Lebensqualität demenzkranker Menschen kann aber auch enorm verbessert werden, wenn die Gemeinden mit Verständnis agieren und das Tabu „Demenz“ entkräftet wird. Das kann auch durch die konkrete Förderung neuer Lebensformen geschehen, die den Pflegebedürftigen die Chance eröffnen, so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung zu bleiben. Eine dieser Formen sind zum Beispiel die sogenannten Pflegewohngruppen. Entstanden ist das Konzept einer Wohngemeinschaft für pflegebedürftige Patienten vor rund 20 Jahren in Berlin. Gab es bei den deutschen Nachbarn 2001 nur knapp 100 Demenz-Wohngemeinschaften, geht man im Kuratorium Deutsche Altershilfe heute von rund 1.400 aus. Tendenz steigend.

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Demenzplan ohne Roadmap
An diesem Montag stellte die Regierung endlich ihren „Rapport final du Comité de pilotage en vue de l’établissement d’un plan d’action national maladies démentielles“ vor. Dieser Plan, erstellt von vier Arbeitsgruppen bestehend aus Geriatern, Angehörigen und Vertretern des Familien- und Gesundheitsministeriums, behandelt Aspekte wie Prävention und Früherkennung, liefert aber auch Informationen. Begrüßenswert ist, dass die Regierung endlich eine eigene Internetseite einrichten will, auf der alle Fragen zum Thema Demenz behandelt und Anlaufstellen aufgelistet werden sollen. Ein Fortschritt ist zudem, dass der Plan Weiterbildungen des Pflegepersonals vorsieht. Darüberhinaus ist eine Art persönlicher Ansprechpartner geplant, der Betroffene auf allen Stufen der Erkrankung begleiten und beraten soll. Einzig negativer Nachklang des Demenzplanes ist, dass die einzelnen Ideen, die der Plan vorbringt, zwar ein erstes gutes Brainstorming darstellen – jedoch nicht an eine konkrete Roadmap geknüpft sind. Und Papier ist ja bekanntlich geduldig.
Mehr Infos siehe: http://www.ms.public.lu/fr/index.html

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Siehe auch Dossier | Demenz


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