HILFS- UND PFLEGEBEREICH: Qualität definieren

Qualität im Pflege- und Altenbereich ist bisher nie wirklich definiert worden. Damit sich das ändert, fordern im woxx-Gespräch der Präsident und der Generalkoordinator der Copas die Einsetzung einer Normen- und Qualitätskommission.

Marc Fischbach (rechts), Jahrgang 1946, war zwischen 1984 und 1998 Minister in abwechselnden Ressorts. Er verließ die Regierung um Richter am EU-Menschenrechtsgerichtshof zu werden. Ab 2003 bekleidete er bis 2012 den Posten des Ombudsmans. In der Folge der Reorganisation der Copas wurde Fischbach im März vergangenen Jahres zum Präsidenten gewählt.
Evandro Cimetta (links), 1966 in Esch geboren, studierte Jura in Grenoble. Nach verschiedenen Tätigkeiten im privaten und öffentlichen Sektor übernahm er im September 2002 die Funktion des Generalkoordinators der Copas.

woxx: Sie waren acht Jahre als Ombudsmann in Luxemburg tätig. Während dieser Zeit waren Sie sicher mit vielen Anfragen zum Alten- und Pflegebereich befasst.

Marc Fischbach: Ich war als Ombudsman eigentlich nur zuständig für Klagen, die gegen öffentlich-rechtliche Institutionen erhoben wurden. Das ist ganz unlogisch, der Mediateur ist verantwortlich für öffentlich-rechtliche Krankenhäuser wie das Centre Hospitalier, nicht aber für das Krankenhaus Kirchberg. Es ist unsinnig, denn die Gesundheitsvorsorge ist schließlich eine öffentliche Dienstleistung. Das Gleiche gilt für die Alten- und Pflegeheime: Servior ja – aber Zitha nein, da es eine private Institution ist. Hier habe ich immer Schriftwechsel und manchmal auch heftige Auseinandersetzungen mit den Direktionen ?der Häuser gehabt. Ansonsten war ich mit einzelnen Beschwerden von Leuten befasst, die Familienmitglieder in einem Alters- oder Pflegeheim haben – das waren vor allem Klagen über Rechnungen und Fragen zu den Dienstleistungen, die im Pensionspreis enthalten sind. Wir haben immer eine Lösung für die Probleme gefunden. Aber da ich in vielen Fällen keine Befugnisse hatte, haben die Verantwortliche der Institutionen und Krankenhäuser den Ratsuchenden oft gesagt, dass es keinen Sinn habe, sich an den Ombudsmann zu wenden. Komischerweise haben sie anscheinend ein Interesse daran, dass ?sich niemand an den Ombudsman wendet.

Copas zählt heute 48 Mitgliedsorganisationen aus dem Bereich der Alten- und Behindertenfürsorge, dem Pflegekomplex, der psychischen Betreuung usw. Zu Beginn Ihrer Tätigkeit als Präsident von Copas meinten Sie, es fehle der Föderation an Sichtbarkeit, sie müsste stärker in den sozialen Kontext eingebunden sein.

Marc Fischbach: Die Sichtbarkeit einer Föderation wie der Copas ist kein Selbstzweck. Die Copas ist ein großer Zusammenschluss. Ihren Vorgängern kommt das große Verdienst zu, aus der Copas – die aus vielen Institutionen des Hilfs- und Pflegebereichs besteht – eine Dachorganisation gemacht zu haben, die von den zuständigen Ministerien und der Sozialversicherung als privilegierte Partnerin anerkannt wird. Das Problem war vielleicht, dass die Copas lange mit sich selbst beschäftigt war. Es wurden seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Pflegeversicherung von 1999 mehrere Reformen durchgeführt – davon eine wesentliche 2005, so dass die Verantwortlichen der Copas sehr mit internen und anderen Problemen beschäftigt waren, zu denen die Vereinigung Stellung beziehen musste. Und wir hatten damals nicht die erforderlichen Mittel. Heute haben wir eine Kommunikationsbeauftragte, und auch dadurch hat die Copas enorm an Sichtbarkeit gewonnen. Viele wissen mittlerweile, wer die Copas ist. Das war auch eine meiner Aufgaben: ihr in der Folge des Restrukturierungsprozesses eine größere Sichtbarkeit zu verschaffen. Auch sollte an der Spitze ein Präsident stehen, der keine direkten Interessen in der Verwaltung einer der Mitgliedsorganisationen hat.

„Wir haben keine Angst vor Blicken von außen. Trotzdem ist es sinnvoll, dass man sich auch intern die Mittel verschafft, um die Qualität immer wieder zu evaluieren.“

Einer der ersten Schritte, die unter Ihrer Präsidentschaft unternommen wurden, war die Einführung der neuen Qualitätscharta, die die Mitglieds-?organisationen intern ausarbeiten sollten. Wie weit wurde diese bisher umgesetzt?

Marc Fischbach: Wir haben im Verwaltungsrat eine Charta verabschiedet, in der sich die Copas verpflichtet, alle ihre Mitglieder bei der Ausgestaltung ihrer Qualitätsansprüche zu begleiten. Das geschieht auf einheitliche Weise und mit dem Ziel, Normen vorzuschlagen und zu definieren, die für eine stets steigerungsfähige Qualität notwendig sind. Wir wollen den Weg dafür freimachen, dass auch die öffentlichen Instanzen sich in der Definition von dem, was wir unter Qualität der Pflege verstehen, stärker voranbewegen. Wir reden heute viel über Qualität – aber bis dato wurde diese nie objektiv definiert, und das wollen wir nun leisten. Dazu brauchen wir allerdings auch auf nationaler Ebene eine Normen- und Qualitätskommission, die so strukturiert ist, dass sie Nägel mit Köpfen machen kann. Und dass es gegebenenfalls Regulierungsmechanismen gibt für Fälle, in denen nicht genügend Mittel zur Verfügung stehen, um die festgelegten Normen auch korrekt durchzusetzen.

Um welche Qualitätsnormen handelt es sich hierbei?

Marc Fischbach: Wir sind der Meinung, das es im Pflegebereich nicht ausreicht, sich für die bestmögliche Pflege und die globale Erfassung der individuellen Bedürfnisse allein auf die Tätigkeit des aide socio-familiale, der auxiliaire de vie oder des aide soignant zu stützen. Wichtig wäre im Sinne einer optimierten Pflege, vermehrt auf spezialisierte Berufe zurückzugreifen, wie etwa den des Sozialarbeiters.

Evandro Cimetta: Es gibt mehrere Ebenen in der Qualitätsdebatte: Einmal die Strukturqualität – hier handelt es sich um die Mittel, die zur Verfügung gestellt werden, um eine gute Qualität zu garantieren. Und dann die Prozessqualität. Hier geht es darum, wie die Dinge erledigt werden. Am Ende steht dann das Resultat, das evaluiert werden muss. Wir fordern, dass schon am Anfang für verschiedene Pflegeleistungen der Pflegeversicherung Normen festgelegt werden und dass je nach Situation verstärkt mit qualifiziertem Personal operiert werden kann. Das ist gegenwärtig nicht der Fall, die Pflegeversicherung sieht nur minimale Qualifikationen vor. Zudem möchten wir erreichen, dass jedes unserer Mitglieder einen Qualitätsbeauftragten bekommt. In anderen Bereichen, wie dem der Sicherheit, wurde der längst eingeführt.

In Deutschland gibt es Pflegeberichte, die veröffentlicht werden müssen, und es gibt externe Audits im Alten- und Pflegebereich. Ist es sinnvoll, dass der Qualitätsbeauftragte aus der Institution selbst stammt?

Marc Fischbach: Beides ist notwendig. Es wurde bereits gesagt, dass wir uns einer exteren Kontrolle nicht verschließen wollen – im Gegenteil. Wir haben keine Angst vor Blicken, die von außen auf das interne Geschehen geworfen werden. Wir bereiten uns auf externe Kontrollen vor. ?Trotzdem ist es sinvoll, dass man sich auch intern die Mittel verschafft – das heißt eine Person beauftragt -, ?um die Qualität immer wieder zu evaluieren.

Evandro Cimetta: Es geht um Etappen: Zuerst müssen die Möglichkeiten gegeben sein, es gut zu machen, und zum Schluss soll definiert werden, wie das kontrolliert werden kann.

Gibt es einen Plan, bis wann das umgesetzt sein soll?

Marc Fischbach: Wir haben uns intern eine Roadmap gegeben, aber wir lassen den Mitgliedern Zeit, sich dem Ziel anzunähern. In den nächsten drei Jahren sollen hier wesentliche Fortschritte gemacht sein.

Evandro Cimetta: Wir wollen jetzt konkret werden. In der Gesetzgebung zur Pflegeversicherung, die 2005 überarbeitet wurde und 2007 in Kraft getreten ist, gab es eine Qualitätskommission. Die hat aber nicht funktioniert. Deshalb haben wir die Gründung einer Normenkommision vorgeschlagen. Aber das hat ebenfalls nicht geklappt. In der neuesten Bilanzierung der Pflegeversicherung fordern wir, dass die beiden Kommissionen fusionieren, um eine einheitliche Qualitäts- und Normenkommission zu bilden.

Kommunikation spielt auch bei der Qualität eine Rolle. Wie kann man in einem Altersheim die Kommunikation zwischen der Institution, dem Arzt oder Sozialarbeiter und der Familie verbessern?

Marc Fischbach: Das reicht schon fast in den ethischen Bereich hinein. Die Ethik ist auch ein integraler Bestandteil der Qualität. Hier im Haus setzt sich gerade eine thematische Kommission mit ethischen Fragen auseinander. Wir wollen eine Richtlinie zum ethischen Verhalten in den Häusern aufstellen.

Aber fehlt es dann nicht an Kontrolle? Wenn man zum Beispiel den Pflegern in der Institution einschärft, darauf zu achten, dass die alten Personen genug zu trinken bekommen, kann man nicht sicher sein, ob es auch tatsächlich gemacht wird.

Marc Fischbach: Meine Mutter liegt auch in einem Altenheim im Bett und kann sich nicht mehr bewegen. Sie kann kaum noch reden. Ich komme morgens zu Besuch, es wird mir gesagt, sie bekomme zu trinken, und dann sehe ich trotzdem, dass sie zwei, drei Stunden nichts erhalten hat. Kontrollen müssen zur Zeit in vielen Häusern durch die Angehörigen übernommen werden. Das ist ein großes Problem, und deshalb hört man auch Leute klagen, dass die Dinge nicht so seien, wie sie sie sich vorgestellt haben. Hier müssen sich die Häuser angesprochen fühlen.

Viele alte Menschen haben zudem Angst schlecht behandelt zu werden, wenn sie Kritik äußern.

Marc Fischbach: Wir sind der Meinung, dass man ein festes Comité bei der Föderation ansiedeln sollte, so dass jedes Haus sich, wenn es einmal Probleme hat, an uns wenden kann. Aber eine wirkliche Kontrolle dessen, was in den Häusern alltäglich passiert, hat niemand. Wir haben auch in der Qualitätscharta eine Beschwerde-?stelle gefordert, an die Betroffene und ihre Familien sich wenden können. Als Familie können sie sich bei Problemen zwar auch an die Direktion wenden, aber die ist natürlich befangen.

Evandro Cimetta: Es stimmt, es gibt Fälle, in denen manches besser gemacht werden könnte. Aber im Allgemeinen klappt es eher gut. Erst 2011 wurde von der Regierung eine Zufriedenheitsstudie in Alten- und Pflegeheimen durchgeführt, und deren Resultate waren sehr gut. Der einzige Aspekt, der kritisiert wurde, war, dass das Personal zu wenig Zeit hat. Wenn wir von Strukturqualität reden, dann gehört auch die Zeit zu einer guten Pflege.

„Wenn PIB und Wachstum schwächeln, müssen die Beiträge noch weiter steigen, und dann wird es recht teuer für Betroffene der unteren Gehaltsstufen.“

Marc Fischbach: Es geht tatsächlich aus der Studie hervor, dass über 90 Prozent der Nutzer mit den Dienstleistungen zufrieden sind. Aber meine Mutter beispielsweise hätte bei einer solchen Studie nicht befragt werden können! Also all jene, die sich nicht mehr artikulieren können, wurden nicht berücksichtigt. Wenn man die alle gefragt hätte, wäre man niemals bei 98 Prozent Zufriedenheit gelandet. Diese Zahl ist ohne Frage zu hoch. Das wäre eine Idealsituation, dann bräuchten wir keine Qualitätscharta mehr. Man kann nicht ausschließen, dass der interne Informationsaustausch zwischen zwei Schichtwechseln manchmal nicht ausreichend klappt. Wenn eine Person tatsächlich wieder überprüfen würde, ob vorgeschriebene Prozeduren auch immer eingehalten wurden, könnte dies zur Qualitätssteigerung beitragen. Deswegen unser Vorschlag, dass jede Institution die Möglichkeit bekommt, einen Qualitätsbeauftragten einzustellen.

Evandro Cimetta: Man mus das Ganze auch in einen Kontext stellen. Wir wissen, dass es im Hilfs- und Pflegebereich tausende von Kunden und Mitarbeitern gibt. Man muss jedoch anerkennen, dass es in der Regel – und vor allem im Vergleich mit dem Ausland – gut klappt. Wir sind sehr offen für Kritik, aber man sollte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.

Die Gesundheitskasse hat ihr Budget vorgestellt – ein Defitzit von ?6,1 Millionen ist eingeplant für das nächste Jahr, und die Pflegeversicherung wird bis 2015 defizitär sein. Die demografische Entwicklung sieht jedoch so aus, dass es immer mehr pflegebedürftige Personen und Alzheimer-Patienten gibt. Sollten deshalb Leistungen reduziert und Tarife erhöht werden?

Marc Fischbach: Die Qualität steht für uns nicht zur Disposition. Das soll nicht missverstanden werden, es bedeutet nicht, dass die Copas immer mehr fordert! Qualität kostet eben. Wir verlangen nicht mehr, denn uns ist ja klar, dass es infolge des Anstiegs der Lebenserwartung in Zukunft immer mehr Menschen geben wird, die ihre Autonomie ganz oder teilweise verlieren – mit der Konsequenz, dass die Masse der Pflegeleistungen steigt. Wir befürworten ein Finanzierungsmodell, das – bei gleichbleibenden qualitativen Anforderungen und auch einer eher auf Prävention ausgerichteten Gestaltung der Pflege – auch in Zukunft finanzierbar bleibt. Es soll über alles diskutiert werden, sowohl über das Volumen der Pflegeleistungen, die dem Einzelnen zustehen, als auch über die Beiträge.

Die Copas hat hier keine konkretere Position?

Marc Fischbach: Nein, aber ich entnehme den Äußerungen des Minis-?ters, dass er eine Beitragserhöhung in einem pluri-annuellen Verständnis privilegiert. Er hat ausgerechnet, dass bei einer Erhöhung der Beiträge von 1,4 auf 1,7 Prozent die Pflegeversicherung bis 2030 finanziell gesichert ist. Das sind Rechnungen, die wir nicht nachvollziehen können, denn alles hängt schließlich von der Entwicklung des PIB und vom Wachstum ab. Wenn diese schwächeln – und voraussichtlich wird das in den nächsten Jahren der Fall sein -, dann müssen die Beiträge noch weiter steigen, und dann wird es recht teuer für Betroffene der unteren Gehaltsstufen. Und deshalb sind wir der Meinung, dass man über das Ganze diskutieren muss.

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Copas

Entstanden ist die „Fédération Copas“ 1997 im Zuge der Entwicklung der Pflegeversicherung. Zur Zeit hat sie insgesamt 48 Mitglieder, fast die Gesamtheit aller Organisationen im Hilfs- und Pflegebereich, mit im Ganzen über 10.000 ArbeitnehmerInnen.

Infos unter: www.copas.lu


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