VOR DEN EU-WAHLEN: Auf der Suche nach dem Gesicht Europas

Europaweite SpitzenkandidatInnen sollen den EU-BürgerInnen die nächsten Europawahlen näher bringen. Erstmals ist der Posten des EU-Kommissionspräsidenten direkt an die Wahl gekoppelt. Das birgt Risiken und Nebenwirkungen. So manchem droht auf dem Personenkarrussel schwindlig zu werden.

Der eine will’s werden,
der andere ist’s seit neun Jahren: Der aktuelle President des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (r.), könnte Spitzenkandidat der Europäischen Sozialdemokraten werden. José Manuel Barroso›s (l.) zweites Mandat als Kommissionspräsident läuft nächstes Jahr aus.

Dürften deutsche Journalisten europäische Spitzenposten besetzen, würde Jean-Claude Juncker gleich mehrmals nominiert. Europas dienstältestem Regierungschef sprach die deutsche Presse am Rande ihrer Berichterstattung über die vorgezogenen Neuwahlen im Großherzogtum Kompetenzen für mehrere europäische Ämter zu: Chef der Eurogruppe, Präsident des Europäischen Rats oder Präsident der europäischen Kommission – so mancher Kommentator sah in diesen Aufgaben für den 58-Jährigen echte Alternativen zur Führung der Luxemburger Regierungsgeschäfte.

Doch Mister Euro winkte ab. Zumindest in den heimischen Medien. Seine Kandidatur für die nationalen Wahlen sei wirklich „ernst gemeint“ und er habe große Lust, seine Arbeit in Luxemburg zu machen, sagte Jean-Claude Juncker am 13. Juli in der Sendung Background auf RTL-Radio. „Ich kandidiere, um in Luxemburg meine Arbeit zu machen“, lautete die Antwort auf die Frage, ob er sein Mandat auch zu Ende führen werde. Auch im Falle einer Wahlniederlage werde er sein Abgeordnetenmandat „ganz klar“ annehmen, bestätigte der Staatsminister seine Position ein paar Tage später im „Wort“-Interview. „Ich lege mich in dieser Frage bereits jetzt fest, im Gegensatz zu einigen Kandidaten von anderen Parteien.“

Sollte der Luxemburger Premier wider solche Verlautbarungen einen Plan B mit europäischen Ambitionen in der Schublade aufbewahren, könnte ihm das vorgezogene Datum der nationalen Wahlen durchaus entgegenkommen. Denn 2014 werden in den Chefetagen der Europäischen Union besonders viele Jobs vergeben. Sich auf diesem Arbeitsmarkt umzusehen, dürfte leichter fallen, wenn man selbst nicht gerade mitten im nationalen Wahlkampf steckt. Dies wäre jedoch der Fall gewesen, wenn, wie ursprünglich geplant, in Luxemburg Chamber- und Europawahlen an ein- und demselben Tag, am 25. Mai, abgehalten worden wären.

Juncker raus aus dem europäischen Rennen?

Im kommenden Jahr werden in der Tat nicht nur 751 neue Parlamentarier-Posten in Straßburg und Brüssel vergeben, im Anschluss an die Wahl werden die 26 EU-Kommissare und deren Vorsitzender sowie der Hohe Repräsentant für Außenbeziehungen und Sicherheit bestimmt. Zudem laufen 2014 die Mandate des Präsidenten des Europäischen Rats und des Nato-Generalsekretärs aus. Zur Debatte steht schließlich auf deutsch-französischen Wunsch auch wieder die Schaffung eines permanenten und in Vollzeit besetzten Postens an der Spitze der Eurogruppe.

Erstmals wird im kommenden Jahr die Bestimmung des neuen Kommissionspräsidenten an das Wahlresultat gebunden. Zwar sind es nach wie vor die Staats- und Regierungschefs, die sich im Europäischen Rat auf einen Anwärter auf dieses hohe Amt einigen. Laut Lissabonner Vertrag schlägt der Rat dem Parlament diesen Kandidaten „nach entsprechenden Konsultationen“ vor und „berücksichtigt dabei das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament“. Danach muss eine Mehrheit des neu gewählten Parlaments dem Vorschlag zustimmen. Scheitert der Kandidat, hat der Rat einen Monat Zeit, einen weiteren Anwärter vorzuschlagen.

Die Neuerung im europäischen Regelwerk wird noch vor ihrer Erprobung in der Praxis von vielen Seiten als Demokratiegewinn gefeiert. Dies könnten die ersten genuin „europäischen“ Wahlen werden, orakelt etwa Simon Hix, Professor für „European governance“ an der „London School of Economics“: „Es wird das erste Mal sein, dass Europäer bestimmen können, wer den mächtigsten Posten innerhalb der EU inne hat.“

Damit sich die Wähler nicht mit dem komplizierten EU-Gebilde auseinandersetzen müssen, sondern sich mit einer Person identifizieren können, um auf diesem Weg den Willen, zur Wahl zu gehen, zu stärken, ging die Europäische Kommission im Frühjahr einen Schritt weiter und schlug vor, dass die Parteien mit europäischen Spitzenkandidaten in diesen Wahlkampf ziehen. Auf dem Wahlzettel solle sichtbar werden, welcher politischen Familie jeweils die nationalen Parteien angehören und jede Partei soll ganz oben auf der Liste den Namen der Person nennen, die ihre Unterstützung für den Posten des Kommissionspräsidenten bekommt, so der Wunsch der Kommission. „Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass sich die großen europäischen Parteien auf eine Person einigen“, sagte im März EU-Kommissarin Viviane Reding, als sie den Vorschlag in Straßburg vorstellte.

Mehr Demokratie als Auslöser einer institutionnellen Krise?

Nicht alle stehen dem neuen Verfahren positiv gegenüber. Der Kommentator der Presse-Agentur Reuters, Paul Taylor, spricht von einer „fausse bonne idée“. Die Europapawahlen, die für manche als Protestwahl gegen nationale Regierungen fungieren, könnten zum ersten Mal dazu genutzt werden, Europa selbst einen mächtigen Tritt zu verpassen, schreibt Taylor in seinem Blog. Er verweist auf Wahlprognosen, die in Ländern wie Frankreich, Großbritannien, Italien, Griechenland oder den Niederlanden EU-Gegnern und extremen Parteien ein Drittel der Stimmen zuordnen. Dies könne dazu führen, dass es weitaus schwieriger wird, eine Mehrheit zur Wahl des nächsten Kommissionspräsidenten zusammenzubekommen, so Taylor.

Günther Verheugen, FDP-Politiker und früherer EU-Kommissar, warnt gar vor einer institutionnellen Krise. „Was passiert, wenn der Kandidat des Europaparlaments von seinem eigenen Mitgliedstaat nicht unterstützt wird?“, so Verheugen in einem Interview gegenüber der Internetagentur EurAktiv. „Das Resultat wäre eine institutionnelle Krise. Und das ist das Letzte, was wir in der jetzigen Situation gebrauchen können.“

Dass sich in Europas Polit-Elite kaum jemand um eine Spitzenkandidatur reißt, ist angesichts der Wahlprognosen verständlich. Es ist schwer vorherzusehen, wie die Mehrheitsverhältnisse im kommenden Parlament aussehen. Zudem ist unklar, ob die christkonservative Europäische Volkspartei auch künftig stärkste Fraktion im Parlament bleibt, oder ob diesmal die Sozialdemokraten das Rennen machen.

Jedoch signalisierte bislang keine der europäischen Parteien, dass sie dem Wunsch der Kommission nach der Nominierung eines Spitzenkandidaten nicht nachkommen wird. In den Brüsseler Fluren kursieren viele Namen, durchsetzen konnte sich bis dato jedoch keiner. Die meisten Parteien ließen verlauten, sich im kommenden Februar festlegen zu wollen. Doch, wie muss er oder sie nun aussehen, der perfekte Kandidat, der sowohl die Führungsriege der 28 Mitgliedstaaten wie auch eine Mehrheit des noch zu wählenden Parlaments überzeugen kann?

Bislang gefragt: low-profile Kandidaten

Hoch im Kurs in der Fraktion der Europäischen Sozialisten steht der amtierende Parlamentspräsident Martin Schulz. Doch wird ein deutscher Kandidat in Ländern, in denen Deutschland Synonym für einen unerbittlichen Sparkurs ist, auf Begeisterung stoßen? Auch dürfte der Ausgang der deutschen Wahlen einen gewissen Einfluss auf die Kandidaten-Kür haben. Im Falle eines Siegs für Angela Merkel werde es hart für Schulz, Wahlkampf zu machen, schreibt Paul Taylor. ?

Bei den Liberalen schien es bis vor kurzem, als ob Guy Verhofstad das Rennen mache. Der ehemalige belgische Premierminister ist seit vier Jahren Vorsitzender der europäischen „Allianz der Liberalen und Demokraten“. Er gilt als überzeugter Föderalist und schlägt bei seiner Kritik an jenen Beschlüssen des Europäischen Rats, welche die nationale Macht der Mitgliedstaaten untermauern, scharfe Töne an. Das macht ihn bei den Staats- und Regierungschefs nicht gerade beliebt.

In der Sommerpause brachte sich ein weiterer Liberaler in die Diskussion. Wirtschafts-Kommissar Ollie Rehn ist finnischen Medien nach an einer Spitzenkandidatur interessiert. Der Finne allerdings steht im Gegensatz zum belgischen Kandidaten für die Fortsetzung des europäischen Sparkurses in Krisenländern wie Griechenland, Verhofstad hingegen hielt im Parlament engagierte Reden für eine Politik Wachstum stimulierender Investitionen. Für wen wird sich die Partei letzendlich entscheiden? Es mag unwahrscheinlich sein, dass ein Liberaler Chancen für den Posten des Kommissionspräsidenten hat. Doch angesichts des notwendigen Kompromisses zwischen Rats- und Parlamentsmehrheit könnte sich am Ende das Blatt wenden.

Europaweit hielten sich bislang die A-Promis der nationalen Politszenen mit ambitiösen Verlautbarungen zurück. Das hat möglicherweise damit zu tun, dass die nationalen Regierungschefs sich gewöhnlich eher einen nicht allzu profilierten und mächtigen Kommissionspräsidenten wünschen, um selbst möglichst wenig Einfluss einzubüßen. Mitte Juni winkte der als möglicher EVP-Kandidat gehandelte polnische Premier Donald Tusk ab. Sein Entschluss könnte auch damit zusammenhängen, dass ein Wahlkampf aus der Position als amtierender Regierungschef nicht leicht zu führen ist. Innerhalb der EVP kursieren auch Namen wie der des Binnenmarkt-Kommissars Michel Barnier oder der Justizkommissarin Viviane Reding. Letztere genießt dank einer verstärkten Medienpräsenz einen gewissen Bekanntheitsgrad. Ob sie indessen ausreichend Rückhalt in der EVP hat, ist ungewiss. Eine Kandidatur stehe nicht auf ihrer Tagesordnung, so Redings Aussage im Frühjahr.

Nicht ohne Wirkung auf die Haltung der Mitgliedstaaten gegenüber ihrem Kandidaten zum Kommissionspräsidenten dürfte auch die Bestimmung des Nachfolgers Herman van Rompuys als Ratspräsident sein. Der Posten wird ebenfalls von den Staats- und Regierungschefs im Rat besetzt.

Schließlich steht 2014 auch noch die Wahl des Generalsekretärs des Europarates an. Hier wird ebenfalls bereits damit begonnen, über Nachfolgekandidaten nachzudenken. Zwar ist dieses Gremium, in dem 47 Nationen Mitglied sind, weniger einflussreich, doch bemüht man sich seit Jahren, ihm mehr Gewicht zu verleihen. Der amtierende Thorbjorn Jagland ist seit 2009 im Amt und will nicht mehr kandidieren. Jagland ist wie sein Vorgänger Sozialdemokrat. Deshalb erscheint es als wahrscheinlich, dass die Konservativen oder Liberalen hier Ansprüche erheben werden. Unter den Namen, die derzeit in Straßburg kuriseren, findet sich auch der von Jean-Claude Juncker.


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