THEATER: „In-Hell – Ex-Hell!“

In „Stones“ erweckt Yinon Tzafrir ein Denkmal zum Leben. Das Orto-Da-Ensemble entwickelt in einer dynamischen Gruppenperformance humorvoll ein Tableau der jüdischen Diaspora.

Trotzen dem „Schicksal“ und erfinden sich ständig neu: das Orto-Da-Ensemble in „Stones“.

Das unabhängige israelische Theater-Ensemble Orto-Da gründete sich Mitte der 1990er Jahre auf Initiative von Yinon Tzafrir und Avi Gibson Barel. Zu einem Zeitpunkt, als der Nahostkonflikt mit der Ermordung Yitzhak Rabins einen Höhepunkt erreicht hatte und ein friedliches Ende des Konflikts ferner denn je erschien, begann die Orto-Da-Gruppe in Israel zu touren. 1996 trat sie zum ersten Mal auf. Kein Zufall, sondern unmittelbare Reaktion auf den Konflikt. In seinen Performances setzt sich das Ensemble von Anbeginn mit Israels Geschichte auseinander und versucht, durch neue Ausdrucksformen eine internationale Sprache zu schaffen, die Verhaltensmuster hinterfragt. Der Blick hinter die menschliche Fassade, hinter der sich Sehnsüchte, aber auch Triebe verbergen und das Offenlegen davon, war dem Ensemble von Anbeginn ein Anliegen. Schon der Name „Orto-Da“ spiegelt diese Spannung zwischen dem Wunsch, alte Traditionen zu bewahren und dem Wunsch, experimentell im Geiste Dadas immer wieder Neues zu erschaffen, wider.

Eine Reise nach Polen inspirierte die Gruppe schließlich zu „Stones“. Das Denkmal des Bildhauers Nathan Rappaport für die Juden im Warschauer Ghetto, das aus massiven Steinblöcken gemeißelt ist, die ursprünglich von NS-Reichsminister Albert Speer zur Errichtung eines Siegerdenkmals bestimmt waren, baut die Orto-Da-Gruppe kurzerhand nach.

In „Stones“ erwachen die Figuren der Skulptur zum Leben und durchschreiten in einer knapp einstündigen märchenhaften Performance noch einmal Etappen der Vergangenheit. Was düster als Aufstand im Warschauer Ghetto beginnt, entwickelt sich in einer dynamischen Gruppenperformance zu einem zauberhaften und humorvollen Tableau der jüdischen Diaspora. Fünf Schauspieler und eine Schauspielerin durchleben so den Wandel der Zeit.

Verletzlich und schutzlos sind die Figuren zunächst den Gezeiten ausgesetzt, kauern in Abwehrhaltung vor einem Stacheldrahtzaun. Doch statt sich unterkriegen zu lassen, stehen sie nach jeder Erniedrigung wieder auf und schaffen poetische Bilder. So greifen sie nach dem Stacheldraht und zupfen daran wie an Instrumentensaiten und basteln aus einfachen Elementen immer wieder Neues. In fließenden Übergängen schreitet das Ensemble so Etappen der jüngsten Vergangenheit ab: Wie die Flucht auf einem Schiff, das irgendwann den Hafen von Haifa erreicht oder den freudigen Aufbau des Landes. Dabei durchlaufen die Figuren zahlreiche Metamorphosen, verwandeln sich etwa in meckernde Ziegen. Ob zu den Klängen von Bob Marleys Exodus, Jacques Offenbachs Barcarolle, den schmachtenden Chansons von Marlene Dietrich oder den eingespielten knatternden Tönen eines Reichsminister Goebbels und den begleitenden Chören der Hitler-Jugend spinnen die Darsteller so immer wieder neue Ideen, erfinden sich immer wieder neu und vermitteln, dass nach jedem harten Rückschlag, neue Hoffnung aufkeimt.

„Aufstehen. Weiterleben!“ lautet die Devise. Humorvoll widersetzen sich die Figuren zu Drehorgelklängen ihrem „Schicksal“ und verharren nie in Opferhaltung. So eindeutig die Bezüge zum Trauma des Holocaust und von jahrhundertelanger Verfolgung sind, kämpfen sie beharrlich gegen die Erniedrigungen an. In ihrer Phantasie wird so aus einem aufgespanntem Tuch ein Sandmann mit Hitlerschnäuzer, entpuppt sich das Monstrum als zusammenfaltbare Puppe, die einem Yoga-Guru gleich, die Menschen zum Ein- und Ausatmen antreibt: „In-Hell – Ex-Hell!“ und zu Techno-Musik, die Leute einzulullen versucht. Ein Hitler-Gespenst, das sich im Stück zwar einfach zusammenfalten und entsorgen lässt, doch immer noch in den Köpfen spukt.

Leider ist das knapp einstündige Bühnenstück vor allem gegen Ende hin etwas überfrachtet mit ironischen Anspielungen und Effekten. Dennoch ist „Stones“, trotz der schweren Thematik, nie wirklich bedrückend und ein vor allem hoffnungsvolles, fröhliches Stück, das einen auf märchenhafte Art und Weise verzaubert.

Am 27. September im Escher Theater.


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