NELSON MANDELA: Was bleibt?

Der Südafrikaner war zeitlebens ein Symbol für Versöhnung und für die Beendigung politischer Ungleichheit. Seine eigene politische Widersprüchlichkeit und die des ANC gerieten dabei mehr und mehr in den Hintergrund.

Die Halbwertszeit des Ikonenstatus, den Politstars als Förderer von Neuerung und Demokratie genießen, wird immer kürzer: Selbst große Hoffnungsträger wie Barack Obama werden in kürzester Zeit vom Sockel gestoßen. Anders dagegen Nelson Mandela. Längst von der politischen Bühne Südafrikas zurückgetreten, stand er bis zu seinem Lebensende im In- und Ausland ganz oben auf der Skala des politischen Ansehens und der Beliebtheit. Rechtschaffenheit, unerschütterlicher Glaube an Veränderung, unermüdlicher Einsatz für die Demokratie sind die Werte, 
die mit seiner Person überall verbunden werden. Dabei ist seine Lebensgeschichte, die eng mit der des „African National Congress“ (ANC) verwoben ist, durchaus komplex und widersprüchlich. 
Anfang des 20. Jahrhunderts schuf der südafrikanische „Colour Bar Act“ die Basis für die  staatlich reglementierte Rassen-Segregation: Vor allem in den Gold- und Diamantenminen wurde bei höher qualifizierten Jobs ein Monopol für Weiße geschaffen. Nicht-Weiße blieben von den Wahlen ausgeschlossen, und sexuelle Kontakte zwischen Menschen unterschiedlicher „Rasse“ wurden verboten. Gegen diese Segregation kämpfte der junge ANC an. Er orientierte sich an Gleichheitsidealen der europäischen sozialen Bewegungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. In seinen Aktionsformen inspirierte er sich am pazifistischen Widerstand Mahatma Gandhis in Indien, aber auch am Kommunismus. 
Der ANC kämpfte zunächst weniger gegen die koloniale Herrschaft Großbritanniens, als gegen die sozialen und politischen Diskriminierungen im Land. Doch als 1944 die Jugendorganisation des ANC gegründet wurde, richtete sich diese stark am „afrikanischen Nationalismus“ und Panafrikanismus aus. Unter den jungen Männern, die sich nun dem ANC anschlossen, waren drei, die später zu seinen wichtigsten Köpfen gehören sollten: Oliver Tambo, Walter Sisulu und Nelson Mandela.
 
Kampf gegen Rassentrennung
 
Erklärtes Ziel des ANC war nicht der Sozialismus, sondern die nationale Befreiung und die friedliche Koexistenz der Rassen. Die „Freiheitscharta“, die 1955 vom ANC angenommen wurde, beginnt mit den Worten: „Südafrika gehört allen, die darin leben, Weißen und Schwarzen“. Die Rückgabe des Landes an die Besitzberechtigten, die Nationalisierung von Schlüsselbetrieben der Wirtschaft, der Aufbau von Strukturen im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich sowie Mitbestimmung in den Bereichen von Arbeit und Politik standen dabei im Vordergrund. 
Mit der Machtübernahme der „National Party“ (NP) 1948 spitzte sich die Rassentrennung weiter zu. Die vom Staatsapparat beim blutig beendeten Gewerkschaftsstreik von 1946 ausgeübte Brutalität markierte einen politischen Wendepunkt. Der südafrikanische Kommunist Michael Harmel schrieb: „Der Streik zerstörte ein für allemal den Mythos der Neutralität des Staates […]. Er markierte das Ende der Tendenzen zum Kompromiss, zum Suchen der Zugeständnisse um jeden Preis, die bis dahin die Politik der Afrikaner dominiert hatten …“ 
1952 begann die „Defiance Campaign“, eine Serie von Aktionen zivilen Ungehorsams. Die Kampagne wurde von der Polizei mit massiver Repression beantwortet, bewirkte jedoch einen Bewusstseinswandel in der schwarzen Bevölkerung. Der ANC, nunmehr mit Mandela an der Spitze, wandelte sich zu einer straff geführten Massenorganisation, die um 100.000 Mitglieder und ein Mehrfaches an Sympathisanten zählte. 
Das Massaker von Sharpeville 1960 löste in ganz Südafrika Proteste und Unruhen aus. Die Regierung erklärte den Notstand, und kurze Zeit später wurde der Bann über ANC und PAC („Pan Africanist Congress“) verhängt. „Meiner Meinung nach ist das Kapitel der Politik der Gewaltlosigkeit abgeschlossen,“ kommentierte Nelson Mandela die Entwicklung. Die Gründung des bewaffneten Arms des ANC „Umkhonto We Sizwe“ Ende 1961 war nicht nur die Reaktion auf die Repressionspolitik des Staats, sondern eröffnete  zumindest theoretisch die Möglichkeit eines bewaffneten Umsturzes. Während „Umkhonto We Sizwe“ mit ersten Anschlägen begann, drängte Mandela den ANC, Kontakte mit den sozialistischen Ländern aufzunehmen. 
Im gleichen Jahr wurde Mandela festgenommen und verurteilt – seine Haft dauerte volle drei Jahrzehnte. Als Konsequenz der Inhaftierungen und des Banns ging die Führung des ANC ins Exil. Es gelang ihm, die Unterstützung anderer afrikanischer Staaten und der Industrieländer Schweden, Norwegen sowie der Sowjetunion zu erringen. Immer stärker wurde der ANC auch durch europäische Nichtregierungsorganisationen, besonders aus Großbritannien, unterstützt. 
Mit den Demonstrationen in Soweto 1976, die um die 600 Todesopfer forderten, lebte der Widerstand innerhalb Südafrikas wieder auf. Doch zugleich verschärfte sich der diplomatische Druck, mit dem die westlichen Regierungen, die Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) und schließlich die Sowjetunion den ANC drängten, den bewaffneten Widerstand aufzugeben und sich in den Reformprozess zu integrieren.
Abkehr vom Pazifismus
 
Trotzdem intensivierte Umkhonto seine Aktivitäten ab 1985. Der Kampf sollte in die weißen Gebiete getragen werden; es gab keine Unterscheidung mehr zwischen „soft targets“ (Menschen) und „hard targets“ (Gebäuden). Der schließlich einsetzende demokratische Wandel Südafrikas wurde jedoch durch externe Faktoren angestoßen, nämlich den Zusammenbruch des kommunistischen Systems und die zunehmende wirtschaftliche und politische Isolierung des Apartheid-Staates. Die Weltwirtschaft konkretisierte durch Desinvestment-Politik ihre Forderung nach Reformen, die sogar die Freilassung von Nelson Mandela einschließen sollten. Auch bei der burischen Minderheit gab es einen Sinneswandel, zum Teil bedingt durch die exorbitanten Kosten der Apartheid. Der militärische Apparat etwa war nicht mehr zu bezahlen. 
Am 11. Februar 1990, kurz nach dem Amtsantritt De Klerks, wurde Mandela aus dem Gefängnis entlassen, am 6. August 1990 kam es zu einem Treffen von ANC und Regierung. Anfangs wurde die Reformpolitik auch unter der Regierung De Klerks nur zögernd und widerwillig vollzogen. Doch bis 1992 waren die Apartheid-Gesetze jedoch weitgehend abgeschafft. Im September 1993 genehmigte das Parlament die Vorbereitung freier Wahlen für den April 1994. Ihr Ausgang bedeutete eine Unterstützung des „historischen Kompromisses“ zwischen ANC und NP: 83 Prozent der Wahlbeteiligten stimmten für eine der beiden Parteien, die den Verhandlungsprozess geleitet hatten. Der ANC hatte sein gutes Ergebnis entscheidend dem Mandela-Faktor zu verdanken. (1)
Statt eines deutlich sozialistischen Programms legte der ANC ein gemäßigt sozialdemokratisches vor. Schon mit seiner, wenige Tage nach den Wahlen gehaltenen, Rede zur Lage der Nation bekundete Mandela die Absicht, in seiner Politik unternehmerischen Interessen entgegenzukommen. Das half, das Vertrauen ausländischer Investoren zu festigen. Die sozialen Nöte der Südafrikaner wurden durch Mandelas Politik jedoch nicht gelöst. Kontroversen in der Anti-Apartheid-Bewegung löste auch die Entscheidung der Mandela-Regierung aus, die Rüstungsindustrie als solche beizubehalten. Unbestrittenes Verdienst Mandelas ist jedoch sein Einsatz für die nationale Versöhnung und für die Integration aller Bürger in den politischen Prozess. 
Mandela war ein wohl der bedeutendste  Integrationsfaktor in der fragmentierten südafrikanischen Gesellschaft. Als er sich 1999 nach nur einer Amtsperiode aus der Politik zurückzog, gab es unter seinen Nachfolgern niemanden von vergleichbarer politischer und moralischer Statur. Thabo Mbeki musste 2008 sogar wegen Amtsmissbrauchs zurücktreten. Der ANC wird heute durch das Image einer korrupten Partei belastet. Die Apartheid hat die Strukturen der politischen Auseinandersetzung geformt, so dass die „culture of entitlement“ sehr schnell in Protest und Gewalt umschlagen kann. 
An den Grundzügen der Verteilung von Macht und Reichtum in Südafrika hat sich wenig geändert. Der ANC hat zwar die politische Macht gewonnen, jedoch die Landreform und die Verstaatlichung der Minen, die er ehedem anstrebte, nie realisieren können oder wollen. Immerhin ist die politische Gleichberechtigung erreicht und die Apartheid abgeschafft. Die Regierung wird von Schwarzen geführt, und eine schwarze Elite ist mittlerweile Teil des Establishments, das die Wirtschaft lenkt. In seiner großen Mehrheit ist dieses Establishment aber weiterhin weiß.

(1) Spence, Jack E. / Hamill, James: Hoffnungsvoller Wandel in Südafrika. In: Europa-Archiv, 1994, H. 12,
S. 349-356 (352).


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