TERRITORIEN DES WIDERSTANDS: Aufstand der Peripherie

In seinem Buch „Territorien des Widerstands“ vertritt Raúl Zibechi die These, dass die Elendsviertel der lateinamerikanischen Großstädte Orte des Widerstands und der Gegenmacht seien. Dafür gibt es bis jetzt aber lediglich ein paar Ansätze.

Orte der Selbstzerstörung, wie der Soziologe Mike Davis sagt, oder „der neue entscheidende geopolitische Schauplatz“, wie Raúl Zibechi analysiert? Die Elendsviertel und urbanen Peripherien Lateinamerikas.

Als Raúl Zibechi das Buch „Territorien des Widerstandes. Eine politische Kartografie der urbanen Peripherien Lateinamerikas“ 2008 in Buenos Aires im spanischen Original veröffentlichte, war der „Cacerolazo“, der so genannte Aufstand der Kochtöpfe in der argentinischen Hauptstadt von 2001, längst Geschichte. Viele weitere Aufstände und Protestbewegungen weltweit standen noch bevor: Ob auf der Puerta del Sol in Madrid, im Zuccotti-Park in New York oder im Gezi-Park in Istanbul – an vielen Orten entstanden neue Formen des Aufbegehrens gegen den globalen Kapitalismus und für mehr soziale Gerechtigkeit und Selbstbestimmung.

Doch was hat dies mit Zibechis Buch zu tun? Der Uruguayer, geboren 1952 in Montevideo, der nach dem Militärputsch in seinem Heimatland 1973 zuerst nach Argentinien und, als die Militärs 1976 auch dort die Macht übernahmen, ins europäische Exil floh, befasst sich mit den „sociedades en movimiento“, mit den Gesellschaften in Bewegung. Im Mittelpunkt seiner Untersuchungen stehen die „los de abajo“, die von unten. Doch meint er damit dieselben Akteure des Protests?

Zibechi bezieht sich in seinem von der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration auf Deutsch herausgegebenen Buch auf die neuen, aus dem Alltag geborenen Bewegungsformen, die sich von den klassischen sozialen Bewegungen unterscheiden. Sie sind nicht fest organisierte Gruppen und Gewerkschaften, die sich bereits im politischen System des jeweiligen Landes etabliert haben. Der Autor konzentriert sich dabei auf Lateinamerika, wohin der Journalist, Aktivist und linke Theoretiker aus dem Exil zurückkehrte.

In einer jahrzehntelangen Landflucht sind Millionen von Lateinamerikanern vor der Armut vom Land in die Peripherien der Großstädte geflohen, in jene „Ankunftsstädte“, die der kanadische Journalist Doug Saunders in seinem ungefähr zur gleichen Zeit entstandenen Buch „Arrival City“ ähnlich hoffnungsfroh und optimistisch beschrieben hat. Viele Landbewohner sind Opfer der riesigen Soja-, Zuckerrohr- und Eukalyptus-Monokulturen geworden und haben ihre Existenzgrundlage verloren. Doch auch in den Slums der Großstädte haben sie kaum eine Perspektive: in den Favelas, wie sie in Brasilien bezeichnet werden, oder in den Barriadas in Peru, Poblaciones in Chile oder Villas Miserias in Argentinien.

Der US-amerikanische Soziologe Mike Davis hat in seinem Buch „Planet of Slums“ auf die Bedeutung der Elendsviertel hingewiesen, in denen heute weltweit mehr als eine Milliarde Menschen leben. Er stellt dort vor allem Tendenzen der Selbstzerstörung fest. In den Slums spielen seiner Meinung nach linke Strömungen kaum noch eine Rolle. Sie wurden von evangelikalen Kirchen (in Lateinamerika) oder von Islamisten (Afrika) verdrängt.

An Beispielen aus Ecuador, Bolivien und Mexico zeigt der Autor, wie aus NGOs „Kollaborateure der Staaten und Regierungen“ werden.

Auch viele der lateinamerikanischen Theoretiker betrachten die Elendsviertel mit Skepsis oder Misstrauen. Für Zibechi hingegen sind die Elendsviertel „der neue entscheidende geopolitische Schauplatz“ der Zukunft und Gebiete, in denen nicht nur Elend und Gewalt gedeihen, sondern „in denen sich die subalternen Klassen als die wesentliche Herausforderung für das kapitalistische System herausstellen und sich sogar in Gegenmächte von unten verwandelt haben“. Sie zeigten, dass „eine andere Gesellschaft“ möglich sei.

Wie in dem viel diskutierten Essay „Der kommende Aufstand“ von 2007 – die Autoren blieben anonym – die Elendsviertel zu revolutionären Orten verklärt werden, sind sie auch für den uruguayischen Autor Orte des Widerstandes und der Gegenmacht. In ihnen herrschen in der Tat eine eigene Kultur und eigene Gesetze, was dem Blick von außen häufig verborgen bleibt. Oft hat sich der Staat aus diesen Vierteln zurückgezogen. Zibechi ist dorthin gegangen, um mit den Menschen zu sprechen. Er ist dabei auf eine Vielfalt von Formen der Selbstorganisation gestoßen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen. In „Territorien des Widerstands“ stellt er diese vor.

Vorher hat er sich jedoch mit Theorien beschäftigt: mit Walter Benjamin und Friedrich Engels, mit Giorgio Agambens „Ausnahmezustand“ und Pierre Bourdieus „Das Elend der Welt“ und nicht zuletzt den Ideen des italienischen Politologen Antonio Negri. Können die Marginalisierten überhaupt Subjekte sein?, fragt Zibechi. Negri zufolge nicht, wenn „sie wissen, was sie nicht wollen, aber nicht wissen, was sie wollen“. Negri meint auch, dass die Jugendlichen der Vorstädte, und dazu kann man auch jene in den europäischen Metropolen wie Paris oder London zählen, eine „vollständig negative Identität“ hätten und nur den Ort der Ausgrenzung, an dem sie leben, gemein hätten. Zibechi widerspricht Negri und dessen Sichtweise, indem er unter anderem auf die Thesen des Peruaners José Matos Mar zurückgreift. Dieser betrachtet den „marginalen Sektor als politisches und soziales Subjekt“.

Zibechi sucht nicht Lösungen in der regulierenden Macht des Staates. Er denkt antistaatlich, wobei er sich auf herkömmliche Bewegungen beruft, die sich an artikulierten Programmen und formalisierten Organisationen orientieren. Er weiß, dass die Amen in den in den städtischen Peripherien weder über ein Programm noch über eine Organisation verfügen – „und sie spielen trotzdem eine wichtige Rolle als Faktor des sozialen Wandels.“ Eine radikale Veränderung, schreibt Zibechi, könne nur von unten kommen, eben von jenen „los de abajo“. Am Rande der alten entsteht bereits eine neue Gesellschaft – eine „Gesellschaft der anderen Art“. Für Zibechi sind es vor allem die familiären Strukturen der Landbevölkerung, die in die Städte transferiert und dabei eine tragende Rolle spielen.

Der Autor nennt als erstes Beispiel die Besetzung eines Terrains und Gründung der Hüttensiedlung La Victoria in Santiago de Chile im Jahr 1957, in der nach zwei Jahren bereits 18.000 Menschen wohnten. Dies war vielleicht die erste organisierte Besetzung in Lateinamerika, in der sich bereits Elemente der Selbstorganisation zeigen. Von da aus verfolgt er die weitere Entwicklung der verschiedenen Formen der Selbstorganisation in den Vorstädten Lateinamerikas.

Er beobachtet dabei eine ständige Dialektik von Widerstand und staatlichem Zugriff. Bereits vor „Territorien des Widerstandes“ hat er sich in einem Buch über die Organisation der Aymara im bolivianischen El Alto mit dieser Bewegungsform auseinandergesetzt. Zibechis Theorie zufolge ist der Widerstand seit dem „Caracazo“, dem Aufstand in Venezuela 1989, indem die Unterklasse das System herausforderte, in eine neue Phase der sozialen Kämpfe getreten. Es folgten weitere.

Mit der Wahl von Hugo Chávez zum venezolanischen Präsidenten im Dezember 1998 hat nach Zibechis Theorie die nächste Phase begonnen. Als Folge der von ihm genannten Aufstände, behauptet er, seien in Südamerika mehr und mehr Linksregierungen nach 1999 an die Macht gekommen. Sie entwickelten sich jedoch schnell zu einer Konkurrenz. Im zweiten Teil des Buches zeigt der Autor, wie die linken Regierungen die Aufständischen als Bedrohung sehen und versuchen, diese auszubremsen. Dabei hat die bewaffnete Niederschlagung ausgedient. Sie reicht nicht mehr aus. Wirkungsvoller ist die Vereinnahmung.

Die Regierungen versuchen die Armen zu kontrollieren – wenn es nicht mehr anders geht, nach wie vor mittels militärischer oder polizeilicher Interventionen. Beispielhaft waren in den vergangen Jahren die „Befriedungsaktionen“ in den Favelas von Rio de Janeiro durch Sondereinheiten der Sicherheitskräfte. Eine nicht weniger effiziente Methode zur Kontrolle der Menschen in den wuchernden Armenvierteln der Großstädte sind laut Zibechi jedoch die Sozialpläne. Letztere ermöglichen es den Regierenden, genauere Informationen über das Alltagsleben zu erhalten.

Wie es bereits in den Vierzigerjahren Argentiniens Präsident Juan Domingo Perón verstand, das Potenzial der „Descamisados“, der so genannten Hemdlosen aus den argentinischen Vorstädten als Anhängerschaft zu nutzen, so praktizierten dies zuletzt Chávez in Venezuela, Lula da Silva in Brasilien und die Kirchners in Argentinien. Im dritten Kapitel über die „Kunst, die Bewegungen zu regieren“, wird gezeigt, wie besonders die Regierungen in Argentinien und Uruguay gezielt in den Territorien intervenieren. Zibechi nennt das Beispiel Rio Blanco, ein Stadtteil von Montevideo, in dem Familien wohnen, die sich nach Fabrikschließungen nichts anderes mehr leisten können. Die uruguayische Linksregierung des Frente Amplio schaffte es mit einem Sozialprogramm, die Bewegung zu vereinnahmen.

Aber auch Nichtregierungsorganisationen fördern den Klientelismus, indem sie eine Schicht von Funktionären erzeugen, deren Aufgabe es ist, Gelder zu akquirieren. Auf diese Art und Weise werden die Bewegungen in die staatlichen Institutionen integriert. An Beispielen aus Ecuador, Bolivien und Mexico zeigt der Autor, wie aus NGOs „Kollaborateure der Staaten und Regierungen“ werden.

Von Vereinnahmung kann bei den Befriedungsaktionen in den Favelas von Rio de Janeiro allerdings keine Rede sein. Hier greift der Staat auf altbewährte Mittel zurück – auf Waffen und Planierraupen. Die Stadt am Zuckerhut soll für die Fußball-WM und die Olympischen Spiele so sicher wie möglich und die Favelas auf den Hügeln der Stadt für Investoren und Immobilienhaie interessant gemacht werden. Doch weder die brasilianische Regierung noch die Stadtobersten der WM-Spielorte haben mit den im Juni aufgeflammten Protesten gerechnet. Aus Empörung über den Ausverkauf ihrer Viertel und über Zwangsumsiedlungen,
Räumungen und die sozialen Kosten der Mega-Events sind die Protestierenden auf die Straße gegangen.

Liefern sie einen Beleg für Zibechis Thesen? Eher nicht. Den großen Teil der Demonstranten in den brasilianischen Städten bilden Studenten, die aus der unter den Regierungen von Lula da Silva und Dilma Rousseff größer gewordenen Mittelschicht stammen. In den Favelas blieb es während der Proteste eher ruhig. Doch der Autor sieht ein, dass seine Analyse vorläufigen und fragmentarischen Charakter hat. Dennoch ist sie ein wichtiger, teils gut zu lesender, teils etwas sperriger Beitrag, der eine andere, optimistischere Sicht auf jene Peripherien bietet, die von den meisten schon abgeschrieben wurden. Man kann Zibechi blauäugig nennen. Auch klammert er die internationale Dimension und die Macht der globalen Ökonomie eher aus. Seine Thesen spornen jedoch an. Sein Buch ist ein interessanter Beitrag, auch über „die kommenden Aufstände“ zu diskutieren.

Raúl Zibechi – Territorien des Widerstands. Eine politische Kartografie der urbanen Peripherien Lateinamerikas.
Aus dem Spanischen von Kirsten Achtelik und Huberta von Wangenheim. Assoziation A, 172 Seiten.


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