ARBEITSGESELLSCHAFT: Das Leben lebt nicht mehr

Selbstverwirklichung, einst ein unerreichbar scheinendes Glücksversprechen, wird von Vielen mehr und mehr als Zwang erlebt: Statt die Arbeit im Selbst aufgehen zu lassen, läuft es meistens andersrum.

Woher nimmt die Psyche ihre Struktur?Sozialwissenschaftler fürchten, dass mit der Stabilität in der Arbeitswelt auch jene der seelischen Ökonomie verloren geht.

„It`s better to burn out than to fade away“, schrieb einst Kurt Cobain, Sänger der Rockband „Nirvana“, Neil Young zitierend in seinen Abschiedsbrief, bevor er sich mit einer Schrotflinte erschoss. Was vormals als Credo des Rock’n’Roll galt – in jeder Beziehung Vollgas zu geben und sich und sein Leben rücksichtslos zu verausgaben, anstatt bedächtig darauf zu achten, dass man sich in gesicherten Bahnen bewegte und an Leib und Seele keinen Schaden nahm – dieses selbstzerstörerische Credo ist längst zum kategorischen Imperativ der Arbeitswelt geworden. Daher ist es auch so schlagend, dass der Shooting-Star unter den Zivilisationskrankheiten auf den Namen Burnout hört. Jeder fünfte Arbeitnehmer fühlt sich in Luxemburg laut einer TNS-ILRES-Studie vom März 2010 mittlerweile von diesem Leiden betroffen.

Ihren Ursprung hat die Diagnose bezeichnenderweise im Milieu linker engagierter Sozialarbeiter und anderer helfender Berufe. Der Psychotherapeut Herbert Freudenberger wendete den Begriff in den USA erstmals auf Angehörige besagter Berufsgruppe an, die sich nicht selten an ihrer Klientel die Zähne ausbiss. Die Helfer identifizierten sich so sehr mit dem Leiden derer, für die sie sich engagierten, dass viele von ihnen bei mangelndem Erfolg zynisch, aggressiv und emotional entleert wurden. „The staff burn-out syndrome in alternative institutions“ nannte Freudenberger das damals, und gerade selbstverwaltete Betriebe, die sich auszeichnen durch hohen Arbeitsaufwand, die umfassende Forderung nach beruflichem Enthusiasmus und politisch-kultureller Identifikation mit dem Projekt bei zugleich miserabler Bezahlung, sind demnach prädestiniert dafür, Burnout-Kandidaten am Fließband auszubrüten.

Die Arbeitssoziologen Sighard Neckel und Greta Wagner haben jüngst einen Sammelband herausgegeben, der sich den hinter der Diagnose „Burnout“ stehenden gesellschaftlichen Phänomenen aus unterschiedlichen Perspektiven zu nähern versucht. „Es scheint, als identifizierten sich Berufstätige in allen Branchen heute in ebensolcher Weise mit Unternehmenszielen wie linke Lehrer der achtziger mit ihren schwierigen Schülern“, so lautet ihre Eingangshypothese, die es ihnen, wenig überraschend, mittels der Beiträge der versammelten Autoren alsbald zu verifizieren gelingt. Was einst als fortschrittliche Forderung gedacht und mit der Hoffnung auf Selbstverwirklichung verbunden war: flexible Arbeitszeiten, Enthierarchisierung, Selbstorganisation und Möglichkeiten eigene Interessen einzubringen, scheint sich nun einmal mehr als bloß immanente Funktion des Kapitals zu erweisen, die ihm unterworfenen Produktionsmittel einer möglichst optimalen Vernutzung gemäß zu formen und zurecht zu modeln. Zu diesen Produktionsmitteln zählen auch die human resources, die menschliche Arbeitskraft. Daher bekamen die Arbeitnehmer mit der sogenannten postfordistischen Transformation der Arbeitswelt statt der Freiheit zur Selbstverwirklichung den Zwang, sich ihre ganze Existenz betreffend als Unternehmer ihrer Selbst zu verhalten, präsentiert.

Aus dem Lohnarbeiter ist der „Arbeitskraftunternehmer“ geworden, wie der Soziologe Günter Voss und sein Kollege Hans Pongratz den Wandel des Typus des Erwerbstätigen beschreiben. Da scheint es sich zumindest rückwirkend so darzustellen, als habe der Proletarier noch die Konsequenz aus dem zu ziehen gewusst, was er jeden Tag im Betrieb erfuhr, nämlich dass Lohnarbeit nicht nur zur „Verkümmerung der menschlichen Arbeitskraft“ führt, „welche ihrer normalen moralischen und physischen Entwicklungs- und Betätigungsbedingungen beraubt wird“ wie Marx dies formuliert hatte, sondern schließlich auch zur „Verkürzung der Lebenszeit“ des Arbeiters selbst.

„Und dann denkt man natürlich, wenn ich bei der Arbeit gut bin, dann ist das meine Identität als Mensch.“

Bummelei, Streik, Sabotage – Methoden, mit denen der Lohnarbeiter von einst sich mit seinem Chef um Art und Umfang der Vernutzung der von ihm feil gebotenen Arbeitskraft zu kabbeln verstand – Schluss damit: sie scheinen wie Begriffe aus einer vergangenen Welt. „Selbstausbeutung“, ein Terminus, dessen Bedeutung nicht umsonst der akademischen Welt entstammt, denn am wenigsten wegen Humboldt`scher Bildungsideale hat bisher wohl noch keine Universität eine Stechuhr gesehen, bezeichnet recht genau die Verinnerlichung jenes Zwangs, auch noch sein Letztes zu geben. Dem klassischen Malocher musste ein solch selbstzerstörerisches Maß an Engagement zuweilen noch mit dem Polizeiknüppel und anderen Repressalien abgetrotzt werden.

Der äußere Zwang wird verinnerlicht.

Heute, so Soziologen wie Ulrich Bröckling und die bereits genannten Neckel, Voss und Wagner, rangeln die „Arbeitskraftunternehmer“ dagegen scheinbar freiwillig bis zur völligen Erschöpfung um den ersten Platz im Hamsterrad. Während der Terror der Stechuhr wenigstens zugleich sichtbar markierte, wann Arbeit und wann Freizeit ist, herrscht heute laut Günter Voss und seiner Co-Autorin Cornelia Weiss selbst darüber noch ständige Unsicherheit: „Wann ist ?Arbeit`, wann ?Pause` und wann ist überhaupt die Arbeit erledigt, so dass man gar ein ?Ende` der Arbeitszeit in Anspruch nehmen darf?“

Besonders gut funktioniert dieses Modell natürlich, wenn es zugleich nicht ausreichend Arbeitsplätze gibt. Insbesondere befristete Arbeitsverträge sorgen dann dafür, „dass Beschäftigte fortwährend ihren eigenen Nutzen für das Unternehmen unter Beweis stellen müssen“, so Neckel und Wagner, es herrsche ein permanenter Druck, „außergewöhnliche Leistungen vollbringen zu müssen, um die eigene Beschäftigung zu rechtfertigen, und die Qualität der eignen Arbeit möglichst sichtbar zu inszenieren“.

Letztlich, so die beiden Soziologen, müsse der Burnout als sichtbares Zeichen einer Krise begriffen werden, in welcher „eine Transformation des modernen Arbeitssubjekts eingeläutet wird, das in Zeiten begrenzter Ressourcen haushälterischer mit seinen Kräften umgeht und sich möglicherweise gerade dadurch als gut angepasst an einen neuen Typus von ökonomischer Modernisierung erweist“.

Dass sich die Einzelnen mit den Transformationsprozessen der Arbeit immer umfassender selbst an die Kandare nehmen müssen, ist indes kein neues Phänomen. Die Soziologen Günter Voss und Cornelia Weiss sind redlich genug, darauf hinzuweisen, dass bestimmte Resultate ihrer Gegenwartsdiagnose bereits von Marx mit seiner Darstellung des Übergangs von der formellen zur reellen Subsumtion der Arbeitskraft unters Kapital, sowie von der sogenannten Frankfurter Schule in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konstatiert worden sind. „Anstatt wie früher bloß im Fabriksaal Anhängsel der Maschinen zu sein, müssen die Menschen sich jetzt zu Anhängseln überhaupt machen, in jedem Sektor“, beobachtete Max Horkheimer 1942 im US-amerikanischen Exil.

Das Subjekt der Arbeitskraft muss sich als universal fungibel erweisen, um jeden Preis. Privat- und Arbeitsleben verschmelzen zu einem Amalgam. Das lässt den Begriff des Individuums selbst nicht unberührt, denn Individualität ist eine gesellschaftlich vermittelte Kategorie. Auch Voss und Weiss fragen sich, ob die von ihnen beobachteten Phänomene nicht als Entstehung einer neuen Form der Subjektivierung begriffen werden müssen, und dies wiederum als „einen wesentlichen, wenn nicht gar den entscheidenden Aspekt industriell-kapitalistischer Gesellschaften, wie sie sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts herausbilden“.

Die Beschäftigung mit der Frage, was vom Individuum in einer so gestalteten Gesellschaft überhaupt noch übrig bleibt, treibt Soziologen und Philosophen gleichermaßen um. Dagegen bleibt die Debatte in der psychoanalytischen Literatur bislang seltsam unterbelichtet; sarkastisch könnte man sagen, dies geschehe mit Gründen, da im Falle einer vollständigen Abdankung des Ich im Subjekt ja nicht nur der Adressat psychoanalytischer Therapie, sondern auch die Existenzberechtigung der Disziplin selbst verloren geht..

Doch genau das Verschwinden des Ich, jener Instanz der Psyche also, die gemäß der psychoanalytischen Theorie die Vermittlung zwischen den Anforderungen der Realität bzw. Außenwelt und den Triebansprüchen des Individuums bewerkstelligen soll, wird in der Debatte letztlich häufig konstatiert. So etwa, wenn der Soziologe Richard Sennett in seinen Untersuchungen zur Flexibilisierung der Arbeitswelt zu dem Schluss kommt, durch die ständig wechselnden Anforderungen werde die Ausbildung einer stabilen Identität verhindert. Diese Diagnose steht auch hinter der erzwungenen Verschmelzung von Privat- und Arbeitsleben, die als freiwilliger Schritt erlebt wird. So berichtet der Soziologe Elin Thunman aus einer empirischen Studie über Burnout von einer Befragten, die ihr Selbstverständnis rückblickend mit den Worten zusammenfasste, „wenn ich bei der Arbeit gut bin, dann ist das meine Identität als Mensch.“: „Ich war meine Arbeit.“ Auch der Soziologe Alain Ehrenberg macht in seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“ deutlich, dass ohne die Möglichkeit zur Distanz von der Welt und damit zur Reflexion über das eigene Sein, ohne Privatheit also im Sinne eines Bereichs zur Muße und Kontemplation, „sich keine Persönlichkeit bilden kann“.

Der Suche nach dem guten Leben folgt die „Hysterie des Überlebens“.

Der Philosoph Theodor W. Adorno spitzte die Tendenz dieser Entwicklung bereits 1955 radikal zu: Die unbedingte Anpassung an die Anforderung der Außenwelt als Arbeitswelt bedinge zugleich die „Verhärtung des Subjekts in sich: je realitätsgerechter es wird, desto mehr wird es sich selbst zum Ding, desto weniger lebt es überhaupt noch, desto unsinniger wird sein ganzer ?Realismus‘, [?]. Das Subjekt zerlegt sich in die nach innen hin fortgesetzte Maschinerie der gesellschaftlichen Produktion und einen unaufgelösten Rest, der als ohnmächtige Reservatsphäre gegenüber der wuchernden ?rationalen‘ Komponente zur Kuriosität verkommt.“ Denn wie unsinnig die Anforderungen der Realität dem Individuum auch vorkommen mögen: es muss ihnen entsprechen, wenn es nicht untergehen will. Dies befeuert die Verinnerlichung des Zwangs. Sie gleicht der Identifikation mit dem Aggressor, die sich etwa anhand der Solidarität beobachten lässt, die Entführungsopfer bisweilen mit jenen entwickeln, in deren Gewalt sie sich befinden, um nur irgendwie von der vollständigen Ohnmacht sich zu emanzipieren: Ähnlich identifiziert sich das Individuum mit den Anforderungen der Arbeitswelt, wie irre diese auch sein mögen. Dazu aber, so Adorno, muss sich das Ich das Bewusstsein von der Irrationalität der Realitätsanforderungen gewissermaßen verbieten, sich quasi selbst abschaffen, übrig bleibt das unbeschränkt anpassungsfähige „subjektlose Subjekt“.

Weil der innerökonomische Zwang zur Arbeit, der sich schlicht daraus ergibt, dass man nicht verelenden will, also immer weniger durch außerökonomischen Zwang ergänzt werden muss, weil nicht als Streikender ausgesperrt werden muss, wer längst das eigene Selbst nur mehr als ausbruchssicheres Gefängnis erlebt, nimmt auch die Revolte neue und doch altbekannte Formen an. Rassismus, Antisemitismus und Selbstmord sind die gesellschaftlich bedingten pathologischen Reaktionsweisen eines Individuums, das sich selber als unbarmherzigen Zuchtmeister erlebt, der zu keiner Stunde des Tages mehr Entspannung gestattet. In einer wahnhaft-verkehrten Wahrnehmung der Realität verfolgen die einen all jene, denen es scheinbar noch gelingt, sich der gnadenlosen Rallye ums Überleben zu entziehen. Sie fungieren als unerträgliche Reminiszenzen daran, dass auch ein anderes, besseres Leben möglich wäre, das der Verfolger sich gewaltsam aus dem Kopf schlagen muss. Die anderen richten ihre Aggression direkt gegen den Zuchtmeister, das eigene Selbst, wovon die Legion werdenden Burnout-Fälle und die Selbstmorde etwa bei der France Télécom ein trauriges Beispiel geben.

Auf alle anderen wartet die nächste Runde im Hamsterrad, angetrieben von der „Hysterie des Überlebens“, wie der Philosoph Byung-Chul Han schreibt: „Angesichts der Atomisierung der Gesellschaft und der Erosion des Sozialen bleibt nur der Körper des Ich übrig, der um jeden Preis gesund zu erhalten ist.“ Dadurch aber werde dem Leben letztlich seine Lebendigkeit genommen, die, wie Han es formuliert, „viel komplexer ist als die bloße Vitalität und Gesundheit“. Keine schönen Aussichten. Aber immerhin: Angesichts dessen erscheint selbst der Genuss des Weihnachtsbratens im Kreis der Familie als ziemlich Rock’n’Roll.

Weiterlesen:
Sighard Neckel und Greta Wagner (Hg.) – Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft. Suhrkamp,
219 Seiten.
Ulrich Bröckling – Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungs-form. Suhrkamp, 327 Seiten.
Alain Ehrenberg – Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Suhrkamp, 335 Seiten.
Byung-Chul Han – Topologie der Gewalt. Matthes & Seitz, 191 Seiten.


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