EUTHANASIE FÜR KINDER: Ab welchem Alter kann man gehen?

Sterbehilfe für Minderjährige gilt Vielen als ethische Bankrotterklärung. In Belgien wurde sie letzte Woche legalisiert. Ein Arzt, ein Priester und ein Politiker werfen einen differenzierten Blick auf ein oft missverstandenes Problem.

Die Spritze als Sinnbild für eine komplizierte Debatte, die in Belgien nun wohl, vorerst, beendet ist. (Foto: ©flickr_obiviously_c)

Am Ende stehen drei nackte Zahlen. 88 Befürworter, 44 Gegner, 12 Enthaltungen. Mit der erwartet deutlichen Mehrheit hat das belgische Parlament letzte Woche einen Gesetzesentwurf angenommen, der die Korrespondenten aus aller Welt in Atem hält: Sterbehilfe ohne Altersgrenze, das gibt es nicht einmal in den Niederlanden, wo das Mindestalter 12 beträgt – mit elterlicher Zustimmung. In Luxemburg liegt es, mit der gleichen Bedingung, bei 16. Viele Nachrichtenzuschauer sind perplex, Kommentatoren bekennen sich ratlos. In Überschiften und Kommentaren wird das Bild der „Giftspritze? bemüht.

Knapp drei Monate zuvor: Christiane Amanpour hat schon viel erlebt als CNN-Anchor, doch bei diesem Politiker, der ihr jetzt aus Brüssel live in die Sendung zugeschaltet wird, verliert sie völlig die Contenance. „Finden Sie es nicht furchtbar??, fährt die bekannte Moderatorin den jungen Senator an. Der Ton passt so gar nicht zu ihrem Renommée, aber es geht schließlich auch um ein besonders heikles Thema: Das belgische Oberhaus hat an diesem Tag im November 2013 beschlossen, dass schwerstkranken Minderjährigen das Recht auf Sterbehilfe zugestanden werden soll. Auch der CNN-Redaktion geraten da die Begriffe durcheinander: „Support for Legal Suicide“ betitelt sie eine Graphik zum Thema.

Später wird Jean-Jacques De Gucht, 30, sagen, er habe sich seine CNN-Premiere romantischer vorgestellt. Jetzt aber bleibt er ruhig. Er, der einst einen Gesetzesentwurf einbrachte, durch den das Sterbehilfegesetz auf Minderjährige ausgedehnt werden sollte, erklärt, dass es dabei nur um Personen gehe, die sich im Endstadium einer unheilbaren Krankheit befinden, ohne jegliche Aussicht auf Besserung, und die darum unerträglich leiden. Das wichtigste Kriterium muss er ein paar Mal wiederholen, weil die empörte Amanpour ihm ins Wort fällt: volle Willensfähigkeit. Darum ist neben dem schriftlich festgehaltenen Ersuchen um Sterbehilfe nicht nur die Einwilligung der Eltern nötig, sondern auch ein begleitendes psychologisches Gutachten.

Januar 2014. Ein Treffen mit Jean-Jacques De Gucht in Brüssel. Warum widmet sich ein politischer Senkrechtstarter ausgerechnet dem freiwilligen Lebensende Todkranker? Für De Gucht, der bereits mit 23 in den Senat einzog, ist das eine ideologische Frage. Mehr als ein paar Sätze braucht er nicht, sie zu beantworten: „Ich bin Liberaler. Mein Grundanliegen ist Entscheidungsfreiheit. Und das Wichtigste, über das man entscheiden kann, ist das eigene Leben. Meine Aufgabe als Politiker ist es, Menschen diese Möglichkeit zu geben.?

Als Belgien 2002 die Sterbehilfe für Erwachsene legalisierte, studierte Jean-Jacques De Gucht noch Agogik. In der Zeitung des liberalen Studentenverbands schrieb er schon damals Artikel, in denen er für eine Ausweitung dieses Gesetzes plädierte. Auch in diesem Winter setzt er sich für dieses Anliegen ein, das für ihn eines der dringendsten Themen ist: In einem Artikel in der Tageszeitung De Tijd nennt er es „diskriminierend?, dass Minderjährige dieses Recht auf Selbstbestimmung vorenthalten wird. Es ihnen zuzugestehen, sei ein „Akt der Menschlichkeit.? De Gucht hebt hervor, dass schwerkranke Minderjährige infolge ihres Schicksals oft mehr Reife besitzen als Gleichaltrige. Kinderärzte, die seinen Gesetzesentwurf unterstützen, bestätigen das. „Emotionales Alter statt Kalender-alter? soll deswegen als Kriterium für Sterbehilfe gelten.

Ob er selbst Sterbehilfe in Anspruch nehmen würde, weiß der Senator nicht. Er sagt, er habe Angst vor dem Tod, und das noch mehr, seit vor einem halben Jahr sein Sohn geboren wurde. Ihn zu hinterlassen, statt ihn aufwachsen zu sehen – eine qualvolle Vorstellung. Sicher ist er sich indes, dass er im Falle eines Falles selbst entscheiden will. „Ich finde es beunruhigend, dass Menschen anderen diese Freiheit nehmen wollen.? Damit trifft er die Stimmung im Land: Bis zu 85 Prozent der Belgier befürworten Sterbehilfe, und rund drei Viertel wollen, dass diese auch für Minderjährige gilt. Mit 50 zu 17 Stimmen entschied sich der Senat klar für De Guchts Entwurf. Warum? „Viele Menschen haben einfach ihre Erfahrungen mit Leiden gemacht.? Es ist wohl so: Der Tod hat sich noch nie um Parteigrenzen gekümmert.

Die letzten in Belgien, die sich gegen die Ausbreitung der Sterbehilfe wehren, sind religiös gebundene Gruppen und Einzelpersonen. Auf katholischen Websites wird seit Anfang Februar zu Mahnwachen, Fasten und Gebet aufgerufen, um die Annahme des Gesetzes in allerletzter Minute doch noch zu verhindern. Die Gesellschaft übertrete ein „fundamentales Verbot“, wenn ein unschuldiges menschliches Wesen getötet werde. Und noch mehr steht auf dem Spiel, warnt Belgiens Erzbischof André-Joseph Léonard: Mit der Ausweitung der Sterbehilfe würde eine Tür geöffnet, die nie mehr zu schließen sei. Sein Appell richtet sich daher auch an Gläubige anderer Religionen, Agnostiker und Atheisten: „Es ist höchste Zeit, aber noch nicht zu spät!“

Das letzte Gebet kurz vor der Injektion

Schon im November hatten hohe jüdische, muslimische und christliche Repräsentanten einen Offenen Brief verfasst: „Dem Leben ein Ende bereiten ist eine Tat, die nicht nur ein Individuum tötet, sondern das soziale Gewebe der Gesellschaft.? Was damit gemeint ist? Die Antwort liegt hinter den dicken Mauern der Maison Saint Michel. Hier, in einem Jesuitenkloster im Brüsseler Norden, wohnt Tommy Scholtes, der Sprecher der belgischen Bischofskonferenz. Sein Arbeitszimmer ist gut geheizt, der Geruch von Tabak liegt in der Luft. „Es geht um das Gewebe des Lebens?, beginnt er. „Solidarität, sich gegenseitig stützen und begleiten, bis zum Tod. Da können wir nicht beschließen, bestimmte Kinder zu Tode zu bringen. Und abgesehen davon: Ein Kind kann nichts beschließen, ohne eine Unterschrift von Erwachsenen. Sollen Kinder also künftig andere fragen können, ihr Leben zu beenden??

Es ist nicht einmal das fünfte Gebot, das Tommy Scholtes als erstes Argument bemüht. „Sterbehilfe ist nicht nötig, medizinisch gesehen. Experten und Ärzten haben mir das bestätigt.? Seine Alternative: Palliativmedizin gegen die körperlichen Schmerzen, emotionale Zuwendung gegen die seelischen. Beide Begriffe sind für ihn nicht nur Theorie. Dreimal wöchentlich kommt er mit seiner Seelsorgergruppe in ein Brüsseler Krankenhaus. Ein paar sind Priester wie er, die anderen Laien. Jeder ist für bestimmte Abteilungen zuständig, Scholtes für die Kardiologie und die Intensivstation. Regelmäßig hat er dort mit Sterbenden zu tun – zuweilen auch mit solchen, die für ihren Tod Hilfe in Anspruch nehmen.

Tommy Scholtes mag das ungut finden, doch er ist kein Dogmatiker. Er muss einem Kranken, den er begleitet, nicht sagen, was er für richtig oder falsch hält. Das letzte Gebet kurz vor der Injektion – das macht er. Beim Akt selbst will er nicht zugegen sein. Eine Frage drängt sich auf: Gab es dort im Krankenhaus jemals einen Fall, eine Situation, die ihn zum Zweifeln brachte? Bedächtig wiegt der Pfarrer den Kopf, dann antwortet er entschieden: „Nein! Auch wenn man selbst bei Palliativmedizin nicht immer ruhig stirbt. Aber bedeutet ein Stöhnen schon, dass man leidet?“

Genau hier liegt ein entscheidender Punkt in der Diskussion. Befürworter der Sterbehilfe betonen, Palliativmedizin reiche manchmal eben doch nicht aus. Auch Wim Distelmans, einer der Pioniere der belgischen Palliativmedizin mit entsprechender Professur an der Freien Universität Brüssel, teilt diese Ansicht. Vor den Toren der Hauptstadt leitet der Krebsspezialist ein palliatives Pflegezentrum. „Palliativmedizin ruht auf vier Säulen: gute Schmerzkontrolle, gute Symptomkontrolle, psychische Unterstützung und soziale Unterstützung. Doch trotz guter palliativer Pflege gibt es Patienten, die unerträglich leiden und denen wir nicht helfen können.?

Gilt es nun, das Leben zu beschützen oder Leiden zu beenden?

Im Februar 2013 ist Wim Distelmans einer der Experten, die im belgischen Senat gehört werden. Die Abgeordneten wollen sich Rat holen, kundig machen über ein Thema, dessen essenzielle Details oft nur unter der Hand und anonym weitergereicht werden. Mehrere Mediziner sprechen an diesem Tag offen aus, was jeder irgendwie weiß, aber niemand belegen, niemand beschreiben kann: Sterbehilfe für Minderjährige wird bereits praktiziert. 2010 kursierte sogar eine Zahl: 13 Fälle soll es in anderthalb Jahren gegeben haben, offiziell war die Zahl freilich nicht.

Ein junger Kinderarzt erzählt von einem Teenager-Mädchen, das in den Niederlanden Sterbehilfe erhielt. Weitere Beispiele werden nicht genannt. Es ist sehr gefährlich, darüber zu sprechen, so der Tenor. Die Illegalität belastet alle, die mit ihr zu tun haben. Es gibt Geschichten wie diese: Ein kleines Kind, das durch einen Gehirntumor im Endstadium immenses Leid zu ertragen hatte. Der Hausarzt verweigerte Sterbehilfe. Über Umwege kam der Vater des Kindes mit einem anderen Arzt in Kontakt. Der beschaffte das Mittel, die beiden trafen sich irgendwo auf einem Parkplatz, der Vater verabreichte seinem Kind die tödliche Substanz.

„Wenn es auch nur einen solchen Fall gibt, müssen wir dafür das Gesetz erweitern?, ist Wim Distelmans überzeugt. Zugleich räumt er ein, dass aufgrund des Hippokratischen Eids eine Konfliktsituation besteht: Gilt es nun, das Leben zu beschützen oder Leiden zu beenden? „Manchmal kann man das Leben nicht mehr schützen, um Leiden zu beenden.? Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, betont Distelmans, dass Sterbehilfe natürlich nur auf Gesuch des Patienten geschehe. Bei einigen Gegnern hält sich noch immer die Vorstellung, Angehörige könnten sich bald missliebiger Kranker entledigen – dank entsprechender Gesetze und mithilfe von Ärzten, denen die Spritze locker sitzt.

Und dann kommt Wim Distelmans mit einem persönlichen Beispiel, um die Sache auf den Punkt zu bringen: „Mein Vater war dement. Niemals hätte er um Sterbehilfe gefragt. Also pflegten wir ihn zu Hause, mehr als ein Jahr lang. Aus Respekt vor dem, was er wollte, als Mensch und als Patient. Und genau um diesen Respekt geht es. Aus diesem Respekt heraus sind wir für die Möglichkeit der Sterbehilfe.?


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