JAHR DES UNHEILS 1914: Die kleinen Fehler

Ob in Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder Luxemburg – die Frage, wie es zum Ersten Weltkrieg kam, ist umstritten. Auf Einladung des Institut Pierre Werner hat Christopher Clark mit einem Vortrag im CCRN sein neues Buch zu diesem Thema vorgestellt.

Säbelrasseln: Die deutsche Kavallerie marschiert in Berlin auf. (©wikimedia)

Als „Unruhestifter unter den Historikern“ bezeichnet ihn die FAZ: Den Historiker Christopher Clark, dessen Buch „The Sleepwalkers“ im vergangenen Herbst auf Deutsch erschienen ist. Das Werk beschreibt die Verkettung der Ursachen, die vor 100 Jahren zum Ersten Weltkrieg führten. Seit den 1960er Jahren, so die FAZ, habe sich die These des deutschen Historikers Fritz Fischer von der überwiegenden deutschen Kriegsschuld durchgesetzt. Das bürgerlich-konservative Blatt triumphiert: „Bei Clark kann man nun nachlesen, dass das Kaiserreich genauso schuldig oder unschuldig am Ausbruch des Krieges war wie alle anderen europäischen Großmächte: Russland, Frankreich, Österreich-Ungarn und England.? Das mag eine unzulässige Verkürzung der Aussagen des über 700 Seiten starken Buches sein, doch der FAZ-Beitrag erfüllt seinen Zweck: Er macht neugierig.

Neugier war es wohl auch, die die meisten der über 200 BesucherInnen am 10. Februar ins Centre Neumünster gelockt hatte, um sich den vom Institut Pierre Werner veranstalteten Vortrag von Christopher Clark anzuhören. Trotz des Eintrittspreises von 10 Euro war die Veranstaltung ausverkauft, ja, es gab sogar eine Warteliste mit über 40 Interessierten. Im langgezogenen Edmond-Dune-Saal war der Referent für viele Anwesende zwar kaum sichtbar, aber die einwandfreie Beschallung, Clarks exzellentes Deutsch und seine Fähigkeit, eine trockene Materie lebendig darzulegen, dürften die meisten Besucher zufriedengestellt haben.

Bereit für die Revanche

Ob die These von Deutschland als Hauptschuldigem im Jahre 2012, als Clarks Buch auf Englisch veröffentlicht wurde, wirklich noch die dominierende war, sei dahingestellt. Sie war es aber mit Sicherheit in der Jugend des 1960 geborenen Historikers. In seinem Vortrag berichtete er, was ihm auf dem Gymnasium in Sydney beigebracht wurde: Die notorischen „fünf Provokationen“ seien ausreichend, die alleinige Kriegsschuld Deutschlands zu belegen. In dem erst 1901 gegründeten Staat Australien, der im ersten Weltkrieg auf Seiten Großbritanniens kämpfte, sei Fischers These uneingeschränkt übernommen worden. Der heute in Cambridge lehrende Clark erinnerte daran, dass blutige Einsätze australischer Truppen wie jener bei Gallipoli als eine Art Feuertaufe seines Heimatlands angesehen werden.

Doch Clark redete wenig über Australien, das ja mit dem Ausbruch des Krieges kaum etwas zu tun hatte. Eher schon über Frankreich, ein Land, dessen Außenminister in den zehn Jahren vor dem Krieg 16 mal wechselte und das 1914 in einer Mischung von Konzeptlosigkeit und Kampfeslust Russland zu einer harten Gangart ermutigte. Das jedenfalls geht aus den Beispielen hervor, die Clark anführte.

So sind Ende des Jahres 1912 vier Balkanstaaten dabei, den europäischen Teil des Osmanischen Reichs zu erobern. Die Nervosität bei den beiden direkt an der Balkanregion interessierten Großmächte Österreich-Ungarn und Russland steigt, das Zarenreich verstärkt seine Truppen an der galizischen Grenze zur Doppelmonarchie. In Paris unterhält sich der russische Militärattaché Graf Ignatieff mit dem französischen Kriegsminister Alexandre Millerand. Ignatieff vertraut dem Franzosen an, Russland sei eigentlich nicht kriegsbereit. Worauf Millerand – Clark zitiert aus Ignatieffs Notizen – fragt: Wie, Sie lassen Serbien im Stich? Und versichert, Frankreich sei bereit, die Bündnisklausel spielen zu lassen und gegebenenfalls in einen Krieg gegen die Mittelmächte einzutreten.

Überforderte Politiker

Zu diesem Zeitpunkt stehen sich in Europa schon zwei Bündnisse gegenüber: Deutschland und Österreich-Ungarn auf der einen Seite, die Triple Entente mit Russland, Frankreich und Großbritannien auf der anderen. Auf dem Balkan hat Wien 1908 Bosnien annektiert, fühlt sich aber von den mit Russland verbündeten Balkanstaaten bedroht, insbesondere von Serbien. Wie Clark erläuterte, habe Frankreich sich ein paar Jahre früher noch geweigert, die Balkanprobleme als vitales Interesse Russlands, und damit als bündnisrelevant, anzuerkennen. Millerand aber habe stark unter dem Einfluss des eher bellizistischen Premierministers Raymond Poincaré gestanden. Ignatieffs Einschätzung sei die folgende gewesen: Frankreichs Unterstützungsbereitschaft für den Fall eines Balkankrieges rühre von der Überlegung her, dass ein solcher Konflikt die beste Ausgangslage für einen Krieg mit Deutschland abgäbe. Breche er aus, könne Paris nämlich sicher sein, nicht allein gegen das Kaiserreich kämpfen zu müssen. Der Militärattaché empfahl seiner Regierung, diese Tendenz diplomatisch zu fördern: Wenn es sowieso zu einem Balkankrieg komme, dann solle Frankreich auf einen Kriegseintritt vorbereitet sein.

Clark unterstrich, solche Überlegungen, die darauf abzielten, eine vorteilhafte Konstellation für die Auslösung des als unvermeidbar betrachteten Kriegs zu nutzen, würden für die deutsche Seite als normal angesehen, erregten aber Erstaunen, wenn sie von französischen Beteiligten berichtet würden. Er zitierte auch den französischen General Castelnau, der Ignatieff versicherte, er sei persönlich bereit für einen großen Kreig, ja, wünsche ihn sogar herbei. Ahnliche Zitate von deutschen Befehlshabern hätten die Historiker dutzendweise angehäuft, so Clark. „Es geht mir nicht darum, die deutsche Verantwortung kleinzureden, sondern sie in ein europäisches Ursachengefüge einzuordnen.“

Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren nach Clarks Überzeugung nicht so sehr Chauvinismus oder langfristige historische Prozesse die ausschlaggebenden Faktoren, sondern die raschen Veränderungen in den Bündnisverhältnissen, die die Entscheider überforderten. Schuldorientierte Darstellungen wie die von Fritz Fischer würden sich häufig auf einen Staat konzentrieren und eine Geschichte konstruieren, indem sie alle Aktionen als Ausfluss einer Art Konspiration für den Krieg interpretierten.

Ein vermeidbarer Krieg

Manche Kritiker werfen dem Autoren der „Schlafwandler“ allerdings vor, ähnlich zu verfahren, und sich auf Frankreich, Russland und Serbien zu konzentrieren. In seinem Vortrag betonte Clark, er betrachte den Krieg nicht als von den Akteuren gewolltes oder gar geplantes Ereignis. Alle Seiten hätten aber das Gefühl gehabt, der Krieg sei eine günstige Alternative zu Konzessionen und Verhandlungen, und sich deshalb auf eine Art Bluffspiel eingelassen – auch aus der Sorge, der Krieg komme womöglich sowieso, und beim nächsten Mal werde die eigene Position vielleicht nicht mehr so vorteilhaft sein. Er wolle die damaligen Gedankengänge aufzeigen – und ihre Spiegelbildlichkeit.

Als Zuhörer des Vortrags konnte man dennoch nicht umhin, sich zu fragen, welche Rolle langfristige historische Prozesse bei der Entstehung des Krieges gespielt haben könnten: Neben dem deutschen Imperialismus wäre an das französische Revancheverlangen für 1870/71, die krisenbedingte Agressivität seitens des Zarenreiches und der Doppelmonarchie und die Verquickung von Panslawismus und serbischem Nationalismus zu denken. Dass diese Kräfte nicht notwendigerweise zu einem Krieg führen mussten, ist eine der interessantesten Thesen von Clark, der besonders darauf aufmerksam machte, dass in den Vorkriegsjahren Konflikte wie das deutsch-britische Wettrüsten zur See an Schärfe verloren hatten.

Ein nüchterner Blick auf den Ersten Weltkrieg ist auch 100 Jahre danach von Nutzen, schließlich sind die Geschehnisse von damals über die Jahrzehnte hinweg immer wieder neu – und landesspezifisch – interpretiert worden. In Frankreich konzentriert sich die jüngste Forschung auf die Folgen des Krieges für die Menschen – Soldaten und ZivilistInnen. Doch gibt es immer noch rechte und linke Nationalisten, die den Standpunkt vertreten, Frankreich hätte den Sieg von 1918 nutzen sollen, um Deutschland ein für allemal unschädlich zu machen. Die Frage nach den Ursachen für den Ersten Weltkrieg wurde nach 1945 von der klar erscheinenden Antwort nach denen für den Zweiten verdrängt. Das Gedenken an 1914-18 wurde sogar in den Dienst der deutsch-französischen Versöhnung gestellt, und die Erinnerung an das gemeinsame Leiden der Großväter in den Schützengräben verdrängte jene – in der Zwischenkriegszeit durchaus wichtige – an die deutschen Ubergriffe gegen die belgische und französische Zivilbevölkerung.

Rape of Luxembourg?

Auch in der Luxemburger Geschichtsschreibung tritt der Erste Weltkrieg gegenüber dem Zweiten zurück. Schließlich gelte die Zeit von 1940 bis 45 als Feuertaufe der Nation, betonte der Historiker Denis Scuto, der nach dem Vortrag die Publikumsfragen moderierte. Luxemburg habe nach dem deutschen Einmarsch versucht, an der Fiktion seiner Neutralität festzuhalten, statt sich Deutschland entgegenzustellen, wie Belgien es 1914 mit Waffengewalt tat und – auf symbolische Weise – das Großherzogtum 1940. Staatsminister Paul Eyschen glaubte, das Kaiserreich werde den Krieg gewinnen, und wollte Luxemburgs Position für diesen Fall stärken – sein größter Fehler, so die Einschätzung von Scuto.

Wie die LuxemburgerInnen den Krieg und die deutsche Okkupation erlebten, wird ab Sommer 2015 Thema einer Ausstellung im „Dräi Eechelen“-Museum sein, die von Charles Roemer und dem luxemburgischen Erster-Weltkriegs-Experten Benoît Majerus zusammengestellt wird. Parallel dazu ist eine Buchveröffentlichung geplant. Originell ist auch das von Majerus lancierte Uni-Projekt eines Logbuchs des Ersten Weltkriegs und seiner Vorgeschichte auf Twitter (@realtimeww1).

Seitens des Luxemburger Publikums gab es, wie zuvor in Deutschland, Vorbehalte gegenüber Christopher Clarks Position, die von manchen als Versuch verstanden wurde, Deutschland reinzuwaschen. Eine Publikumsfrage bezog sich zum Beispiel auf das Ultimatum Österreichs an Serbien in der Folge des Attentats von Sarajevo: Es sei von den Ententemächten einhellig als übertriebene, bewusst unerfüllbare Forderung gesehen worden. Clark widersprach: Belgien habe zu diesem Zeitpunkt eher Verständnis für die Position der Mittelmächte gezeigt, ähnlich wie Paul Eyschen, der, laut Denis Scuto, vor allem befürchtete, Frankreich stehe kurz davor, die Neutralität Luxemburgs zu verletzen. Die Forderung des Ultimatums, an den Ermittlungen zu dem Attentat zwei österreichische Beamten zu beteiligen, sei, recht besehen, doch eher soft gewesen.

Damals und heute

Und dann tat Clark etwas, wofür er schon vorher von manchen Historikerkollegen kritisiert wurde: Er verglich diese Forderung mit der heutigen Praxis, ähnliche Vorfälle durch ausländische Inspektoren untersuchen zu lassen. Und mit dem Ultimatum der Nato 1999 in Rambouillet, das, so Clark, ein authentisches Kriegsultimatum gewesen sei – und immerhin den uneingeschränkten Durchmarsch fremder Truppen durch Serbien gefordert habe. Er verteidigte seinen Vergleich: Als Historiker müsse man, um ein Verhalten einzuordnen, auf einander ähnelnde historische Situationen zurückgreifen.

Als Schüler in Sydney habe er in der Vorkriegszeit vor allem den längst vergangenen imperialen Charme gesehen, die Akteure von damals erschienen ihm wie „gestrige Menschen aus einer todgeweihten Welt“. Doch Ereignisse wie der Kennedy-Mord 1963 oder die New Yorker Attentate von 2001 hätten ihn dazu gebracht, in dem Zeitabschnitt vor 1914 eine hohe Modernität zu erkennen. Gestalten wie die jungen, radikalisierten Selbstmordattentäter von Sarajevo erschienen ihm heute weniger fremd als in seiner Jugend. „Es geht nicht darum, eine mutwillige, forcierte Aktualisierung vorzunehmen“, betonte Clark, „aber wir können von unserem verwandelten Standpunkt profitieren, um die Ereignisse von 1914 besser zu verstehen.“

Clark forderte einerseits Verständnis für die Handelnden von damals – „sie waren nicht blöd und keine Psychoten“, andererseits missbilligte er ihr Verhalten – „sie wollten aufgrund ihres Männlichkeitsideals nicht klein beigeben“. Unwillkürlich fragt man sich, wie das wohl heute ist. Clark erzählte von seiner Besorgnis während der Eurokrise. „Die Akteure wussten zwar um das Risiko einer Katastrophe, das hat sie aber nicht diszipliniert.“ Im Gegenteil, dieses Risiko sei als Argument benutzt worden, um egoistische nationale Interessen durchzusetzen. Positiv sei dagegen, dass die vorgegebenen Strukturen der Europäischen Union den Umgang mit der Krise kanalisiert hätten und die Union nun weiter verstärkten.

Der nächste Krieg

Allgemein sieht Clark in den internationalen Beziehungen einen substanziellen Fortschritt gegenüber 1914: „Die Strukturen sind besser, es gibt heute schiedsrichterliche Instanzen, anstatt dass bei jeder Krise improvisiert wird.“ Clark ist überzeugt: „Wenn wir aus der Geschichte lernen, dann durch diesen Aufbau von Strukturen.“

Diese Aussage lieferte ein optimistisches Schlusswort zur Konferenz, hinterlässt aber eine gewisse Skepsis. Zwar hat vor allem der Westen nach 1945 eine Reihe von Strukturen geschaffen oder rehabilitiert, doch die Urteile des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag werden häufig ignoriert, und sogar das Gewaltmonopol der Uno wurde in den vergangenen Jahrzehten mehrfach gebrochen. Und die Weltmacht USA hat die Regeln des neu geschaffenen Internationalen Strafgerichtshofs bisher nicht akzeptiert.

Blickt man nach Ostasien, so gibt es noch weniger Grund zum Optimismus. Vor kurzem setzte der japanische Premierminister Shinzo Abe das China von 2014 mit dem Deutschen Reich von 1914 gleich – eine Analogie, die schon länger unter Experten kursiert. Dass er sich und seine Verbündeten dabei wohl in der Rolle der Entente sieht, hat nichts Beruhigendes. Im Streit um die Inselgruppe, die von den einen Senkaku, von den anderen Diaoyu genannt wird, will keiner klein beigeben. Regionale Strukturen zur Konfliktlösung gibt es nicht, und die UNO wird – angesichts ihrer wiederholten Instrumentalisierung für westliche Interessen – von China keineswegs als neutrale Instanz akzeptiert. Clarks Buch wurde ins Deutsche und Französiche übersetzt. Eine chinesische und eine japanische Ausgabe wären vielleicht dringlicher gewesen.


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