WERTEUNTERRICHT: Der lange Schatten der „Wahlfreiheit“

Sveinn Graas, angehender Politikwissenschaftler, Mitglied von déi Lénk und Betreiber des Blogs „Res Publica – Fir Republik a Sozialismus“ wirft der katholischen Kirche vor, ihre Machtansprüche „tolerant“ verpacken zu wollen.

(Foto: „Nom de Dieu et Machin-truc“, Jean-Luc Koenig)

Nachdem eine Diskussion um die Abschaffung des Religionsunterrichts zugunsten eines allgemeinen Werteunterricht jahrelang weitgehend vermieden wurde, scheint es unter der neuen Dreier-Koalition endlich soweit zu sein. Doch wird nicht nur eine Diskussion geführt – die Regierung hat angekündigt, die Kirche aus der Schule zu verbannen und den Religionsunterricht abschaffen zu wollen.

Diese Ankündigung hat unter Vertretern der katholischen Kirche bereits eine Welle der Empörung ausgelöst, und Religionslehrer und konservative Eltern fordern in einer Petition, die sogenannte „Wahlfreiheit“ beizubehalten. Das heißt im Klartext: Eltern sollen nicht nur die Wahl haben, ihre Kinder religiös zu erziehen ? diese Erziehung soll auch weiterhin staatlich subventioniert werden. Um die Wahlfreiheit des Kindes geht es hierbei nicht, es ist vielmehr eine trotzig anmutende Reaktion mancher Eltern, die meinen, ein „Recht“ auf die Bestimmung jedes Aspekts der Bildung ihrer Kinder zu haben.

Es geht um mehr als nur die Schule.

Die Kirche, die noch vor wenigen Jahrzehnten den Standpunkt vertrat, es solle eben keine Wahlfreiheit geben und jeder müsse den Religionsunterricht besuchen, spielt heute die Karte der „religiösen Toleranz“. Dies offenbart, in welch defensiver Lage die sich sonst so autoritär gebärdende Institution mittlerweile befindet: Konnte sie früher noch ihren Machtanspruch offen zur Schau stellen, muss sie sich nun hinter demokratisch klingenden Floskeln verstecken.

Die Argumentation der Befürworter der „Wahlfreiheit“ nimmt aber auch immer wieder auf die „katholische Mehrheit“ Bezug: Viele Eltern schicken ihre Kinder auch heute noch in den katholischen Religionsunterricht. Es geht aber bei der Frage nach der Berechtigung des Religionsunterrichts nicht darum, welche Religion die Mehrheit stellt oder ob viele Eltern ihre Kinder in staatlich finanzierten Religionsunterricht schicken wollen. Es geht darum, wie weit sich die organisierte Religion in das öffentliche Leben einmischen darf.

Der gesetzlich gesicherte Zugang zu den öffentlichen Schulen ist für die katholische Kirche in erster Linie ein Machtinstrument. Seit vielen Jahren verliert sie nämlich unaufhaltsam an Zustimmung in der Gesellschaft, an Mitgliedern und an regelmäßigen Kirchengängern. Die Kirchen in Luxemburg bleiben leer. Deshalb klammern sich der Erzbischof und seine Untergebenen an die politischen Privilegien, die ihnen noch verblieben sind; sie wissen genau, dass die Kirche innerhalb nur einer Generation endgültig aus den Köpfen verschwinden könnte, wenn sie keinen Einfluss mehr auf kleine Kinder ausüben kann.

Welche Gesellschaft wollen wir haben?

Die Frage nach der Macht der Kirche wiederum ist eine gesellschaftliche, die weit über die Schule hinausreicht ? und eben deshalb ist die Existenz der katholisch getauften, aber darum nicht notwendigerweise gläubigen Mehrheit irrelevant. Jede Demokratie, die den Namen verdient, kennt die Religionsfreiheit. Die Religionslehrer und der Klerus legen diesen Grundsatz nun auf eine geradezu absurde Weise aus und argumentieren, er bedeute, dass den religiösen Institutionen gewisse Sonderrechte zukommen, die andere Organisationen nicht haben. Tatsächlich aber meint religiöse Freiheit nicht nur die Freiheit der Ausübung der Religion, sondern auch die Freiheit von religiöser Einmischung in säkulare Angelegenheiten.

Die Gesellschaft, die die Befürworter des staatlichen Religionsunterrichts wollen, sieht aber anders aus. Anstatt einer Gesellschaft, in der Religion Privatsache ist und folglich niemand wegen seiner Religion bevorzugt oder benachteiligt werden darf, wollen sie eine, in der die Religion eine staatlich geförderte Sonderstellung einnimmt. Daran ändert auch ihre deklarierte Bereitschaft nichts, auch anderen Religionen, wie etwa dem Islam, die gleiche Sonderstellung einzuräumen. Es wäre eine Gesellschaft, in der Religion zu einem wichtigen Faktor erklärt wird, der auch im Staat, in der Politik, in der Bildung eine Wirkung ausüben soll. Dass die Kirche bereit wäre, ihre Macht im Bildungssektor mit anderen religiösen Gemeinschaften zu teilen, zeugt nicht etwa von ihrer Fortschrittlichkeit. Sie will stattdessen Privilegien für alle Religionen. Vorausgesetzt, diese sind organisiert und Teil einer Weltreligion. „Gottlose“, nicht- und frei-religiöse Menschen müssen draußen warten.

Politische Bildung und Ethik sind wichtiger als Glaube.

Die luxemburgische Gesellschaft hat einen demokratischen Anspruch. Und eben diesem muss das Bildungssystem endlich gerecht werden. Das heißt unter anderem: Die Vermittlung von Werten – die die Proponenten des Religionsunterrichts immer wieder in ihrer Argumentation aufgreifen – muss unabhängig von religiöser Zugehörigkeit geschehen. Nur so können überhaupt ein demokratiegerechtes ethisches Bewusstsein gefördert und Debatten über Ethik geführt werden ? anstatt dass den Schülern ein vorgefertigtes Werk aus moralbetonten und simplifizierenden Geschichten und Gleichnissen präsentiert wird.

Nun werden einige einwenden, ein einheitlicher Werteunterricht werde der Pluralität der Wertvorstellungen nicht gerecht. Doch ist eigentlich das Gegenteil der Fall: Mit einem entsprechend ausgearbeiteten Lehrplan könnten verschiedene Konzepte von Ethik besprochen und diskutiert werden, unabhängig vom Glauben an eine übernatürliche Entität. Eine solche eher moderierende als belehrende Rolle des Lehrers würde es auch möglich machen, dass Schüler unterschiedlicher religiöser Herkunft, die beim gegenwärtigen System in getrennten Klassenzimmern sitzen müssen, miteinander über ihre Vorstellungen diskutieren. Die „Vielfalt“ also, die der Religionsunterricht laut einigen Befürwortern mit sich bringt, wird in Wahrheit durch eben diesen behindert.

Bei der ganzen Diskussion um den Religionsunterricht vergessen wir allzu leicht, was in einer demokratisch verfassten Gesellschaft wirklich wichtig ist: politische Bildung. Es scheint jedoch niemand bereit zu sein, eine Petition einzubringen, die mehr politische Bildung in den Sekundarschulen fordert. Der eklatante Mangel an politischer Bildung ist aber mit dafür verantwortlich, dass die politische Apathie zunimmt und die Menschen allzu oft nicht nach Überzeugung, sondern nach Gewohnheit wählen. Tradition ist hier wieder manchen wichtiger als Fortschritt, Machterhaltung wichtiger als demokratisches Bewusstsein.

Keine lange Diskussion.

Gerade weil die, auf den ersten Blick manchmal nebensächlich wirkende, Frage nach der Abschaffung des Religionsunterrichts tiefergehende gesellschaftliche und politische Implikationen hat und wesentlicher Teil eines größeren Reformprojekts mit dem Ziel eines säkularen Staates ist, sollte sie nicht länger für sich alleine diskutiert werden. Denn die äußerst emotional geführte Diskussion, die von den Gegnern einer säkularen Schule angeheizt wird, behindert die gesamtgesellschaftliche Diskussion über elementare Fragen, wie die der bevorstehenden Verfassungsreform, der wirtschaftlichen Situation Luxemburgs und der angekündigten Reformen des Sozialstaats. In der Verfassungsreform würde die Trennung von Staat und Kirche vollzogen, was automatisch die Abschaffung des Religionsunterrichts und des staatlichen Te Deums nach sich zöge.

Hier müssen Fakten geschaffen werden – einschließlich Fortbildungsmöglichkeiten für die dann ehemaligen Religionslehrer, damit diese, sofern sie nicht sowieso hauptberuflich Pfarrer sind, anderweitig beschäftigt werden können. Außerhalb der Schulzeiten stünde es natürlich jedem frei, religiöse Kurse anzubieten. Und es stünde auch jedem frei, diese nicht zu besuchen. Das wäre Wahlfreiheit.

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