BRASILIEN: Die bleiernen Jahre

Während sich Brasilien auf die Fußball-WM vorbereitet, jährt sich am 31. März zum 50. Mal der Militärputsch. Im Gegensatz zu den Nachbarländern herrschte lange Zeit kollektives Schweigen über die Menschenrechtsverbrechen der Diktatur. Die Täter blieben bisher straffrei.

Gegen Krise, Korruption und Polizeibrutalität: Zur Fußball-WM muss die brasilianische Regierung mit ähnlich massiven Protesten rechnen wie bereits anlässlich des Confederation Cups im Juni 2013.

Die Familie von Luiz Almeida Araújo nutzt ein verlängertes Wochenende für einen Ausflug mit dem Auto. Auf der Landstraße von São Paulo nach Mogi Mirim hält sie kurz, um ein Foto zu schießen. Die Mutter, die Tochter und der Sohn stehen Arm in Arm vor dem parkenden Wagen. Im Jahr 2012, 48 Jahre später, ist auf einem zweiten Foto dieselbe Landstraße zu stehen: Wieder stehen Mutter und Tochter Arm in Arm vor einem Auto. Aber der Sohn fehlt. Luiz Almeida Araújo war im Juni 1971 im Alter von 27 Jahren auf offener Straße verhaftet worden. Seither galt er als verschwunden. Bis er für tot erklärt wurde.

Die Rochas sind eine kinderreiche Familie in Belo Horizonte. Regelmäßig gehen sie zusammen ins Restaurant. Auf einem Foto von 1961 sind sie zu neunt an einem Tisch versammelt. Auf einem anderen von 2012 sitzen nur noch acht Familienmitglieder am Tisch. Arnaldo Cardoso Rocha fehlt. Er ist 1969 für die Guerillagruppe „Nationale Befreiungsaktion“ (ALN) in den Untergrund gegangen und 1973 gestorben – nach offiziellen Angaben bei einem Schusswechsel. Zeugenaussagen zufolge wurde er jedoch festgenommen und in einem Folterzentrum in São Paulo ermordet.

Die beiden neueren Fotos stammen von Gustavo Germano. Der argentinische Fotograf hat die Familienangehörigen einiger der Verschwundenen der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) fotografiert. Er dokumentierte die Geschichten der Opfer des Regimes, indem er Fotos aus den Familienalben mit den Hinterbliebenen nachstellte. Das Projekt „Auséncias“ erinnert an die Verschwundenen – rechtzeitig zum 50. Jahrestag des Militärputsches in Brasilien am 31. März.

Wie in den meisten lateinamerikanischen Ländern in den 1960er und 1970er Jahren ergriffen in Brasilien 1964 die Militärs mit Unterstützung der USA die Macht, verfolgten Regimegegner, nahmen diese gefangen, folterten und ermordeten sie oder trieben sie ins Exil. Die Legitimation für den „schmutzigen Krieg“ gegen Kommunisten, Sozialisten und all jene, die sie als „subversiv“ bezeichneten, lieferte die sogenannte Doktrin der nationalen Sicherheit im Kontext des Kalten Krieges.

In den Jahren vor der Diktatur hatte der linke Präsident João Goulart (1961-1964) versucht, die sozialen Unterschiede des Landes mit Umverteilungsplänen zu verringern. Mit seinem „Plano Nacional de Adultos“ sollten Millionen von Menschen alphabetisiert werden. Spätestens mit einer geplanten Bodenreform brachte Goulart die Ober- und Mittelschicht gegen sich auf. In einem Klima gesellschaftlicher Spannungen, hoher Inflation und wirtschaftlicher Probleme schürten die konservativen Kräfte des Landes die Angst vor einem kommunistischen Umsturz. So kam es schließlich am 31. März 1964 zum Militärputsch. Goulart floh ins Exil.

Neuer Staatschef wurde General Humberto Castelo Branco. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Abschaffung der direkten Präsidentenwahl. Während der Regierungszeit von Castelo Branco (1964-1967) wurde die Macht des Militärs gefestigt. Es waren nur noch zwei Parteien zugelassen: die Regierungspartei „Aliança Renovadora Nacional“ (Arena) und das als Alibi-Oppositionspartei dienende „Movimento Democrático Brasileiro“ (MDB). Unter Castelo Brancos Nachfolger Arthur da Costa e Silva (1967-1969) formierte sich vermehrt Widerstand gegen das Regime. Die Stadt-Guerilla entstand. Deren spektakulärste Aktion war die Entführung des US-Botschafters Charles Elbrick. Als Reaktion darauf verschärfte das Regime die Repression und führte die Todesstrafe ein. Die darauffolgende Phase unter General Emílio Garrastazu Medici (1969-1974) ist als die finsterste Zeit der „anos de chumbo“, der bleiernen Jahre, in Erinnerung, während der die meisten Menschenrechtsverbrechen der Diktatur begangen wurden. Die Repression erreichte ihren Höhepunkt. Zudem wurden Zeitungen, Bücher, Theaterstücke, Filme und Musik zensiert.

Im Gegensatz zu anderen südamerikanischen Diktaturen versuchte das brasilianische Regime den demokratischen Schein zu wahren.

Einige Oppositionelle flohen ins Exil, andere gingen in den Untergrund. So auch Dilma Rousseff, die heutige Präsidentin Brasiliens. Die Studentin der Volkswirtschaft aus Belo Horizonte war Ende der 1960er Jahre zur Sozialistischen Partei (PSB) gekommen und hatte sich einer Splittergruppe der PSB, dem „Comando de Libertação Nacional“ (COLINA) angeschlossen. Die 1967 gegründete Widerstandsbewegung operierte als Stadtguerilla. Nach deren Zerschlagung – die meisten COLINA-Führungspersonen wurden zu Tode gefoltert – ging Rousseff zur Guerrilla-Organisation VAR Palmares. Im Januar 1970 wurde sie in São Paulo verhaftet und drei Wochen lang gefoltert. Zwei Jahre später ließ man sie frei.

Nicht zuletzt ist es Dilma Rousseff zu verdanken, dass sich Brasilien endlich den Schreckensjahren seiner Vergangenheit stellt. Die erste Frau an der Spitze des fünftgrößten Landes der Welt, seit 1. Januar 2011 im Amt, kündigte an, die Öffnung der Archive voranzutreiben. Denn für besonders sensibel eingestufte Dokumente gilt eine Sperrfrist von 30 Jahren, die nach Ablauf beliebig oft verlängert werden kann. Das Militär wehrt sich nach wie vor gegen die Veröffentlichung geheimer Akten aus der Zeit der bleiernen Jahre. Auch Ex-Präsident José Sarney, der Brasilien von 1985 bis 1990 regierte, sprach sich gegen die Veröffentlichung aller Geheimakten aus und warnte vor der Gefahr, dass „die Wunden der Vergangenheit wieder aufreißen“ könnten.

Was die Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur angeht, ist Brasilien ein Sonderfall in Lateinamerika. Das repressivste Regime herrschte in Argentinien (1976-1983), wo nach Schätzungen bis zu 30.000 Menschen ermordet wurden, der Diktatur von General Augusto Pinochet in Chile (1973-1990) fielen zwischen 3.000 und 10.000 Menschen zum Opfer. Nach offiziellen Angaben waren es in Brasilien laut dem offiziellen Bericht einer Sonderkommission „nur“ 474. Während in den meisten Ländern Südamerikas entweder Wahrheitskommissionen eingerichtet oder Menschenrechtsverbrecher verurteilt wurden, in manchen Fällen beides, legte das größte Land des Kontinents lange Zeit keine Rechenschaft für die Menschenrechtsverbrechen seiner „bleiernen Jahre“ ab.

Nach der Rückkehr zur Demokratie 1985 schwieg der Staat offiziell über diese Zeit. Die Regierungen ergriffen keine nennenswerten Maßnahmen. Ein Amnestie-Gesetz von 1979 garantierte allen Menschenrechtsverbrechern im Staatsdienst Straffreiheit. Im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern – in Argentinien und Uruguay zum Beispiel wurden die Amnestiegesetze für illegal erklärt – hat in Brasilien keine Regierung seither versucht, das Gesetz zu revidieren. Die Vereinten Nationen haben Brasilien schon mehrmals dazu aufgefordert, dies zu tun. Stattdessen wurde die Amnestie 2010 vom obersten brasilianischen Gericht bestätigt.

Immerhin erließ die Regierung von Präsident Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) im Jahr 1995 ein Gesetz, das die offizielle Anerkennung beinhaltete, dass der Staat für den Tod von 136 Bürgern verantwortlich war und Entschädigungen auszahlen musste. Bis heute wurden 11.000 Personen finanziell entschädigt.

Cardosos Nachfolger Luiz Inácio „Lula“ da Silva (2003-2010) unterzeichnete 2009 das Dritte Nationale Menschenrechtsprogramm mit mehreren hundert Empfehlungen und dem Vorschlag, eine Wahrheitskommission zu bilden. Der damalige Verteidigungsminister und die Kommandierenden der drei Streitkräfte drohten daraufhin mit Rücktritt. Lula fügte sich schließlich dem Druck und ließ den Text noch einmal überarbeiten.

Brasiliens Vergangenheitsbewältigung steht demnach erst am Anfang. Die Bilanz fällt dürftig aus. Anstatt Menschenrechtsverbrecher zu bestrafen, sei die Straffreiheit juristisch abgesegnet worden, zitiert die Tageszeitung „Folha de São Paulo“ Tim Cahill, den Brasilien-Experten von Amnesty International. Der Begriff „politische Repression“ ist tabu. Doch wie kam es zu dieser Sonderrolle Brasiliens?

Das brasilianische Regime unterschied sich in mehrfacher Weise von den Diktaturen der anderen südamerikanischen Länder: Im Gegensatz zu diesen versuchte es, den demokratischen Schein zu wahren. Zum Beispiel blieb das Parlament bestehen, allerdings als Marionette der Militärs. Zudem fanden Wahlen statt, jedoch mit gefälschten Resultaten, einem mehrfach zugunsten der Machthaber umgeänderten Wahlsystem und nur zwei zugelassenen Parteien, Arena und MDB.

Einen weiteren Unterschied beispielsweise zu Argentinien, wo das Regime den Falkland-Krieg verloren und das Land in eine desolate wirtschaftliche Lage gebracht hatte, stellte der lange Transitionsprozess zur Demokratie dar. Die Öffnung verlief schrittweise. Sie begann nach der Amtszeit von Präsident Ernesto Geisel (1974-1979) unter João Baptista de Oliveira Figueiredo. Das Militär ging relativ stark aus diesem Übergang hervor. Der nach wie vor große Einfluss der Streitkräfte wurde deutlich, als sie Lula dazu zwangen, die Wahrheitskommission zu überarbeiten.

In Argentinien stellte die Mobilisierung der Zivilbevölkerung einen wichtigen Faktor für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dar. Gedenkstätten und Monumente wurden errichtet, ebenso in Chile. In Brasilien hingegen forderten nur wenige eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Regimes. Ein möglicher Grund könnte sein, dass die Repression das Leben der meisten Brasilianer kaum tangierte. Die Mehrheit der Folteropfer und Ermordeten entstammten der städtischen Mittelschicht. Sie waren Mitglieder linker Bewegungen. Ihnen fehlte die breite Unterstützung der Bevölkerung. Auch die antikommunistische Propaganda des Kalten Krieges hatte ihre Wirkung erzielt.

Mit der Einsetzung der „Commissão Nacional da Verdade“, der Nationalen Wahrheitskommission, im Mai 2012 durch Dilma Rousseff nach jahrelangen zum Teil polemischen Auseinandersetzungen, sollen die Verbrechen jener Zeit nun aufgeklärt werden. Das entsprechende Gesetz dazu hatte noch ihr Vorgänger Lula eingebracht. Die Kommission zur Aufklärung von Menschenrechtsverbrechen zwischen 1946 und 1988 soll bis Ende 2014 zu einem Ergebnis kommen. „Uns bewegt nicht Revanchismus oder Hass, auch nicht der Wunsch, die Geschichte umzuschreiben, aber der Wunsch zu zeigen, was geschehen ist“, sagte Rousseff. Der Kommission gehören sieben Mitglieder und 14 Assistenten an, darunter Anwälte, ehemalige Minister und Verfassungsrichter. Sie besitzt jedoch keine Kompetenzen zur Strafverfolgung. Das Amnestiegesetz von 1979 bleibt bestehen.

Valdemar Martins de Oliveira hat sein Schweigen gebrochen. Der ehemalige Armeeangehörige sagte in São Paulo vor der Wahrheitskommission aus, die mittlerweile einige hundert Zeugen angehört hat. Er berichtete detailliert über die Entführung und Ermordung des Ehepaares João Antonio dos Santos Abi-Eçab und Catarina Abi-Eçab. Die beiden Philosophiestudenten und Mitglieder der ALN wurden verschleppt, gefoltert und anschließend von Oberst Freddie Perdigão mit Kopfschüssen hingerichtet. Perdigão war der erste Kommandant des berüchtigten DOI-CODI, des Sonderkommandos für Informations-
operationen.

Chef des DOI-CODI-Folterzentrums in São Paulo war Carlos Alberto Brilhante Ustra. Wie so viele Schergen des Regimes zeigte er sich nicht reuig. Im Gegenteil: Vor der Wahrheitskommission sagte Ustra, er habe das Land gegen die „Diktatur der Linken“ verteidigt. Zudem beschimpfte er eines seiner einstigen mutmaßlichen Folteropfer, einen Abgeordneten der Grünen Partei. Ustra gehört auch zu den hohen Militärs, die in einem Manifest von Präsidentin Rousseff verlangten, ihren Ministern die Kritik an der Militärdiktatur zu verbieten. Bis vor nicht langer Zeit begingen sie feierlich den 31. März als Jahrestag des Putsches.

Zwar hat es in den vergangenen Jahren bereits Anklagen gegen Verantwortliche von Menschenrechtsverbrechen gegeben. Aber die Folterer genießen nach wie vor den Schutz des Amnestiegesetzes. Staatsanwälte fanden darin Lücken, so zum Beispiel in der Anklage gegen den ehemaligen Oberst Sebastião Curió Rodrigues de Moura, dem die Entführung und Folter von fünf Guerilla-Mitgliedern vorgeworfen wird. Die Leichen der Opfer wurden nie gefunden. Das Amnestiegesetz kommt deshalb nach Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht zur Anwendung.

Bisher ist keiner der „Pyjama-Generäle“, wie die pensionieren hohen Militärs genannt werden, oder einer ihrer Schergen verurteilt worden. So auch nicht Coronel Ustra, der im Dezember 1972 Maria Amélia de Almedia Teles und deren Mann César Augusto Teles folterte, ebenso Amélia, die im siebten Monat schwanger war. Familie Teles hat 2008 gegen Ustra geklagt. Strafrechtlich blieb er ungeschoren. Aber zivilrechtlich ist die Lage eine andere: Seither darf Ustra „Folterer“ genannt werden.

Bustos Domecq berichtet für die woxx aus Brasilien und Argentinien.


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