BONG JOON-HO: Gnadenlos

Der Koreaner Bong Joon-ho verbindet in „Snowpiercer“ Katastrophenfilm mit Gesellschaftssatire, Science-Fiction mit Action und Computerspiel mit Klassenkampf-Thriller. Ein gelungenes Experiment.

Kämpfen sich an die Spitze des Zugs: Chris Evans und Song Hang-ko.

Wir schreiben das Jahr 2031. Nachdem die Regierungen von 79 Staaten sich im Jahr 2014 darauf geeinigt haben, ein Kältemittel in die oberen Schichten der Erdatmosphäre zu schießen, um die globale Klimaerwärmung aufzuhalten, was aber schiefging, ist (fast) alles Leben auf dem blauen Planeten ausgelöscht. Eine neue Eiszeit hat Besitz von der Erde ergriffen. Die einzigen Überlebenden sind Gefangene in einem Zug, der unentwegt seine Runden um die Erde dreht und den sie nicht verlassen können. An Bord des Zuges wurde unter der autoritären Führung des früheren Unternehmers und Perpetuum Mobile-Erfinders, Wilford, eine gnadenlose Klassenherrschaft installiert. In den vorderen Abteilen dieser futuristischen Arche Noah leben einige Privilegierte in Saus und Braus, während die bettelarme Mehrheit der Überlebenden mit Waffengewalt von Soldaten in den hinteren Abteilen festgehalten wird. Drakonische Bestrafungen für kleinste Vergehen, Nahrungsmangel und Gehirnwäsche bestimmen das Leben der auf engstem Raum eingepferchten Armen. Nachdem einige Kinder aus den hinteren Abteilen von Soldaten entführt werden, gibt es Tumulte. Der schweigsame Curtis (Chris Evans) und der Heißsporn Edgar (Jamie Bell), unterstützt durch den früheren Politiker Gilliam (John Hurt) und den Sicherheitsexperten Namsoong (Song Hang-ko) sowie dessen Tochter (Ko Ah-seong), beschließen, mit einer kleinen Gruppe in die vorderen Abteile des Zuges durchzubrechen und Wilford die Kontrolle zu entreißen.

Snowpiercer ist der erste englischsprachige Film des südkoreanischen Regisseurs Bong Joon-ho, unter dessen Regie unter anderem der Monsterfilm „The Host“ und das Thrillerdrama „Mother“ entstanden sind. Der Film basiert auf den Comics „Le Transperceneige“ von Jacques Lob, Benjamin Legrand und Jean-Marc La Rochette. Die 40-Millionen-Produktion zog in der Heimat des Regisseurs 2013 fast zehn Millionen Zuschauer an. International bekannt wurde Snowpiercer vor allem durch Hollywood-Mogul Harvey „Scissorhands“ Weinstein, Besitzer der Verleihrechte für die USA und andere englischsprachige Länder, der seinem Spitznamen alle Ehre machte, indem er etwa 20 Minuten aus dem Film herausschneiden ließ. Man könne einem „Publikum in Iowa“ Bongs Gesellschafts- und Zukunftsvision nicht zumuten, befand Weinstein und bescherte dem Film damit eine willkommene Publicity.

Bong Joon-hos Science-Fiction-Drama hat es in sich. Unterhaltsam, actionreich und episch ist es – und mindestens genau so sozialkritisch, nuanciert und vielschichtig. Der Film bleibt, ähnlich wie der Zug, in dem sich alles abspielt, ständig in Bewegung, und das mit atemberaubender Geschwindigkeit. Ähnlich einem Videospiel lauern in jedem der verschiedenartig und auffällig dekorierten Waggons des Zuges neue Herausforderungen auf die Rebellengruppe, die sich mit teils archaischer Gewalt ihren Weg an die Spitze bahnt. Brutale Kampfszenen auf engstem Raum, bei denen das Blut nur so spritzt, wechseln sich ab mit Szenen, in denen intelligente, sozialkritische Dialoge geführt werden. Der Regisseur versteht es meisterhaft, durch das Wechselspiel von klaustrophobischer Enge des Zugs und der Kälte der tödlichen Außenwelt im Zuschauer ein Gefühl der Beklemmung zu erzeugen. Snowpiercer ist ein Film, der gnadenlos wachrüttelt, der mit einer unglaublichen Liebe zum Detail Parallelen zur kapitalistischen Klassengesellschaft aufzeigt und der vor Augen führt, was Armut und Unterdrückung aus Menschen machen, die mit dem Rücken zur Wand stehen. Dabei werden Gut-Böse-Schemata lobenswerterweise vermieden. Bong Jong-ho verbindet Science-Fiction mit packenden Actionszenen und einer scharfsinnigen Sozialkritik. Zu kritisieren ist eigentlich nur – abgesehen von der teilweise technisch wenig anspruchsvollen Darstellung der Schneelandschaft -, dass die (Anti-) Helden fast allesamt (weiße) Männer sind. Gute SchauspielerInnen, eine pulsierende Computerspiel-Dramaturgie und eine beklemmende Gesellschaftsanalyse machen diesen sehr eigensinnigen Film überaus sehenswert.

Im Ariston, Ciné Waasserhaus, Kursaal und Utopolis Kirchberg.


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