JUGENDARBEITSLOSIGKEIT: Hässliche Narben

Die Jugendarbeitslosenquote in Europa bricht – auch in Luxemburg – einen Rekord nach dem anderen. Die Stelle der „Null-Bock-Generation“ von einst hat die „Null-Job-Generation“ von heute eingenommen.

No Jobs? No Future! Bild des Graffitikünstlers Banksy (FOTO: Peter Schlehmil, tumblr)

„Wir denken nicht in Wahlterminen, wir denken an die jungen Leute von heute, die das Land von morgen prägen werden. Wir denken an die Kinder, an die Schüler, an die Auszubildenden und die Studenten“ verkündete Premierminister Xavier Bettel in seiner ersten Rede zur Lage der Nation. „Die Schüler und Studenten sind heute mit einem Gefühl konfrontiert, das ihre Eltern und großen Geschwister nicht kannten: Sie haben ernsthafte Bedenken, ob sie nach ihrer Ausbildung eine Arbeit finden.“

Zwischen 2001 und 2013 stieg die Arbeitslosenquote bei den unter-25-Jährigen in Luxemburg von 6,2 auf 19,9 Prozent. Im europäischen Durchschnitt lag sie 2013 bei 23,5 Prozent. Die allgemeine Arbeitslosenquote betrug im Februar 2014 7,1 Prozent. Rechnet man die Menschen in Beschäftigungsmaßnahmen hinzu, kommt man auf die rekordverdächtige Quote von neun Prozent. 19.147 Menschen waren im Februar 2014 arbeitslos gemeldet. Die Zahl der Schulabbrecher nahm zwischen 2007 (12,5 Prozent) und 2010 (4,1 Prozent) drastisch ab, danach aber wieder zu; 2012 waren es schon wieder 8,1 Prozent. Auf EU-Ebene lag ihr Anteil im selben Jahr bei 12,8 Prozent. Spitzenreiter bei der Jugendarbeitslosigkeit in Europa war 2013 Griechenland mit einer Arbeitslosenquote von 62,5 Prozent bei den 15- bis 24-Jährigen, dicht gefolgt von Spanien (56,4 Prozent) und Portugal (42,5 Prozent). Das Schlusslicht bildete Deutschland mit 7,5 Prozent. Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie des Ceps-Instead fingen 2008 46 Prozent der Berufsanfänger mit einem befristeten (CDD) und 42 Prozent mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag an. 12 Prozent starteten als Zeitarbeiter ins Berufsleben.

Erhebliches Konfliktpotenzial

Manon* ist 22. Sie ist Luxemburgerin. Ihr Vater ist Staatsbeamter, ihre Mutter Grundschullehrerin. In der Schule zählte sie nicht zu den Stärksten, vor allem die französische Sprache machte ihr zu schaffen. Mit 15 fing sie eine Ausbildung zur Verkäuferin an, die sie erfolgreich absolvierte. Nach dem Abschluss bekam sie jedoch keinen festen Arbeitsvertrag. Das sei die Regel, sagt sie, die Arbeitsgeber hätten lieber Auszubildende, da die billiger seien. Ein Jahr lang fand sie überhaupt keine Arbeit. Ihre Zeit verbrachte sie vor der Playstation oder draußen mit ihren Freunden und Freundinnen. Dann fand sie doch eine als Autoverkäuferin, mit einem befristeten Arbeitsvertrag über ein Jahr. Mit dem Chef und ihr wollte es leider nicht so recht klappen. Für einen Mindestlohn arbeiten und sich dann auch noch ständig vom Chef zurechtweisen lassen, darauf habe sie keine Lust, sagt sie. Nach drei Monaten kam es, wie es kommen musste: Sie geriet in Streit mit dem Arbeitgeber, wurde ausfallend, knallte die Tür zu. Schon am nächsten Morgen lag die Kündigung auf dem Tisch. Dann arbeitete Manon wieder sechs Monate lang gar nicht. Vor kurzem hat sie einen Job als Lieferbotin gefunden, für sechs Monate. Sie hat unterschrieben. Allein im Auto unterwegs, das gefällt ihr. Kein Chef, der ihr auf die Nerven geht, nur manchmal nervige Kunden. Aber es ist ja eh nur für sechs Monate, sagt sie. Sie findet es ungerecht, dass so viele Ausländer und Grenzgänger hier in Luxemburg arbeiten, während die Luxemburger arbeitslos sind. Nicht, dass sie eine Rassistin sei, auch als rechts will sie nicht betrachtet werden, aber ungerecht findet sie die Lage trotzdem. Für die Zukunft hofft sie, eine Stelle beim Staat zu ergattern, oder bei der Post oder der Eisenbahn. Eine feste Stelle, wo sie keine Überstunden machen muss und ihr niemand auf die Füße tritt. Auf die letzte Stelle beim Staat, auf die sie sich beworben hat, bewarben sich über 50 Interessenten. Sie lebt bei ihren Eltern.

„Länger andauernde Jugendarbeitslosigkeit ist im späteren Verlauf des Erwerbslebens keine Schürfwunde, die schnell verheilt, sondern verbleibt als hässliche Narbe für das ganze Erwerbsleben (und darüber hinaus), also rund ein halbes Jahrhundert lang. Denn die Betroffenen haben zeitlebens geringere Arbeitsplatzchancen und tragen das Risiko niedrigerer Einkommen, wie zahlreiche internationale Studien belegen“ schrieb Wolfgang Franz, bis Februar 2013 Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen. Auch auf Familie und Familienleben hat die Jugendarbeitslosigkeit Auswirkungen. Pierre Weimerskirch sagt dazu im Sozialalmanach 2014: „Familienwerte sowie die Beziehung zwischen den Partnern oder auch zwischen Eltern und Kindern können durch Jugendarbeitslosigkeit in Mitleidenschaft gezogen werden.“ Er macht die Arbeitslosigkeit für den Rückgang bei den Eheschließungen und der Geburtenrate „zum Teil mitverantwortlich“ und erklärt das durch „das mangelnde Wohlbefinden und Sicherheitsgefühl für die Zukunft“. Auch dass junge Arbeitslose wieder von ihren Eltern abhängig werden, empfindet er als problematisch: „Da junge Arbeitslose meist keine Ersparnisse haben, werden sie vor allem finanziell abhängig von der Familie, was erhebliches Konfliktpotenzial mit sich bringen kann. Die Eltern können durch ihr Entgegenkommen wieder Mitspracherecht einfordern und teilweise Druck auf ihre Kinder ausüben.“ Eine Eurofound-Studie zum Thema zeigt, dass 2011 48 Prozent der 18- bis 29-Jährigen in Europa noch oder wieder bei ihren Eltern lebten, vier Prozentpunkte mehr als 2007, vor der Krise. Fast die Hälfte der Befragten wohnte in „Haushalten, die mit Geldsorgen und Entbehrungen zu kämpfen haben“ und über ein Viertel konnte sich weder Urlaub noch Möbel leisten und keine Gäste zu sich nach Hause einladen.

Sozialer Absturz und Demotivation

Alen* ist 25 Jahre alt. Mit acht Jahren verließ er [mit der Familie] seine Heimatstadt Sarajevo in Bosnien als Folge des Bürgerkriegs. In der luxemburgischen Schule hatte er es schwer, vor allem mangelnde Sprachenkenntnisse machten ihm zu schaffen. Mit 16 verließ er die Schule ohne Abschluss. Was dann folgte, könnte man als Teufelskreis bezeichnen. In Esch, wo er seine Jugend verbrachte, kam er früh mit Drogen in Kontakt. Nach seinem Schulabgang wurde der Drogenkonsum zu einer Konstanten in seinem Leben. Seine ersten Berufserfahrungen bestanden aus Gelegenheitsjobs als Küchengehilfe, im Wohnungsbau oder als Verkäufer bei einer Tankstelle. Er hatte noch nie einen unbefristeten Arbeitsvertrag, arbeitete noch nie länger als ein Jahr für denselben Arbeitgeber. Mal konnte er einen auf sechs Monate befristeten Vertrag ergattern, mal musste er sich monatelang mit Jobben über Wasser halten. Dazwischen bekam er immer wieder Arbeitslosengeld. Die Drogen wurden immer wichtiger für ihn, er rauchte Gras, trank Alkohol in rauen Mengen, konsumierte Kokain, Ecstasy, Speed und Crack. Mit 19 absolvierte er eine sechsmonatige Alkoholentzugstherapie. Vor zwei Jahren wurde er im Zuge einer Arbeitsmaßnahme eingestellt, arbeitete fast ein Jahr lang bei einer Gemeinde. Doch seine Sucht holte ihn wieder ein. Er konsumierte auch während der Woche harte Drogen und kam morgens immer öfter nicht aus dem Bett. Schließlich wurde er gekündigt. Im Sommer letzten Jahres bekam er Post vom Ministerium. Wenn er bis Oktober keine Arbeit gefunden haben sollte, würde ihm keine neue Aufenthaltsgenehmigung ausgestellt, hieß es darin. Ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung keine Arbeit, sagten ihm die Arbeitgeber, bei denen er anklopfte. Im September versuchte Alen* zweimal, sich das Leben zu nehmen, wurde beide Male in letzter Sekunde von seinem Mitbewohner gerettet. Jetzt versucht er, von den Drogen loszukommen, treibt täglich Kampfsport. Er hat einen Arbeitgeber gefunden, der ihm versprochen hat, ihn einzustellen, sobald eine gültige Aufenthaltsgenehmigung vorliege. Aller Wahrscheinlichkeit nach erhält er die demnächst und kann dann den Arbeitsvertrag unterschreiben. Für sechs Monate.

Die Auswirkungen von Jugendarbeitslosigkeit und Prekarität sind vielfältig. So spricht Pierre Weimerskirch im Sozialalmanach 2014 von „sozialen, psychologischen und physischen Folgen“. „Arbeitslosigkeit kann bei Jugendlichen zu einem Unwohlbefinden führen, das bezüglich der Jobsuche mit Demotivation einhergeht; derart, dass die Betroffenen die Suche und auch die Hoffnung aufgeben“. Weimerskirch zitiert aus „Politik und Jugendarbeitslosigkeit“ von Siegmund Natschke: „Resignative Stimmung und soziale Isolation verschlechtern aber die Arbeitsmarktchancen noch einmal, was nicht selten einen Teufelskreis entstehen lässt.“ Auch auf die Verflechtungen von Jugendarbeitslosigkeit und Kriminalität sowie Drogenmissbrauch weist Weimerskirch hin. In der Tat stellt zum Beispiel Professor Dieter Henkel vom Institut für Suchtforschung der Fachhochschule Frankfurt am Main fest, dass Suchtprobleme unter Arbeitslosen „deutlich stärker verbreitet“ sind als bei Erwerbstätigen. Er unterstreicht, dass Suchtprobleme einerseits das Risiko erhöhen, arbeitslos zu werden und zu bleiben und dass andererseits Arbeitslosigkeit die Entwicklung von Suchtproblemen „begünstigt“. Sie verursache „eine Minderung des Selbstwertgefühls, Depressivität, den Verlust sozialer Kontakte“ und eine „erschwerte Bewältigung jugendtypischer Entwicklungsaufgaben infolge der verlängerten Abhängigkeit von den Eltern“. Verglichen mit der Erwerbstätigkeit gingen von der Arbeitslosigkeit höhere Risiken für die Herausbildung bzw. Verschlimmerung von Suchtproblemen aus. In Griechenland wird Professor Henkels These aktuell bestätigt: „Sisa“ heißt eine neue Droge, die aus billigen Chemikalien hergestellt wird und unter anderem mit Batteriesäure gestreckt wird. Das „Kokain der Armen“ ist für wenig Geld zu haben und wird meistens gespritzt. Die Zahl der Drogentoten hat, seit „Sisa“ im Umlauf ist, massiv zugenommen, die der HIV-Neuinfektionen ist zwischen 2011 und 2012 um 50 Prozent gestiegen.

Gefährdung der Demokratie

Paolo* ist 23 Jahre alt. Er ist in Luxemburg aufgewachsen, seine Mutter ist Französin, sein Vater Italiener. Seit der Scheidung seiner Eltern, der diverse Gewalttaten des Vaters vorausgegangen waren, hat er zu Letzterem keinen Kontakt mehr. Seine Schulkarriere war alles andere als glänzend. Mit 16 Jahren brach er die Schule ohne Abschluss ab. Stark angezogen vom Geld und ohne Aussicht auf einen Job, begann er, Drogen zu verkaufen. Er wurde erwischt, landete in Untersuchungshaft. Nach sieben Monaten im Gefängnis wurde er noch vor seinem Prozess von heute auf morgen entlassen. Nachdem er eine Zeit lang untergetaucht war, zweimal nicht zum eigenen Prozess erschien und zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, stellte er sich dem Verfahren und wurde schließlich in letzter Instanz zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Drogen verkauft er nicht mehr, hält sich stattdessen mit Gelegenheitsjobs über Wasser, arbeitet mal als Barmann, mal als Möbelpacker. Auch bei einer Zeitarbeitsfirma hat er sich angemeldet. Für alle Jobs, die man ihm vorschlug, war der Besitz des Führerscheins nötig. Ohne Arbeit kann er sich den aber nicht leisten. Er geht regelmäßig zum Arbeitsamt, doch Arbeit gibt es für ihn nicht. Ohne Abschluss, auf Bewährung verurteilt, ohne Führerschein ? seine Voraussetzungen sind denkbar schlecht. Mit dem Dealen will er nie wieder anfangen, aber Perspektiven hat er auch keine. Vor kurzem nahm er eine Arbeit an, in einer Bar, schwarz, versteht sich. Nach zwei Wochen tauchte er dort nicht mehr auf. Der Chef habe ihn behandelt wie das Allerletzte, sagt er, und er habe zwischen zehn und zwölf Stunden am Tag arbeiten müssen. Zum Glück kann er weiterhin bei seiner Mutter wohnen und muss keine Miete zahlen. Von den Politikern erwartet Paolo* nicht viel. Zu nichts zu gebrauchen seien die, meint er, wer Hilfe wolle, der müsse sich schon selber helfen.

Thomas Steling, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Madrid, spricht in einem Interview mit der deutschen Tagesschau von einer „Gefährdung der Demokratie“ durch die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Spanien. „Was will man denn von diesen Menschen erwarten? Dass sie jubelnd über die Straßen laufen und rufen: ?Soziale Marktwirtschaft hat sich bewährt!'“ entrüstet er sich. Er erklärt: „Wenn man dann noch sieht, dass es denjenigen in Politik, Wirtschaft und Banken, die die Krise verursacht, sie nicht verhindert oder von ihr profitiert haben, weiterhin besser geht als denen, die jetzt die Rechnung bezahlen müssen, dann schwindet das Vertrauen notgedrungen.“

Xavier Bettel kündigte in seiner Rede zur Lage der Nation an, im Juni diesen Jahres würde das Jugendgarantie-Projekt anlaufen. Innerhalb von vier Monaten soll jedem jugendlichen Arbeitslosen eine Arbeit, eine Ausbildungsstelle oder ein Platz in einer Schule angeboten werden. Er erklärte: „Das, was seit einigen Jahren als Krise bezeichnet wird, ist inzwischen die neue Realität. Wir können den alten Realitäten nachtrauern oder uns mit den neuen auseinandersetzen. Die jungen Leute machen das schon heute.“

*Namen geändert


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