Letzte Ausfahrt Europa

Muss man lieben, was man für vernünftig hält? Ein Kongress der Berliner Tageszeitung „taz“ versuchte auszuloten, welche Perspektiven des Politischen die Europäische Union umfasst.

Immer ran an die Bewegung! „taz“-Chefredakteurin Ines Pohl post mit Aktivisten gegen das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA (TTIP). (Foto: Mehr Demokratie / Flickr)

Er liebe keine Staaten, er liebe seine Frau, meinte vor langer Zeit der deutsche Präsident Gustav Heinemann. Damit war zu diesem Thema eigentlich alles gesagt. Bis die in Berlin erscheinende Tageszeitung taz jetzt einen von ihr veranstalteten Kongress „I love EU – Solidarität ist machbar“ nannte. Muss man die EU wirklich lieben? Trotz Troika und Bankenrettung? Trotz Lampedusa, Orbán und Energiesparbirnen? 160 Politiker, Journalistinnen, Aktivisten, Wissenschaftlerinnen und Musiker sollten am vergangenen Samstag auf 70 Panels und Bühnen im Berliner Haus der Kulturen für Klärung sorgen.

Zweifellos ist schwer nachvollziehbar, wie Veranstaltungen zu Rechtspopulismus, zur Klimapolitik oder zur Eurokrise Liebesgefühle hervorrufen sollen. Und die Solidarität? Auch damit sieht es, folgte man einem Podiumsgespräch zum „Asylrecht, das keiner beanspruchen soll“, eher schlecht aus. Erst am Dienstag beschloss das Brüsseler Parlament neue Regeln für die Seenotrettung. Demnach dürfen Flüchtlinge künftig auf internationalen Gewässern nicht mehr zurückgewiesen werden – nicht zuletzt als Reaktion auf die Bilder der etwa 400 Ertrunkenen vor der italienischen Küste im vergangenen Oktober. Dafür sollen sie jetzt gleich auf dem Mittelmeer abgefangen und in angeblich sichere Drittstaaten zurückgebracht werden. In Länder also, die wie etwa die Türkei kaum Sicherheit für Flüchtlinge garantieren. Um den Schutz der Menschen geht es bei Einsätzen der EU-Grenzschutzagentur Frontex natürlich nicht, wie Laura Maikowski von der Gruppe „Watch the med“ („Augen aufs Mittelmeer“) auf der Konferenz klarstellte: „Die Routen sind gefährlicher geworden.“

Solidarität in der EU sieht eben anders aus. So berichtete die deutsche Linken-Europaabgeordnete Gabi Zimmer, wie sich ihre konservativen Kollegen der EVP-Fraktion im Parlament solidarisch hinter den ungarischen Staatschef Viktor Orbán stellen – ein Mann, der die journalistische Freiheit einschränkt, Obdachlose kriminalisiert und die Rechtsradikalen der Jobbik-Partei offen gegen Juden und Roma hetzen lässt. Das alles lässt sich nicht mit den Grundrechten der EU in Einklang bringen. Nähme man die Regeln ernst, müsse ein Vertragsverletzungsverfahren Orbán in die Schranken weisen oder Ungarn einfach aus der Union werfen. Dank seiner konservativen Freunde muss er aber nicht mit ernsthaften Konsequenzen rechnen. „Die Glückwünsche an Orbán sprachen für mich Bände“, beschreibt Zimmer die Stimmung beim Besuch des ungarischen Staatschefs im Parlament. Seine Botschaft sei vor allem in die Heimat gerichtet gewesen: „Ich kämpfe für euch.“

Was spräche mehr für die EU als der Vorwurf des iranischen Politikers Laridschani, im Iran Homosexualität und Promiskuität zu verbreiten?

Warum also die große Aufregung über ein paar Nazis in der ukrainischen Revolutionsregierung?, fragt sich folgerichtig Daniel Cohn-Bendit. Auch in der französischen Resistance hätten sich von Stalinisten bis Faschisten alle gegen Hitler zusammengeschlossen, „trotzdem würde wohl keiner hier die Resistance kritisieren“. Und warum eigentlich ausgerechnet Linke nun plötzlich so auf Differenzierung drängten, die doch sonst mit jedem Opfer des Imperialismus mitfühlten. Zack, da war er wieder, „Dany“, der alte Rhetoriker, der im Gegensatz zu manchen seiner grünen Parteifreunde nicht moralisch, sondern politisch erklären kann, warum er die Maidan-Bewegung unterstützt hat. Auch wenn, wie taz-Redakteur Stefan Reinecke zu Recht kritisiert, seine historischen Vergleiche nicht unbedingt taugen. Den Grünen in Brüssel wird ihr Fraktionschef jedenfalls fehlen, wenn er nach den Europawahlen im Mai das Parlament nach 20 Jahren verlässt und zunächst während der Fußball-WM in Lateinamerika ein Road-Movie drehen will.

Aber vielleicht kann´s ja Sven Giegold richten. Die Eurokrise hat dem ehemaligen Attac-Vorkämpfer und Spitzenkandidaten der deutschen Grünen reichlich Aufschwung verschafft. Auf dem Kongress stritt er mit Sahra Wagenknecht darüber, ob der Euro noch zu retten sei. Beide wollten die Frage nicht so recht beantworten. Aber klar sei, so die stellvertretende Chefin der deutschen Linken, dass die rot-grüne Agenda 2010 wesentlich zur Krise beigetragen habe: „Deutschland hat den Euro angegriffen.“ Dann sprach sie von den Konsequenzen, die das deutsche Lohndumping auf die europäische Stabilität gehabt habe. Eine gemeinsame Währung, betonte sie, sei nur mit gemeinsamen Sozialstandards möglich. Giegold dagegen hält „die Erzählung“, allein Deutschland sei für die Krise verantwortlich, für falsch und verweist auf unverantwortliche Kreditvergaben in verschiedenen Teilen der Welt. Und auf eine Politik, die das alles zugelassen habe. Wagenknecht sorgte in der Vergangenheit für Aufregung, weil sie die Möglichkeit eingeräumt hatte, dass Staaten wie etwa Griechenland aus dem Euro aussteigen könnten, um ihre Krise zu überwinden. Auch jetzt ließ sie diese Option offen. Dass sie damit rechten Anti-EU-Kräften in die Hände arbeite, will sie sich jedoch als Internationalistin nicht vorwerfen lassen.

Aber wäre die Rückkehr zu nationalen Währungen nicht ein Rückschritt, der auch die Bedingungen für grenzüberschreitende soziale, ökologische und politische Basiskämpfe verschlechtern würde? In der „Le Monde Diplomatique“ beschäftigte sich jüngst der französische Philosoph Étienne Balibar mit den Zerfallserscheinungen, die innerhalb der EU zu beobachten sind. Im Gegensatz zu einigen europäischen Linken spricht er sich gegen jedes Ausstiegsszenario aus und macht sich für „ein Europa des Konflikts zwischen sich widersprechenden Gesellschaftsmodellen und nicht zwischen Nationen auf der Suche nach ihrer verlorenen Identität“ stark. Das europäische Projekt sei an den Rand des Abgrunds geraten, weil es als Instrument zur Durchsetzungen der Logik des weltweiten Wettbewerbs genutzt werde, anstatt einen Raum der Solidarität zu schaffen. Ist das die Solidarität, die der Kongress versprach? Die EU als Basis, auf der grenzübergreifend gesellschaftliche Kämpfe ausgefochten werden, ohne das europäische Projekt in Frage zu stellen?

Aber möglicherweise will die EU ohnehin bald keiner mehr haben. Angesichts der katastrophalen sozialen Folgen der Troika-Politik fragen sich in den EU-Anwärterstaaten immer mehr Menschen, ob sie tatsächlich diesem „Polo-Club“, wie der serbische Autor Vladimir Arsenijevi? die EU bezeichnete, beitreten wollen. Rund 70 Prozent der jungen Serben fühlten sich eher Russland zugeneigt, meinte er. Und taz-Redakteur Deniz Yücel, der die Rebellion in der Türkei im vergangenen Sommer begleitete, erklärte: „Gezi war kein Aufstand für Europa.“

Auch in der EU steigt die Ablehnung: Mindestens 20 Prozent der Sitze im Europäischen Parlament dürften nach den Wahlen von Rechtspopulisten besetzt werden, die sich gegen die EU aussprechen. Es ist damit zu rechnen, dass der französische Front National, Geert Wilders holländische Partei der Freiheit, die ungarische Jobbik-Partei und andere eine Anti-EU-Allianz schmieden, die einer demokratischen Entwicklung noch mehr im Weg steht als alles, was die Konservativen bislang vorgelegt haben. Einige Themen, mit denen die EVP schon jetzt hausieren ging, dürften dann eine noch gefährlichere Schlagkraft entwickeln. Etwa die Hetze gegen Roma oder die Politik der Abschottung an den Außengrenzen.

Wie das geht, stellte der Chefredakteur der Schweizer „Weltwoche“ Roger Köppel zur Schau. Der selbst ziemlich rechts ausgerichtete Journalist diskutierte auf dem Kongress über das „Vorbild Schweiz“, über das erfolgreiche Referendum zum Stopp der Einwanderung und die Frage, ob „Rechtspopulisten“ die EU zerstören. Dabei ließ er keinen Zweifel daran, dass er die EU für eine „intellektuelle Fehlkonstruktion“ hält. Aufsehen erregte er jedoch aus einem anderen Grund. Denn bis heute bereitet es Köppel „keine Kopfschmerzen“, wie er sagte, dass sein Blatt mit einem Foto titelte, das einen Roma-Jungen zeigte, der mit einer Pistole auf den Betrachter zielte. Darunter war zu lesen: „Die Roma kommen.“

Antiziganismus, Frontex, Jobbik, Bankenrettung ? das klingt alles nicht sehr sexy und wird dem Kongress auch nicht gerecht. Denn dort sprach man auch über Euroglobale Musik, „Bruttosozialglück für alle“, die Lust am Kampfsport oder „nichtheterosexuelle Liebe in (Ost-)Europa“. Und man hörte alternative Europahymnen mit „Freude ohne Götterfunken“. Tatsächlich hat die EU für Schwule und Lesben, für Nonkonformisten, Basisdemokraten oder emanzipatorisch gesinnte Linke weiterhin mehr zu bieten als die autoritären Regimes zwischen Moskau, Kairo und Rabat. Trotz Orbán, trotz Troika. Und was könnte mehr für die EU sprechen als ein Vorwurf, den letzte Woche der iranische Justizchef Sadegh Laridschani machte: Er beschuldigte das Europaparlament, im Iran Homosexualität und Promiskuität zu verbreiten. Aber Heinemann hatte trotzdem Recht. Lieben muss man die EU dafür nicht.


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