GABRIEL GARCÍA MÁRQUEZ: Politischer Legendenerzähler

Mit seinem „magischen Realismus“ hat er die Literatur revolutioniert. Gabriel García Márquez vermochte auch den Westen mit seinen wunderbar-wirklichen Geschichten aus einer halbfernen Welt zu verzaubern. Sein Gesamtwerk ist Spiegelbild und Spiegelung der – auch blutigen – Realität Lateinamerikas. Politisch ein überzeugter Linker, ist Márquez sich bis zuletzt treu geblieben.

Adios Gabo! Gabriel García Márquez und die kolumbianische Kulturministerin Paula Moreno vor fünf Jahren auf dem internationalen Filmfestival in Guadalajara. Einem seiner letzten öffentlichen Auftritte.

„Gabo“, wie ihn seine VerehrerInnen und Freunde liebevoll nannten, wurde 1927 in Aracataca, der kolumbianischen Karibik-Region, geboren. Er gilt als Begründer des Magischen Realismus und ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Autoren des lateinamerikanischen Kontinents – oft wurde er als „Stimme Lateinamerikas“ bezeichnet. Zu Recht, gab er doch den Indigenen, die über Jahrhunderte unterdrückt wurden, eine Stimme und dem Kontinent durch seine phantastischen Erzählungen ein Gesicht.

Denn über Jahrhunderte galt die „Leyenda blanca“, wurde die Geschichte Lateinamerikas von Weißen, von den Kolonisatoren, konstruiert. Erst der Dominikaner Bartolomé de las Casas sollte diese Geschichtsdeutung infrage stellen und unter öffentlicher Anprangerung des Völkermords an den Indigenen für eine andere Geschichtsdarstellung – aus Sicht der Unterdrückten – kämpfen.

Bis zur Entstehung einer nicht geringschätzigen Darstellung der autochthonen Bevölkerung Lateinamerikas und einer objektiveren Geschichtsdeutung, wie sie Ernesto Sabato in einem Essay 1991(„Weder schwarze, noch weiße Legende“) in der Tageszeitung „El Pais“ forderte, war es ein langer Weg. García Márquez hat mit seinem Gesamtwerk zu ihr einen entscheidenden Beitrag geleistet, eben weil er – auf einem kritischen Geschichtsbewusstsein fußend – den Reichtum der Kulturen, ihrer Sprachen und ihrer Mythen hochschätzte und darüber zu schreiben wusste. So wie Márquez hat keiner es vermocht, die magische und immer auch blutige Realität Lateinamerikas, bewusst verklärend, einzufangen.

Über Jahrhunderte galt die „Leyenda blanca“, wurde die Geschichte Lateinamerikas von Weißen, von den Kolonisatoren, konstruiert.

Wer wissen will, was sich hinter seinem „magischen Realismus“ verbirgt und welche Absicht dahinter lag, kommt nicht an seiner Nobelpreisrede herum, die er 1982 mit deutlichem Widerwillen und in der traditionellen Tracht seiner Heimat, dem „liquiliqui“, dem karibischen Leinenanzug der Männer aus dem einfachen Volk, vor dem schwedischen Nobelpreis-Komitee hielt.

Es sind über Jahrhunderte überlieferte Mythen, die Márquez in dieser Rede als nicht versiegende Quelle seiner Inspiration beschreibt. Die Erzählungen seiner Großmutter liefern den Stoff seiner Romane. Geschichten magischer Fabelwesen, von Mysterien, wie das der 11.000 Esel, die einst mit Gold beladen aus Cuzco auszogen und nie ihren Bestimmungsort erreichten. Jahrzehnte später sollen an der Küste Perus Hühner mit Goldstücken in ihren Schnäbeln gesehen worden sein. Die Geschichten von heute generieren sich aus den Geschichten seiner (Ur-)ahnen, sagte Márquez, und diese war von jeher verbunden mit der jahrhundertelangen Geschichte von Ausbeutung, Unterdrückung und Einsamkeit, die ihren Ursprung in der blutigen „Conquista“ durch die Spanier hatte. Jener Eroberung oder, wie es der argentinische Autor Ernesto Sabato zutreffender formuliert hat, „dem Zusammentreffen zweier Welten“, bei der die Spanier die Kulturen, auf die sie stießen, ausplünderten, die Bewohner versklavten und damit den Grundstein zahlreicher blutiger Militärdiktaturen und der Herrschaft weißer Eliten legten, deren Willkür den Kontinent die folgenden Jahrhunderte über prägen sollte.

Márquez griff in seiner Nobelpreisrede nur einige wenige Beispiele dieser Militärdiktaturen auf – wie das eines Generals aus El Salvador, der in einem blutigen Massaker 30.000 Bauern niedermetzeln ließ. „Ein Land, das man mit allen Geflüchteten und denen, die aus Lateinamerika emigrieren mussten, gründen könnte, hätte eine größere Bevölkerung als Norwegen“, sagte Márquez. Einem seiner ersten Romane, „Der Oberst hat niemanden, der ihm schreibt“ (1961), liegt ein solches Szenario zugrunde. Aufgrund des herrschenden Militärregimes kommt das tägliche Leben zum Erliegen. In „Hundert Jahre Einsamkeit“ ist es eine nordamerikanische Bananenfirma, die „United Fruit Company“, die die Bevölkerung gnadenlos ausbeutet. Mit dem westlichen Fortschritt ziehen unweigerlich Begleiterscheinungen wie Umweltverschmutzung in den Alltag ein. Die vom Westen aufoktroyierten Denkmuster, so eine von Márquez‘ Thesen, hätten den Effekt, die Einsamkeit der Lateinamerikaner nur noch zu verstärken. Und vielleicht wäre Europa verständnisvoller, wenn es auf seine eigene Vergangenheit zurückblicken würde – schlussfolgert er und plädierte in seiner Nobelpreisrede für Solidarität mit seinem Kontinent.

Es sind über Jahrhunderte überlieferte Mythen, die Márquez in seiner Nobelpreis-Rede als nicht versiegende Quelle seiner Inspiration beschreibt.

Eine Solidarität, die in der Folge zum Leitmotiv vieler linker Bewegungen werden sollte. Das kleine Urwalddorf „Macondo“ aus seinem Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ wurde zur Chiffre für einen naturverwobenen Mikrokosmos, eine unberührte Welt, eine andere Zivilisation, nach der sich gerade Linke sehnten. Lateinamerika wurde zur Projektionsfläche ganzer Generationen. In einer Zeit des empfundenen politischen Stillstands, der imperialistischen Interventionen und Stellvertreterkriege und der Identifikation mit der Opferrolle gegenüber den USA war Lateinamerika das Andere, Ursprüngliche, die (vermeintlich) bessere Welt. Diese Sehnsucht vermochte Gabo mit seinen Romanen ein Stück weit zu stillen.

Es war aber nicht nur das Magische und Exotische, das Márquez‘ Werk so einzigartig machte und zur Stimme Lateinamerikas werden ließ. Es war vor allem seine klare politische Haltung, die unaffektiert – mit wesentlich weniger bedeutungsschweren intertextuellen Bezügen auf Westeuropa (wie man sie etwa bei Alejo Carpentier oder Mario Vargas Llosa findet) – und unverfälscht, sowie frei von Opportunismus wirkte.

Wenn es in den zahlreichen Nachrufen der Zeitungen der vergangenen Tage also abfällig heißt, er sei ein guter Kumpel des „Diktators Fidel Castro“ gewesen und habe sich später politisch mit seinem peruanischen Schriftsteller-Kollegen Mario Vargas Llosa überworfen, der ihn nach ihrem Zerwürfnis als „Höfling Castros“ und unverbesserlichen Linken bezeichnet haben soll – so sind dies nichts als hämische Anwürfe gegen einen aufrechten Mann, der seinen politischen Überzeugungen sein Leben lang treu geblieben ist. Nicht zufällig verweist Márquez in seiner Nobelpreisrede auf Pablo Neruda als Vorbild und Stimme der Unterdrückten und auf die Fülle an Militärdiktatoren, die den Kontinent über Jahrhunderte beutelten.  Denn dies war das andere Gesicht seines magischen Realismus, durch das er die Realität Lateinamerikas geradezu schonungslos authentisch und eben nicht nur magisch verklausuliert und verklärt darzustellen vermochte. Der Unterdrückung setzte er trotzig ein „Ja, zum Leben“ entgegen.

Die Welt zu verändern und die Liebe zum Schreiben sowie die Fertigkeit zu recherchieren weiterzugeben, war das, was er mit der Gründung seiner eigenen Journalistenschule im kolumbianischen Cartagena beabsichtigte, zu der gerade auch Menschen aus der Unterschicht Zugang haben sollten. Auf Kuba gründete er eine Filmakademie und setzte sich aktiv für die Förderung des lateinamerikanischen Films ein. Politisch Position bezogen hat er nicht nur, indem er sich immer wieder auch bei öffentlichen Anlässen an die Seite Fidel Castros stellte – denn in seiner Faszination für Kuba spiegelte sich seine eigene Sozialutopie wider -, sondern etwa auch, als er 1978 als Präsidentschaftskandidat der Linken zwischen der Guerilla-Bewegung „19 de Abril“ und der Regierung in Bogotá zu vermitteln suchte.

Die vom Westen aufoktroyierten Denkmuster, so eine von Márquez‘ Thesen, hätten den Effekt, die Einsamkeit der Lateinamerikaner nur noch zu verstärken.

Bereits in den 1950er Jahren hatte er als Korrespondent in Europa gearbeitet, nach der kubanischen Revolution für die Presseagentur „Prensa Latina“. In den 1970er Jahren schrieb er für die linke kolumbianische Wochenzeitung „Alternativa“, an deren Gründung er beteiligt gewesen war. Es gibt viele bunte Anekdoten über Gabo. Als „un caso perdido“, als hoffnungslosen Fall soll Alvaro Mutis ihn nach ihrem ersten Treffen bezeichnet haben. Sein kolumbianischer Schriftstellerfreund erzählte, wie sie sich in einer Bar trafen, Gabo hemmungslos mit der Kellnerin flirtete und, als es anfing zu schneien, elektrisiert von seiner ersten Begegnung mit Schnee in Südamerika, mit wilden Luftsprüngen aus dem Cafe stürmte. Mit dem Erfolg könne es bei so einem ungestümen Charakter nie etwas werden, meinte Mutis.

Erfolg, sogar Weltruhm war Gabo allerdings schon zu Lebzeiten beschieden. In den Romanen, die Ende der 1970er oder Anfang der 1980er Jahre entstanden, wird die Vielschichtigkeit seines Werkes deutlich. Neben „Hundert Jahre Einsamkeit“ zeichnet sich vor allem sein Kriminalroman „Chronik eines angekündigten Todes“ (1981) durch Scharfsinn aus. In ihm schildert Gabo die Bigotterie einer Dorfgemeinschaft, die den Mord an einem Mann, der die Familienehre beschmutzt haben soll, gleichmütig geschehen lässt. Auf den zahlreichen Etappen, die Santiago Nasar zurücklegt, bis er ermordet wird, schaut jeder bewusst weg und lässt so den Mord, der gesellschaftlich als gerechte Sühne, ja geradezu als Pflicht verstanden wird, geschehen. Der Roman zeigt aber auch, dass García Márquez, der freilich selbst ganz lateinamerikanischer Charmeur und Macho war und hier – wie auch in anderen
Romanen – diesen „machismo“ klar herausarbeitet (so finden in allen seinen Büchern Hahnenkämpfe statt!), keineswegs ein starres Frauenbild der Dichotomie „Heilige oder Hure“ folgend hatte. Wenngleich die Frauen in seinen Romanen oft Klatsch und Tratsch austauschen und im Wesentlichen häusliche Arbeiten verrichten, so gibt es in seinem Werk doch immer wieder auch starke, teilweise Amazonen-ähnliche Frauen, die ihren eigenen Weg entgegen den gesellschaftlichen Gepflogenheiten gehen und sich (selbst-)bewusst von Konventionen lösen. Seine Frauenfiguren sind so vielschichtige, eigenwillige Charaktere.

García Márquez folgte solange seiner Devise „Vivir para contar“ – leben, um zu erzählen – wie es seine geistige und körperliche Verfassung zuließ. Schwer krank verstarb er vergangene Woche im Alter von 87 Jahren in Mexiko-Stadt. Zu viel Aufhebens um seinen Tod wäre ihm sicher nicht recht, so wie ihm seinerzeit auch der Wirbel um den Literatur-Nobelpreis und sein öffentlicher Auftritt in Stockholm unangenehm waren. Im Gegensatz zu dem peruanischen Nobelpreisträger Vargas Llosa, dessen Werk von Roman zu Roman belehrender und bedeutungsschwerer wird, hat Gabo so – wenngleich durch äußere Zwänge – nicht den Zeitpunkt verpasst, mit dem Schreiben aufzuhören. „Man würde merken, dass er nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache sei“, begründete er seinen Entschluss. Bis zuletzt ist er seinen Überzeugungen treu geblieben – und repräsentierte, was er sein wollte: einen Mann aus einfachen Verhältnissen, „un hombre del pueblo“. Seine Vision eines sozialen, gerechten lateinamerikanischen Kontinents und seine Forderung an die Nachwelt, mit der er seinen Jahrhundertroman beendete – zugleich Fazit seiner Nobelpreisrede – bestehen aber fort: Dass die Länder Lateinamerikas, die zu Hundert Jahren Einsamkeit verdammt sind, endlich und für immer eine Chance auf Erden bekommen sollen.


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