TRAUMA HOLOCAUST: Der Schmerz der Generationen

Wie die Shoah auf mehreren Generationen einer Einwandererfamilie lastet, beschreibt der Brasilianer Michel Laub in seinem eindrucksvollen Roman „Tagebuch eines Sturzes“.

Hat einen Roman mit autobiographischen Zügen geschrieben: Der brasilianische Journalist und Schriftsteller Michel Laub.

João passt nicht dazu. Das bekommt er von Anfang an zu spüren. Seine Mitschüler an der jüdischen Schule von Porto Alegre quälen ihn. Sie werfen sein Pausenbrot auf den Boden oder spucken darauf. Oder sie graben ihn im Sandkasten ein. Doch am schlimmsten ist das, was an seinem 13. Geburtstag passiert. In guter alter Bar-Mizwa-Tradition werfen sie João 13 Mal in die Luft. Zwölf Mal fangen sie ihn auf, beim 13. Mal nicht. João bricht sich einen Wirbel. Er muss wochenlang im Krankenhaus bleiben und bekommt für mehrere Monate einen Streckverband.

Die Immigrationsgeschichte scheint auf den ersten Blick eine Erfolgsstory zu sein.

Weshalb wurde João gemobbt? Weil er aus der Unterschicht stammt oder weil er anders als seine Mitschüler kein Jude ist? Seine Mutter ist an Krebs gestorben, sein Vater, ein Omnibusschaffner, hat ihm den Besuch der jüdischen Schule ermöglicht. Das traumatische Erlebnis ist eine Schlüsselszene in Michel Laubs „Tagebuch eines Sturzes“. Der Roman des Brasilianers ist stark autobiographisch geprägt. Es liegt nahe, in dem Ich-Erzähler den 1973 in Porto Alegre geborenen Schriftsteller zu erkennen, der Jura und Journalismus studierte und danach zunächst als Rechtsanwalt arbeitete, bevor er als Journalist nach São Paulo ging.

Der Ich-Erzähler war unter jenen, die João fallen ließen. Er fühlt sich schuldig. Als einziger schämt er sich der Tat. Sein Gewissen plagt ihn. Er freundet sich mit João an, der einzigen Person, die in dem Roman beim Namen genannt wird, und will mit diesem zusammen die Schule wechseln. Doch sein Vater ist dagegen. Er will nicht, dass sein Sohn auf eine Schule der Gojim, der Nichtjuden, geht. Der Vater spricht von der „Spirale des Hasses, ausgelöst von dem Neid auf die Intelligenz, Willenskraft, Kultur und den Reichtum, den sich die Juden trotz aller Widerstände erarbeitet haben“.

Der Großvater der erzählenden Figur überlebte wie jener des Autors Auschwitz und wanderte nach dem Zweiten Weltkrieg per Schiff nach Brasilien aus. Er fand eine Stelle als Vertreter von Nähmaschinen und eröffnete ein eigenes Geschäft. Über seine Erlebnisse im Konzentrationslager hat er nie etwas erzählt. Er sprach nicht gern über Auschwitz. Er nahm sich das Leben, als der Vater des Ich-Erzählers 14 Jahre alt war. Der Vater übernahm den Betrieb und baute ihn aus. Die Immigrationsgeschichte scheint auf den ersten Blick eine Erfolgsstory zu sein. Doch die einzelnen Kapitel, die dem Großvater, dem Vater und dem Ich-Erzähler gewidmet sind, zeugen stattdessen von einem schweren Erbe, das auf Letzterem lastet.

Laub beschreibt dieses Erbe in seinem „Tagebuch eines Sturzes“, seinem fünften Roman. Was der Großvater erlebte, wirkte sich demnach auf den Enkel aus, obwohl er den Großvater nie kennengelernt hatte. „Das Haus des Großvaters habe ich nie betreten.“ Der Enkel, dem es materiell an nichts zu fehlen scheint, steckt in einer Krise. Seine dritte Frau will ihn verlassen. Er trinkt. Der fatale Sturz seines Mitschülers João hat für ihn traumatische Konsequenzen. Danach streitet er mit dem Vater, zu dem er sagt, „dass er sich Auschwitz und die Nazis und meinen Großvater in den Arsch schieben sollte.“ Der Vater verprügelt den Sohn, und dieser wirft einen schweren Gegenstand nach ihm, verfehlt ihn aber.

Der Vater, der später an Alzheimer erkrankt, leidet selbst an einer Traumatisierung durch den Selbstmord des Großvaters. Die Auswirkungen der Shoah sind über mehrere Generationen zu spüren. Psychologen nennen das Phänomen „transgenerationelle Übertragung“. Das Leben der Vorfahren prägt das eigene. Drei Generationen werden miteinander verwoben. Der Roman zeigt, wie schwer es ist, mit etwas Unausgesprochenem, mit jenem blinden Fleck, umzugehen. Erst der Enkel, der Tagebuchschreiber, fasst es in Worte, obwohl er schreibt: „Auch ich würde lieber nicht davon reden. Wenn die Welt etwas nicht braucht, so ist es, sich meine Ansichten zu diesem Thema anhören zu müssen. Das Kino hat sich damit beschäftigt. Bücher haben sich dessen angenommen.“

Kann man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben oder ist es barbarisch, wie Theodor W. Adorno einst behauptete? „Es ist einfacher, Auschwitz die Schuld zu geben“, schreibt Laub. Er zitiert „Ist das ein Mensch?“, Primo Levis autobiografischen Bericht aus dem Konzentrationslager. Levi verzichtet darin auf ein Urteil. Laub hingegen versucht eine Einordnung. Sein Ich-Erzähler rechtfertigt lange Zeit seine Unfähigkeit zu leben mit dem Trauma der Familie. „Weil du damit alles rechtfertigen kannst, auch die schlimmsten, abwegigsten Dinge, die zu gestehen du dir bis zum Ende aussparst.“ Bis er das Trauma als solches erkennt. Ausgehend vom Sturz des Mitschülers, beschreibt er seinen eigenen Sturz – oder besser: den Sturz seiner Familie.

Die Kapitel, nicht wie ein echtes Tagebuch chronologisch, sondern nach den Personen, auf die Bezug genommen wird, eingeteilt, heißen „Einige Dinge, die ich über einen Großvater weiß“ oder „Über meinen Vater“, „Über mich“ oder „Noch ein paar Dinge“. Nicht die Chronologie ist entscheidend, sondern die Erinnerung. Laubs Roman, gelungen übersetzt von Michael Kegler, der unter anderem auch Werke von Moacyr Scliar und Luiz Ruffato aus dem brasilianischen Portugiesisch ins Deutsche übertragen hat, handelt nicht zuletzt von dieser Erinnerung, zu der auch das Verdrängen gehört: Der Großvater gibt nichts von seinen Erinnerungen preis, außer in Notizen, der Vater erkrankt an Alzheimer. Und der Sohn will nicht immer wieder mit Auschwitz konfrontiert werden. Doch die Erinnerung, selbst wenn es nicht seine eigene ist, sie kehrt zurück.

Michel Laub – Tagebuch eines Sturzes. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler Klett-Cotta, 176 Seiten.


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