EUROPAWAHLEN: „Für eine soziale Troika!“

Die junge LSAP-Politikerin Cátia Gonçalves ist begeisterte Europäerin. Die Verbundenheit mit ihrer zweiten Heimat Portugal begründet ihre differenzierte Sicht auf die europäische Wirtschaftspolitik.

Cátia Gonçalves (29) kandidiert fürs Europaparlament, denn „Europawahlen sind eigentlich wichtiger als nationale Wahlen“. Die studierte Politologin zögert nicht, die Schwächen der EU-Politik zu kritisieren, wünscht sich aber eigentlich mehr Europa und mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.

woxx: Wie sind Sie dazu gekommen, sich politisch zu engagieren?

Cátia Gonçalves: Die ersten politischen Erfahrungen habe ich im Jugendparlament gesammelt, dessen Vizepräsidentin ich wurde – damals noch ohne Parteikarte. Ich habe mich dann entschieden, in die LSAP einzutreten. Schon vorher hatte ich mich für Politik interessiert, vor allem im Zusammenhang mit meiner Magisterarbeit über die beiden Abtreibungs-Referenden in Portugal. Beim Versuch, die damaligen Argumentationen nachzuvollziehen, wurde mir klar, dass ich mich eher im linken Spektrum befinde.

Sie wurden in den Petinger Gemeinderat gewählt, haben auch für die Chamber kandidiert … und stehen nun auf der Europaliste?

Europapolitik ist eigentlich meine erste Leidenschaft. Viele Gesetze, über die in der Chamber abgestimmt wird, gehen auf europäische Texte zurück. Wenn man auf die Gesetzgebung Einfluss nehmen will, sind Europawahlen eigentlich wichtiger als die nationalen. Ich kann dabei meine Kompetenzen wie Sprachkenntnisse und Erfahrungen im Ausland einbringen. Der Aufbau der EU, der Zusammenschluss von einst verfeindeten Nationen hat mich schon als Kind fasziniert.

„Ich bin mehr als alles andere Europäerin. Überall wo ich in Europa hinkomme, fühle ich mich quasi zu Hause.“

Sie haben die doppelte Staatsbürgerschaft. Fühlen Sie sich eher als Luxemburgerin oder als Portugiesin oder als was?

Ganz klar als Europäerin. Ich hatte das Glück, hier geboren zu werden und – unter anderem dank Erasmus – in anderen europäischen Ländern studieren zu können. Überall, wo ich in Europa hinkomme, fühle ich mich quasi zu Hause.

Bei den Landeswahlen waren die Frauen auf den LSAP-Listen stark unterrepräsentiert. Die Europaliste besteht zu zwei Dritteln aus Frauen. Geht das nur, weil diese Wahlen als unwichtig angesehen werden?

Ich würde da eher auf Etienne Schneider verweisen, der meinte, die LSAP solle dieses Modell bei den nächsten nationalen Wahlen übernehmen. Als Präsidentin der Femmes socialistes sind das Ziel für mich paritätisch besetzte Listen. Dazu muss man aber die Voraussetzungen schaffen, indem man auf allen Ebenen Frauen fördert.

Worauf führen Sie den Euroskeptizismus zurück?

Die Menschen können nicht mehr nachvollziehen, was auf europäischer Ebene eigentlich geschieht. Wenn Medien über die EU berichten, dann meistens über die negativen Aspekte, wie die Eurokrise. So kommt der Eindruck zustande, Europa diene dazu, Austeritätspolitik gegen die Bevölkerung durchzusetzen. Auch die Politiker tragen Schuld hieran: Wenn ein Minister erklärt, die EU habe dem Land dieses oder jenes vorgeschrieben, dann unterschlägt er, dass er das alles mitgetragen hat, als darüber entschieden wurde. Wenn man jahrelang Europa als Sündenbock missbraucht, ist es nicht verwunderlich, dass die Menschen kein gutes Bild von dem Ganzen haben.

Das betrifft vor allem das Image der EU. Was ist mit deren politischen Inhalten, die oft als zu liberal kritisiert werden?

In den vergangenen Jahren ging es aufgrund der Vormachtstellung der PPE, der Europäischen Volkspartei, in die falsche Richtung. Grundsätzlich bin ich aber nicht gegen den freien Personen- und Warenverkehr oder den Binnenmarkt. Kritisch sehe ich vor allem, dass wir unsere Märkte für Drittländer öffnen, diese Länder ihrerseits aber weiterhin Schutzzölle erheben. Als größter Wirtschaftsraum betreiben wir eine Politik ohne jeden Protektionismus – das müsste man ändern.

„Wenn man jahrelang Europa als Sündenbock missbraucht, müssen die Menschen doch euroskeptisch werden.“

Die Umwelt- und Klimapolitik steht im Programm der europäischen Sozialdemokraten beinahe an letzter Stelle. Wird sie immer noch als Hemmnis für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung angesehen?

Ich betrachte die Umweltpolitik nicht als Hindernis, ich habe auch nichts gegen ehrgeizige Klimaziele. Aber man muss realistisch bleiben. Bei Vorgaben wie 30 Prozent erneuerbarer Energien bis 2030 habe ich meine Zweifel – Luxemburg liegt derzeit bei drei Prozent. Wichtiger als solche Ziele ist, dass wir zu technologischen Vorreitern werden – das lässt sich auch besser mit wirtschaftlichen Überlegungen vereinbaren. Derzeit verlieren wir an Boden bei den Patenten, und es werden Produktionsanlagen delokalisiert. Das führt dazu, dass wir für diese Patente bezahlen müssen und von Importen abhängig werden. Verglichen mit den USA zum Beispiel fördert die EU viel zu wenig Unternehmertum, Forschung und Entwicklung. Dabei müssten wir, um Arbeitsplätze zu schaffen, wettbewerbsfähiger und vor allem innovativer sein. Allerdings, wenn man eine gemeinsame EU-Forschungspolitik haben will, muss man auch die finanziellen Mittel für sie bereitstellen.

Ein Punkt, zu dem das Manifest der PSE, der Sozialdemokratischen Partei Europas, deutliche Worte spricht, ist Steuerhinterziehung sowie Steuer-flucht und -dumping. Kann man das als luxemburgische Kandidatin mittragen?

Das ist kein einfaches Thema – die PPE übrigens schweigt sich dazu aus. Steuerdumping gibt es in vielen Bereichen, und bei der direkten Besteuerung von Personen zum Beispiel hat Luxemburg sich nichts vorzuwerfen. Grundsätzlich denke ich, dass man mittelfristig zu einem Gleichgewicht der Besteuerung von Arbeit und Kapital kommen muss. Ich störe mich an Einkommen, für die man nicht hat arbeiten müssen, und an spekulativen Kapitalanlagen, die keine reale Entsprechung haben. Allerdings kann sich die EU angesichts der Globalisierung hier keine Alleingänge erlauben, dafür hängen zu viele Arbeitsplätze vom Finanzsektor ab. Ich denke aber, dass wir eine Finanztransaktionssteuer verkraften können.

„Mittelfristig müsste man zu einem Gleichgewicht der Besteuerung von Arbeit und Kapital kommen.“

Sie haben die EU-Politik der vergangenen Jahre kritisiert. Hat die PSE denn ein alternatives wirtschaftspolitisches Konzept?

Ich finde, es wurde zu sehr Wert darauf gelegt, mit Austeritätspolitik und Begrenzung der Haushaltsdefizite einen guten Eindruck auf die Finanzmärkte zu machen. Wir haben Warnsysteme, die Alarm schlagen, wenn das Defizit eine gewisse Schwelle überschreitet, aber keine, die dies tun, wenn in einem Land die Arbeitslosigkeit 25 Prozent erreicht. Die Sozialpolitik fällt eben nicht in die Kompetenz der EU. Wir haben vor allem die wirtschaftlichen Aspekte vergemeinschaftet, aber die Wirtschaft lässt sich nicht von den anderen Bereichen abkoppeln.

Wo könnte die EU denn noch eingreifen?

Wir müssen weg von der Vorstellung, die Krise in Portugal sei ein Problem, das national gelöst werden muss. Wenn es einzelnen Mitgliedstaaten schlecht geht, geht es auch den anderen schlecht. Statt an den Budgets herumzuschnippeln, müsste man investieren, um das Wachstum anzukurbeln. Eine wirklich gemeinsame EU-Wirtschaftspolitik bedeutet für mich, festzustellen, dass die deutsche Automobilindustrie stark ist, und sie dann dort zu lassen, da das Knowhow sich nun einmal in Deutschland findet. Delokalisierung ist hier unsinnig. In ähnlicher Weise müsste man überall in Europa Kompetenzzentren aufbauen, sodass jedes Land profitiert. Die Idee ist, gemeinsam zu investieren und gemeinsam davon zu profitieren.

Das ist ja eher Wirtschafts- als Sozialpolitik?

Die EU-Erweiterungen hatten zu einer Angleichung der sozialen Standards führen sollen, stattdessen haben sie das Sozialdumping hervorgebracht. Die PSE setzt sich jetzt für einen Mindestlohn in allen Mitgliedstaaten ein. Darüber hinaus sollte die EU auch eine gewisse Umverteilung betreiben. In Portugal wurde zum Beispiel ein Teil der Renten um die Hälfte gekürzt. Es gibt ja europäische Hilfsfonds, die man dafür heranziehen könnte. Wenn die Troika soziale Kürzungen und Austeritätsmaßnahmen vorgibt, dann kann sie nicht einfach sagen, für die soziale Abfederung ist das betroffene Land allein zuständig. Man muss die Bedingungen schaffen, damit diese Länder aus dem Schlamassel wieder herausfinden, zum Beispiel über Ausbildungs- und Umschulungsmaßnahmen. Überall, wo die Troika eingreift, müsste es auch eine „Troika bis“ geben, die sich um die sozialen Aspekte kümmert.

„Es klingelt bei drei Prozent Haushaltsdefizit, aber nicht bei 25 Prozent Arbeitslosigkeit.“

Steht der Kandidat Martin Schulz wirklich für eine solche alternative Politik?

Es ist sicherlich gut, mal eine andere Stimme aus Deutschland zu hören, eine, die nicht nur für Austerität plädiert. Man sollte diese Wahlen aber nicht zu stark personalisieren. Martin Schulz bekennt sich zum PSE-Programm und hat als Abgeordneter auch für diese Orientierung gestanden. Mein Eindruck ist, dass er pragmatisch denkt und handelt. Unser Ziel ist es, wegzukommen von der Politik der vergangenen Jahre – der Politik von Merkel, aber auch von anderen Regierungen. Als Kommissionspräsident, mit einer großen PSE-Fraktion im Rücken, kann Schulz ein starker Gegenpol zu jener politischen Ausrichtung sein.

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EU-Wahlen – die woxx mischt mit …

Mit ihrer Serie „Ampelgespräche“ im Vorfeld der Chamberwahlen hat die woxx gleich zwei OutsiderInnen in der Regierung platzieren können. In einem nächsten Schritt auf unserem Weg zur Weltherrschaft werden wir nun versuchen, unsere Tentakel auch ums europäische Parlament zu legen. Aus dem Grund veröffentlichen wir, in jeder Ausgabe bis zu den Europawahlen, jeweils ein Interview mit einem Kandidaten / einer Kandidatin unserer Wahl. Die Interviewten sind nicht unbedingt die TopfavoritInnen ihrer jeweiligen Partei, sondern wurden ausschließlich nach ihrem Nutzen für unseren diabolischen Plan ausgewählt.


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