EXPEDITION: Reise zu den Nicht-Orten

Julio Cortázar und Carol Dunlop beschreiben in „Die Autonauten auf der Kosmobahn“ eine Forschungsreise zu französischen Autobahnraststätten. Das rätselhafte Buch ist für beide eine Reise im Angesicht des Todes.

Die Autobahn bestimmt nicht allein unsere Wahrnehmung von Mobilität. Lange Zeit war sie zudem eine Metapher für Freiheit. Heute steht sie, in der Erscheinungsform des Staus, vor allem für unbewältigte Verkehrsprobleme. Im Film ist sie häufig Schauplatz von Road Movies. Im literarischen Schaffen von Julio Cortázar kommt sie erstmals in der Erzählung „Südliche Autobahn“ vor, die 1966 in der Sammlung „Das Feuer aller Feuer“ erschien.

Darin schildert der Schriftsteller die Erlebnisse einer Gruppe von Menschen, die während eines Monate dauernden Staus vor Paris in ihren Fahrzeugen eingeschlossen sind. Statt die Ursachen des Staus herausfinden zu wollen, um ihn zu beenden, arrangieren sie sich im Laufe der Zeit mit ihrer Situation. Bis sich der Stau ohne erkennbaren Grund auflöst: „Alles geschah irgendwann, ohne voraussehbaren Plan; das wichtigste aber geschah, als es keiner erwartete.“

„Südliche Autobahn“ soll Jean-Luc Godard zu seinem Film „Week-End“ inspiriert haben. Für Cortázar ist es nicht das erste und nicht das letzte Werk, das von Verkehrsmitteln und Verkehrswegen handelt. In seinen Erzählungen spielen Busse und Metros häufig eine Rolle, und der erste von ihm veröffentlichte Roman, „Die Gewinner“ (1960), spielt auf einem Schiff. Im Mai 1982 begibt sich der Autor zusammen mit seiner Ehefrau, der Kanadierin Carol Dunlop, mit einem VW-Bus, dem sie den aus der nordischen Mythologie entlehnten Namen Fafnir gegeben haben, auf die „Autoroute de Soleil“ von Paris nach Marseille.

Die Fahrt der beiden ist keine gewöhnliche Reise, sondern eine „Expedition“. Sie dauert einen Monat lang, oder genauer gesagt: 33 Tage. Cortázar und Dunlop wollen jeden einzelnen der insgesamt 65 Rastplätze anfahren und auf jedem zweiten übernachten, ohne ein einziges Mal die nähere Umgebung der Autobahn zu verlassen. Das Ehepaar bereitet sich akribisch auf die Reise vor. Freunde versorgen es an zwei festgelegten Orten mit frischem Proviant. Die beiden „Forschungsreisenden“ erleben einen Monat lang ihr eigenes wissenschaftlich-literarisches Experiment im „Parkingland“. In einem „Bordbuch“ halten sie ihre Beobachtungen fest. Der Reisebericht wird mit Skizzen und Fotos ergänzt.

Daraus ist schließlich das Buch „Die Autonauten auf der Kosmobahn“ entstanden, das der Suhrkamp Verlag anlässlich des hundertsten Geburtstages und 30. Todestages Cortázars in diesem Jahr neu herausgegeben hat. Der Schriftsteller gilt als Meister der phantastischen Literatur. Der 1914 in Brüssel geborene Argentinier, der das Regime von Juan Domingo Perón ablehnte und deshalb im Jahre 1951 sein Heimatland verließ, und nach Paris zog, sagte bei einem Vortrag Anfang der Sechzigerjahre: „Fast alle Erzählungen, die ich geschrieben habe, zählen zum phantastischen Genre – mangels einer besseren Bezeichnung.“

Auf den ersten Blick erscheint „Die Autonauten auf der Kosmobahn“ weder als phantastische Literatur noch als surreal. Trotzdem gibt es darin Elemente, mit denen Cortázar an die Tradition der Surrealisten anknüpft. So heißt es an einer Stelle: „Während draußen das Wetter unverändert schön blieb, zog sich im Haus ganz langsam der Gewittersturm zusammen. Gegenstände, die uns bislang freundlich gesinnt waren, begannen sich nach und nach unseren geringsten alltäglichen Gesten zu widersetzen.“ Das bereits zitierte, sich nähernde Unheil hat biografisch eine zusätzliche Bedeutung: Dunlop hat zum Zeitpunkt der Aufzeichnungen nur noch ein halbes Jahr zu leben. Sie stirbt im November 1982 an Krebs, Cortázar 15 Monate später. Sie unternehmen demnach eine Reise angesichts des Todes. Für den Leser des Berichts ist davon nichts zu erahnen.

33 Tage und Nächte unterwegs – ohne ein einziges Mal die nähere Umgebung der Autobahn zu verlassen.

„Bärchen“ und „Wolf“, wie die beiden einander nennen, berichten in ihrem Reisebericht über die Müllmänner und Baukolonnen, über Vögel und Ameisen, aber auch über die erotischen Geheimnisse der Parkplatznächte. Dunlop schreibt direkter, ihre Fotos wirken nüchtern, werfen jedoch ein neues Licht auf die eigentlich so öden Nicht-Orte. Cortázar ist assoziativer. Er betreibt ein Spiel mit literarischen Bezügen und Formen. Landschafts- und Stimmungsbeschreibungen wechseln sich ab mit essayistischen Passagen und einer Art Briefroman, der eine Außensicht auf die beiden Reisenden gewährt.

Cortázar sieht den Leser außerdem nicht als passiven Konsumenten, sondern betrachtet ihn als eine Art Komplizen, den er häufig unmittelbar anspricht: „o bleicher, furchtloser Leser“ oder „geschätzter Leser“. Dieses auf Cortázars Landsmann Macedonio Fernandez zurückgehende Konzept des Komplizen-Lesers hat der Autor bereits in meisterhafter Manier in seinem berühmtesten Roman „Rayuela“ umgesetzt.

Seit Mitte der Sechzigerjahre engagierte sich Cortázar im antiimperialistischen Kampf Lateinamerikas und unterstützte die kubanische Revolution, die Regierung Salvador Allendes in Chile sowie die Revolution der Sandinisten in Nicaragua. Im Nachwort zu „Die Autonauten“ schreibt er: „Kaum war unsere Expedition zu Ende, kehrten wir in unser militantes Leben zurück und reisten einmal mehr nach Nicaragua, wo es so viel zu tun gab und gibt.“

Genauso viel gibt es zu tun, um diesen großen Autor und Erneuerer der lateinamerikanischen Literatur, der auf der ständigen Suche nach neuen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten war, neu zu entdecken. Wenn nicht mit diesem rätselhaften Buch, dann mit seinem Meisterwerk „Rayuela“ oder mit seinen nicht weniger großartigen Erzählungen.

Julio Cortázar / Carol Dunlop – Die Autonauten auf der Kosmobahn. Eine zeitlose Reise Paris – Marseille.
Aus dem Spanischen von Wilfried Böhringer. Suhrkamp Verlag, 358 Seiten.


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