JUBILÄUM: Wo Italien anfängt

Zum 50. Geburtstag schenkt sich der Wagenbach-Verlag eine Reihe von Erstlingswerken junger Autoren. Das Debüt der italienischen Schriftstellerin Paola Soriga knüpft thematisch an die Klassiker der italienischen Nachkriegsliteratur an.

Einst Brutstätte von Widerstand und Dissidenz: das Arbeiterviertel Centocelle, als es noch die Stadtgrenze von Rom markierte.
(Foto: Internet)

Unerschrocken war Ida an jenem hellen Maimorgen losgegangen, als ihr Don Pietro aus seinem Beichtstuhl heraus zuflüsterte, sie solle in die Druckerei laufen, eine Nachricht liege bereit. Es war nicht ihr erster Kurierdienst, sie kannte die Laufwege des antifaschistischen Netzwerks aus der römischen Peripherie in die Innenstadt. Sie kannte auch den Jungen, der plötzlich an ihr vorbeigerannt kam und ihr eine Warnung zugeraunt hatte. Ohne zu zögern war sie umgekehrt und in ihr Viertel zurückgelaufen. Doch aus Sorge, die deutschen Besatzer könnten sie zu Hause suchen, hatte sie sich in einer jener Grotten versteckt, die ihr noch vor wenigen Jahren eine geheimnisvolle Spielstätte waren. Jetzt flößen ihr die dunkeln Gänge Angst ein. Nicht weit von ihrem Unterschlupf waren die Ardeatinischen Höhlen zu Gräbern geworden, als die SS dort mehr als dreihundert römische Zivilisten erschoss. Drei Tage sitzt sie nun schon in ihrem kalten Versteck, versucht mit Erinnerungen, die Angst und den Hunger zu zähmen.

„Wo Rom aufhört“, in jenen Tuffsteinhöhlen und Grotten der römischen Campagna beginnt Paola Sorigas gleichnamiger Roman, der in Rückblenden das Leben der siebzehnjährigen Ida erzählt. Aufgewachsen in ärmlichen, patriarchalen Verhältnissen auf Sardinien, wird sie im Herbst 1938, kurz nach ihrem zwölften Geburtstag, nach Rom geschickt. Dort lebt die ältere Schwester in einer unglücklichen, kinderlosen Ehe mit einem Beamten des faschistischen Regimes. Die Familie wohnt in dem neuen Viertel „mit den niedrigen Häusern und dem Garten und den schmutzigen Ecken, der großen Wiese […] und dem starken Geruch nach wildem Fenchel.“

Anfang des 20. Jahrhunderts wuchs die italienische Hauptstadt über die Aurelianische Stadtmauer hinaus. Zwischen den alten Ausfahrtstraßen der Via Casilina und der Via Prenestina entstand das Viertel Centocelle. In die ländliche Umgebung, nur einige Trambahnstationen von der Innenstadt entfernt, zogen damals vor allem Staatsangestellte, die sich kleine, einstöckige Villen mit Vorgärten leisten konnten. Sie wohnten neben ungelernten, süditalienischen Arbeitsmigranten, die sich am Stadtrand provisorische Baracken errichteten und einheimischen Bauernfamilien, die mit ihren Schafherden die noch unerschlossenen landwirtschaftlichen Flächen bewirtschafteten.

Italien wandelte sich just in jenen Jahren, als das deutschsprachige Publikum die italienische Nachkriegsliteratur zu entdecken begann.

Als der Zweite Weltkrieg beginnt, wägt sich die römische Bevölkerung im Glauben, die Stadt des Papstes würde nicht bombardiert werden. Doch im Juli 1943 erfolgt ein alliierter Luftangriff auf die südlichen Stadtviertel, unter den Trümmern von San Lorenzo stirbt auch Idas Schwager. Nur wenige Tage später „schien es vorbei zu sein, beim Fest, das sie am 25. Juli wegen der Verhaftung Mussolinis veranstaltet hatten.“ Wieder ein Trugschluss: „Dann ging das Gerücht um, dass sie sich organisieren, sogar mit Waffen, denn wir wollen keinen anderen Faschismus, und die Deutschen sollen nach Hause gehen.“

Tatsächlich begann für Rom die schlimmste Kriegsphase erst nach der Absetzung Mussolinis, als deutsche Truppen am 8. September 1943 die Stadt besetzten. Im Oktober desselben Jahres wurden die römischen Juden deportiert, im darauffolgenden Frühjahr erfolgte das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen und die Razzia im Quadraro. In dem an Centocelle angrenzenden Arbeiterviertel hatten viele Widerstandskämpfer und Desserteure der italienischen Armee Unterschlupf gefunden. Zu Hunderten wurden die aufgespürten Männer in deutsche Arbeitslager verschleppt, die meisten von ihnen dort zu Tode geschunden.

Soriga erzählt dicht gedrängt und allein aus der Perspektive Idas und ihrer Nachbarn in Centocelle. Ihr Debütroman erschien im Frühjahr im Jubiläumsprogramm des Berliner Wagenbach-Verlages. Zum fünfzigjährigen Bestehen wurden fünf junge Autoren aus fünf Sprachen übersetzt. In Anbetracht des Italienschwerpunkts, den Wagenbach seit vielen Jahren pflegt, durfte ein italienisches Erstlingswerk in dieser Reihe nicht fehlen. Soriga knüpft thematisch an die Klassiker der italienischen Nachkriegsliteratur an: Sie erzählt von der Widerstandsbewegung, der Resistenza, und sie erzählt aus der römischen Peripherie, deren politische und soziale Bedeutung vor allem durch Wagenbachs Pasolini-Übersetzungen jenseits der Alpen bekannt wurde. In einem schönen, zum 50. Geburtstag neu aufgelegten Verlagsalmanach kann man nachlesen, wie sich die italienische Gewichtung des Verlages in den 1980er Jahren herauskristallisierte und allmählich zu einem erfolgreichen Markenzeichen entwickelte.

Allerdings veränderte sich in Italien just in jenen Jahren, als das deutschsprachige Publikum die italienische Nachkriegsliteratur allererst zu entdecken begann, die politische und kulturelle Atmosphäre, in der die gefeierten Werke entstanden waren. Der antifaschistische Konsens und die kulturelle Hegemonie der Linken begannen sich aufzulösen. Soriga, selbst erst 1979 geboren, erinnert mit ihrem Roman an ein Kapitel der italienischen Geschichte, das in den letzten zwanzig Jahren durch den Revisionismus von Silvio Berlusconis Rechtsbündnissen diffamiert und umgedeutet wurde. Insbesondere nachdem mit Gianni Alemanno zwischen 2008 und 2013 ein ehemaliger neofaschistischer Schläger das Amt des Bürgermeisters inne hatte und die rechtsextreme Szene in der Hauptstadt hofierte, ist ihr Roman auch als Versuch zu verstehen, der offiziellen Aufwertung des Faschismus die Erinnerung an den Widerstand entgegenzusetzen.

Mit der Verwendung des Anakoluth, jenem die mündliche Rede nachahmenden Schreibstil, knüpft Soriga an die Methode der Oral History an, die in der italienischen Erinnerungsarbeit eine bedeutende Rolle spielt. Alessandro Portelli, Theoretiker der Oral History und Literaturwissenschaftler an der römischen Universität La Sapienza, hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Geschichten von Zeitzeugen gesammelt. Seine daraus entstandenen Bücher zur römischen Widerstandsbewegung und zu eben jenem Stadtviertel Centocello, in dem Soriga ihren Roman verortet, haben viele junge Künstlerinnen und Künstler beeinflusst. Der gleichfalls bei Wagenbach verlegte Schriftsteller und Schauspieler Ascanio Celestini brachte die von Portelli gesammelten Erinnerungen auf die Bühne.

Rom hört längst nicht mehr in Centocelle auf, die Stadt ist über den Autobahnring hinausgewachsen.

Sorgias Ida scheint in der römischen Partisanin Giovanna Marturano ihr reales Vorbild zu haben. Dennoch ist der Roman keine bloße Fortschreibung des Resistenza-Mythos und mehr als eine Beschwörung der antifaschistischen Tradition. Die Vergangenheit des Viertels ist in der Gegenwart der römischen Peripherie noch lebendig. Wer aus den südlichen Randbezirken durch das alte Stadttor an der Porta Maggiore in die Innenstadt fährt, mag Idas staunende Freude von damals noch heute nachempfinden: „Das Aquädukt mit den hohen, jahrhundertealten Wänden berührte sie und rief ihr ins Gedächtnis, dass sie in Rom war, in Rom, denn hier hat die Geschichte stattgefunden, und mit Freude erfüllten sie der Himmel über ihr und der ungepflegte Rasen unter ihr.“

Auch in den Nachkriegsjahren blieb Centocelle ein rotes Viertel, in den Siebzigerjahren waren hier alle außerparlamentarischen, revolutionären, linksradikalen Gruppierungen vertreten. Selbst als in den 1980er Jahren der politische „backlash“ begann, setzte Centocelle mit der Besetzung der alten Militäranlage Forte Prenestino einen Gegenakzent. Doch inzwischen kann auch das Centro Sociale über die realen, politischen Kräfteverhältnisse in den römischen Vorstädten nicht hinwegtäuschen. Jene Faschisten, Kollaborateure und Opportunisten, die Soriga in ihrem Roman nicht verschweigt, haben ihre Nachkommen gefunden und sind hegemonial geworden. Seit vielen Jahren wählt die römische Peripherie mehrheitlich rechtspopulistische Parteien. In die ehemaligen linken Parteilokale sind Fitnessstudios, in die alten Stadtteilkinos Spielhallen eingezogen.

Wer heute mit der Tram stadtauswärts fährt, trifft auf gelangweilte Jugendliche und müde Migranten aus Nordafrika oder Südostasien. Diejenigen, die sich ein eigenes Auto leisten können, reihen sich täglich neu in die kilometerlangen Staus, die sich parallel zu den Straßenbahnschienen bilden. Rom hört längst nicht mehr in Centocelle auf, die Stadt ist über die moderne Stadtmauer, den Autobahnring, hinausgewachsen. Man kann sich nur wünschen, dass Wagenbach auch jene Autoren zu übersetzen beginnt, die die neue, römische Peripherie erzählen. Walter Siti, der italienische Herausgeber der Werkausgabe Pasolinis oder Tommaso Giagni, ein Autor aus Sorigas Generation erzählen aus dem Leben in den Trabantenstädten. Ihre Romane bedauern nicht nur den politischen und kulturellen Verfall der italienischen Gesellschaft, sie vermögen ihn auch begreiflich zu machen.


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