THEATER: Nach dem Absturz schwerelos

Der Schweizer Regiestilist Christoph Marthaler karikiert in „Groundings“ nicht nur gescheiterte Manager, sondern verarbeitet auch seine Zeit als Intendant in Zürich.

Der Schock saß tief. Die Pleite der Schweizer Fluggesellschaft Swissair hatte im Jahr 2001 am Selbstbewusstsein der Eidgenossen gekratzt. Und schnell war ein neuer Begriff in aller Munde: „Grounding“ wurde zum Synonym für Pleiten, Pech und Pannen – und zum Stoff für die Bühne.

Kurze Zeit später erlebte auch die helvetische Theaterlandschaft ein Erdbeben, als Christoph Marthaler im Herbst 2002 einen blauen Brief erhielt. Missmanagement und Verschwendungssucht warf man dem Intendanten des Züricher Schauspielhauses vor. Er habe das Stammpublikum vergrault und das Theater an den Rand des Konkurses gebracht, wetterten seine Kritiker, und aus der rechten Ecke des politischen Spektrums wurde das Haus als „Porno- und Unterhosentheater“ beschimpft.

Dabei war die Heimkehr des schweizerischen Regiestars 1999 noch frenetisch gefeiert worden, als dieser seinen Posten angetreten hatte. Marthaler erregte damals gleich mit seiner ersten Inszenierung „Hotel Angst“ Aufsehen. Das Stück wurde größtenteils auf Schwyzerdütsch aufgeführt. Und er machte in kurzer Zeit zusammen mit der Dramaturgin Stefanie Carp und der Bühnenbildnerin Anna Viebrock die zuvor in gepflegter Routine dahin dämmernde Traditionsspielstätte zu einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Bühnen. Zwei Mal in Folge wurde sie zum „Theater des Jahres“ gewählt.

Marthaler setzte radikal auf Gegenwartstheater, mit Regisseuren wie Stefan Pucher, Andreas Kriegenburg, Frank Castorf und Jossi Wieler. Christoph Schlingensiefs „Hamlet“-Inszenierung mit jungen Neonazis, die sich in der Resozialisierung befinden, avancierte 2001 zum Stadtgespräch und sorgte für zahlreiche ausverkaufte Vorstellungen. Doch gleichzeitig sank die Zahl der Abonnenten um 40 Prozent. Die bürgerlichen Klassikerfans fühlten sich in Marthalers Welt nicht mehr zu Hause.

Für die Gegner des Theaterstars war dies ein Signal zum Handeln und für den Rauswurf des Intendanten. Angeblich soll dieser von seiner Entlassung aus der Zeitung erfahren haben. Doch der Verwaltungsrat des Hauses hatte die Rechnung ohne die Marthaler-Sympathisanten und jene Züricher gemacht, denen etwas an innovativem Theater liegt. Nachdem es aus der kulturellen Szene Proteste gegen die Entscheidung und Solidaritätsbekundungen für Marthaler gegeben hatte, nahm das Gremium seine Entscheidung zurück und gewährte dem Theaterleiter eine weitere Saison: mit verkleinertem Repertoire, mehr Wiederaufnahmen und weniger Stargästen.

Nach seiner verhinderten Absetzung widmete sich Marthaler dem Thema kollektiven Scheiterns. Vordergründig handelt „Groundings – eine Hoffnungsvariante“ von der Swissair-Pleite und ist ein ironisch-subversiver Abgesang über entlassene Manager, die per Entlassungsschreiben aus dem Karussell der freien Marktwirtschaft heraus gefallen sind und die mit hohen Abfindungen ihre Mitgliedschaft im erlauchten Kreis zu sichern glauben. Anna Viebrocks minimalistisches Bühnenbild besticht einmal mehr in seiner Aussagekraft: auf dem Boden eine Luftaufnahme Zürichs, im Hintergrund zwei Wandtafeln, auf denen „Verantwortungabgabe rechts“ und „Abfindungsabgabe links“ steht. „Ich habe nur eine Million Abfindung bekommen“, jammert einer der Wirtschaftsbosse und bekommt als Antwort: „Wer die Million nicht ehrt, ist der Milliarde nicht wert.“

Marthaler verarbeitete mit dem Stück auch sein eigenes „Grounding“ (mit dem Luxemburger André Jung). Der Dauerstreit hatte an ihm gezehrt. So verwundert es nicht, dass er das Handtuch warf und zum Ende dieser Saison das Schauspielhaus verlässt, ein Jahr vor Ablauf seines Vertrags. Seine Entscheidung rechtfertigte er mit gesundheitlichen Gründen und der „nicht mehr tragbaren Belastung“. Die „Weltwoche“ zitierte ihn mit dem Satz „Ich mag nicht mehr. Ich bin nicht der richtige Intendant. Die Belastung ist zu groß.“

Der 1951 in Erlenbach im Kanton Bern geborene Marthaler erlebt ausgerechnet in jener Stadt eine bittere Niederlage, wo er in den 70er und frühen 80er Jahren als Performance-Musiker begonnen hatte. Nach einem abgebrochenen Musikstudium und zwei Jahren an der Pariser Lecoq-Schauspielschule veranstaltete er in Zürich Happenings. Unter anderem spielte er zusammen mit einem Freund 26 Stunden lang ununterbrochen ein Stück seines Lieblingskomponisten Eric Satie – in einer Apotheke.

Später ging er ans Basler Theater und veranstaltete dort Liederabende. Einer davon trug den Titel „Wenn das Alpenhirn sich rötet, tötet, freie Schweizer, tötet“. Als der Basler Intendant Frank Baumbauer die Leitung des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg übernahm, folgte ihm Marthaler nach und landete an der Alster Erfolge mit „Kasimir und Caroline“ und „Stunde Null oder Die Kunst des Servierens“. Außerdem inszenierte er bei Frank Castorf an der Volksbühne Berlin: In „Murks den Europäer, murks ihn! Murks ihn! Murks ihn ab!“ (1993) konfrontierte er sein Publikum mit der deutschen Geschichte. Das Kultstück des Jahrzehnts blieb jahrelang im Programm der Volksbühne.

In den Inszenierungen Marthalers scheint die Zeit still zu stehen, die Welt verwandelt sich in eine Wartehalle. Es geschieht so gut wie nichts, keine Konflikte und keine ganze Geschichte, stattdessen zahllose kleine Geschichten und Spielchen. Wie bei Beckett scheinen die Figuren des Schweizers immer auf etwas zu warten, ohne genau zu wissen, auf was. Das Warten vertreiben sie sich mit seltsamen Beschäftigungen und Ritualen, Ticks und autistischen Übungen. Ihre Handlungen werden routiniert und halb gelangweilt absolviert. Ein Ende ist nicht abzusehen. Selbst nach gelegentlichen Ausbrüchen und Amokläufen bleibt alles beim Alten, von Entwicklung keine Spur.

Wiederholung und Variation verleihen Marthalers Inszenierungen eine Struktur. Die Zeit verläuft nicht linear, sondern im Kreis. Dadurch entsteht ein geschlossenes System ohne Kontakt zur Außenwelt – ein Eindruck, der durch Viebrocks triste Bühnenräume verstärkt wird: In „Murx“ führt eine gewaltige Schiebetür nur in einen Waschraum, in „Faust Wurzel 1+2“ wirft eine Drehtür Faust und Mephisto immer wieder auf die Bühne zurück und in der Shakespeare-Bearbeitung „Shakespeare vor dem Sturm“ gelangen die Schiffbrüchigen durch die Türen nur in einen winzigen Flur, aber nicht nach draußen. Es gibt kein Entrinnen.

Marthaler misstraut den Fortschrittseuphorien und Beschleunigungen. Die Figuren versinken oft in einen Halbschlaf oder sind Schlafwandler. Einmal sitzt im Hintergrund ein alter Mann, der gelegentlich von der rechten in die linke Ecke schlurft und ansonsten vor sich hin döst. Details gewinnen somit an Bedeutung, ein Gang über die Bühne wird zum dramatischen Moment. Dem Spiegel sagte Marthaler einmal: „Wenn im Zuschauerraum geschlafen wird, haben auch die Schauspieler das Recht, auf der Bühne zu schlafen. Das Schlafen ist bei mir eine Art Obsession, weil ich selber sehr schlecht schlafen kann. Also ich sehe es sehr gerne, wie Menschen auf einer Bühne schlafen.“

Als Erfinder der Langsamkeit begreift sich Marthaler jedoch nicht. „Die Langsamkeit kommt bei mir sicherlich nicht nur daher, weil ich etwas gegen die Beschleunigung der Zeit setzen will“, sagt er. „Bei mir liegt der Grund für die Langsamkeit nicht in der Provokation. Ich beobachte gerne Menschen, die Zeit haben.“

Marthaler scheint das Züricher Fiasko zumindest künstlerisch bewältigt zu haben. Mit „Groundings“ landete er einen weiteren Erfolg und wurde im vergangenen Jahr einmal mehr zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Als Intendant hat er zwar sein persönliches „Grounding“ erlebt, aber als Regisseur befindet sich „die Entdeckung des Jahrzehnts im europäischen Theater“, wie ihn der Theaterkritiker Peter von Becker nannte, immer noch im Zustand der Schwerelosigkeit.


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