FOTOGRAFIE: Wir sind Europa?

Bilder aus dem Osten Europas sollen zum Nachdenken über das Zusammenwachsen des Kontinents anregen.

Eine Frau, die aus dem Brunnen am Ende des Gartens Wasser holt, drei Personen, die zusammen auf einem alten Motorrad sitzen, Kinder, die mit Gänsen zum Markt unterweg sind … idyllische Fotos, die zugleich von der ländlichen Unterentwicklung in der Ukraine zeugen. „Eine Bilanz des Annäherungsprozesses“, das soll die Ausstellung „So Far, So Close“ sein, die derzeit im Centre Neumünster zu sehen ist. Gemeint ist die Annäherung zwischen Ost- und Westeuropa seit dem Fall der Mauer vor 25 Jahren. Gezeigt werden über zweihundert, von 16 größtenteils osteuropäischen FotografInnen geschaffene Bilder. Der Ausstellungskatalog wirft Fragen auf wie: Gibt es immer noch zwei Europas? Kommt eine vollständige Einigung Europas zustande, ist sie überhaupt wünschenswert?

Ja, scheint die Antwort auf die letzte Frage zu lauten. Liest man die Texte neben den Fotos aus der Ukraine und Rumänien, so könnte einem die Ausstellung fast als EU-Propaganda-Veranstaltung erscheinen. Der Fotograf Syl Geyer, der „die ukrainische Seele portraitiert“, zeigt den Hurra-Patriotismus der pro-europäischen Regierung und suggeriert, das ganze Land strebe unter blau-gelber Flagge nach Westen. Ähnlich erinnert Dana Popa daran, dass 1989 an der rumänisch-moldauischen Grenze „Wiedervereinigung“ gefeiert wurde, danach aber Moldawien hinter dem Grenzzaun zurückgelassen wurde. Alles in allem: Das gute Europa, will meinen die EU, wird daran gehindert, die Menschen im russischen Einflussbereich zu erlösen.

Die Fotos selber scheinen dieser Darstellung jedoch zu widersprechen. Die Aufnahmen von beiden Seiten der rumänisch-moldauischen Grenze gleichen sich, die EU-Mitgliedschaft hat nichts an der wirtschaftlichen Rückständigkeit der ländlichen Regionen Rumänien geändert. Statt Integration hat sie als einzige Erleichterung die Möglichkeit gebracht, dass Familienmitglieder auswandern und im europäischen Ausland Geld verdienen. Wer die Bilder von traditioneller ländlicher Kargheit und neuer urbaner Armut sieht, kann nur feststellen: Die Versuche, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa ein neues Gesellschaftsmodell aufzubauen, sind keine Erfolgsgeschichte. Und ob die westliche „Hilfe“ und die EU-Osterweiterung dabei eine positive Rolle gespielt haben, darüber lässt sich streiten.

Ein Besuch der Ausstellung lohnt sich nicht nur wegen der politischen Denkanstöße, die sie gibt, auch unter ästhetischen Gesichtspunkten sind die Fotos ein Gewinn. Leider wurden sie höchs-tens ins A3-Format vergrößert und ohne aufwendige Beleuchtung einfach in Reihen nebeneinander aufgehängt. Besonders reizvoll sind die teilweise schwarz-weißen Aufnahmen vom verfallenden kommunistischen Industrieerbe. Von kritischem Geist zeugen Federico Caponis mit Texten ergänzte Bilder vom Flohmarkt „Bazar Olimpia“ in Warschau: „Nach 25 Jahren ‚Freiheit` ist die polnische Gesellschaft nicht zu der erwarteten harmonischen Mittelschicht-Gesellschaft geworden.“ Der italienische Fotograf will anhand der Flohmarkt-Fotos die „B-Seite“ der Gesellschaft zeigen. Andere FotografInnen liefern bemerkenswerte Einblicke in den Kontrast zwischen moderner Freiheit und schwindender Tradition, oder zwischen urbanen Konsumnormen und dem einfachen Leben in den großen Wohnblocks.

Ganz klar, das Leben in den Städten Osteuropas sieht ähnlich aus wie das im Westen, neue Armut, insbesondere als Folge der Krise, inbegriffen. Andererseits ist die ländliche Unterentwicklung etwas, das bereits vor Jahrzehnten aus der Mitte Europas verschwunden war. Neue und alte Armut machen das erweiterte Europa zu einem Kontinent der Kontraste – wie die USA oder China. Dabei sind die sozialen Probleme, die in den Bildern der Ausstellung durchscheinen, natürlich ungleich verteilt. Doch dies im Detail zu analysieren, dafür ist die Fotografie nicht zuständig. Um die Situation zu beschreiben, kann man auf Wirtschafts- und Bevölkerungsstatistiken zurückgreifen. Für die Veränderung ist die Politik zuständig – eine Idee, die in den Bildern ausgeblendet wird.

Bis zum 26. Oktober im Kulturzentrum Neumünster.


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