THEATER: Ein Cineast auf Spurensuche

Hundert Jahre Luxemburger Geschichte auf tänzerische Art und Weise erzählt: In Paul Kieffers „Dancing“ ist der eigentliche Hauptdarsteller ein Ballsaal.

„Ich bringe viel vom Film ins Theater mit ein“: Der Regisseur Paul Kieffer nutzt Traumbilder und Rückblenden für seine Arbeiten auf der Bühne

Die Zeit drängt. Bevor die Gäste kommen, müssen noch die Aschenbecher auf die Tische. Der Kellner folgt den Anweisungen seiner strengen Wirtin. Im Stile eines Quasimodo humpelt Thierry van Werveke von Tisch zu Tisch. Dann kommen die Damen: Eine nach der anderen betritt den Ballsaal. Wie Models auf dem Laufsteg stellen sie sich vor das imaginäre Publikum im Proberaum des Grand Théâtre: eine voluminöse Blondine im fortgeschrittenen Alter, eine zierliche Rothaarige, die vor Nervosität an ihrem schwarzen Kleidchen zupft, ein verhuschter Engel mit Rüschenkleid, eine Schickimicki-Lady mit Sonnenbrille und Hut, die die Blicke sämtlicher Männer auf sich zieht. Die kommen in Reih und Glied hereinmarschiert und stellen sich nebeneinander auf wie die „glorreichen Sieben“ von John Sturges.

Der eigentliche Hauptdarsteller des Tanzstückes „Dancing“ ist der Ballsaal: Es ist der 31. Dezember 2000, der letzte Tanzabend des alten Jahrhunderts. Hundert Jahre luxemburgischer Geschichte werden Revue passieren, und das ganz ohne Dialoge. Stattdessen tanzen die 21 Schauspieler, was das Zeug hält: unter anderem Tango, Cha-Cha-Cha, Walzer, Twist, gespielt von einem Orchester. Ebenso häufig werden die Musikstile gewechselt – vom französischen Chanson bis zum Discohit, von Jacques Brel und Edith Piaf bis zu New Order und den Village People.

Die monatelangen Proben wurden vom Tod einer der Darsteller überschattet: Ende April starb der 25-jährige Tom Hensgen plötzlich, ein schwerer Verlust für die luxemburgische Kulturszene. Trotzdem findet die Premiere am 8. Juli statt. Heute wird zum ersten Mal in den Kostümen geprobt. Rund 250 sollen es insgesamt sein. In der allgemeinen Hektik wirkt einer gelassen: Regisseur Paul Kieffer schlurft in Sandalen durch den Raum und gibt kurze Anweisungen, schaltet die Hifi-Anlage ein und aus. Durch seine Unaufgeregtheit nimmt er den SchauspielerInnen ein wenig von der Anspannung. „Si mer esou wäit?“ ruft er. Bei einer Darstellerin sitzt ein Schuh noch nicht richtig, während ihr Tanzpartner austreten muss. „Immer wenn ich anfangen möchte, muss jemand aufs Klo“, sagt Kieffer.

Nach wenigen Minuten hat sich das Ensemble in eine Gruppe alter und junger Tanzenthusiasten verwandelt, die sich ganz ihrem Schwof hingeben. Zwischendurch lässt der Regisseur den Probendurchlauf stoppen und schaltet die Musik kurz aus, um etwas zu erklären. Dann geht’s weiter. „Si mer?“ Kieffer ist kein Regiediktator. „Manche meinen, ich sage zu wenig. Aber ich schaue mir an, was mir die Schauspieler bieten, und daraus suche ich mir etwas aus“, erklärt er seine Zurückhaltung. „Ich gehöre nicht zu jenen, die schon im Vorfeld jede Bewegung im Kopf haben.“

Die Idee zu „Dancing“ habe er schon seit langem gehabt, sagt Kieffer, nur gab es keine Möglichkeit, sie zu verwirklichen. Der Regisseur hat das Stück „Le Bal“ des französischen Autors Jean-Claude Penchenat, das Ettore Scola 1982 verfilmt hatte, nach Luxemburg verlegt. Der Mikrokosmos des Ballsaals erzählt die Geschichte des Landes, seiner Menschen: kleine Leute, Großbürger, Immigranten. Statt auf das gesprochene Wort setzt Kieffer auf Körpersprache. „Mir liegt das Bewegungstheater mehr“, sagt er. Dafür hat er die Crème de la Crème der hiesigen Schauspielszene um sich geschart: So spielt zum Beispiel Sascha Ley die coole Schönheit, die die Männer an der Nase herumführt, während Claude Mangen als aufdringlicher Lackaffe mit dünnem Oberlippenbärtchen den Damen nachstellt.

„Früher gab es in Esch ein Café, da haben sich immer ältere Luxemburgerinnen mit jungen Portugiesen getroffen“, erzählt Paul Kieffer. „Das hat ein paar Freunde und mich so an den Film von Ettore Scola erinnert. Aber das blieben vorerst Biertischphantasien.“ Dass daraus schließlich doch einmal ein eigenes Stück werden sollte, ist Frank Feitler zu verdanken. Als der Intendant des Grand Théâtre vor zwei Jahren das Programm für die erste Saison zusammenstellte, erinnerte er sich an Kieffers Idee und sprach diesen darauf an.

Bei „Dancing“ verschmelzen Elemente von Film und Theater. Kein Wunder, denn Kieffer ist vielmehr als Cineast denn als Theatermacher bekannt. „Ich denke in filmischen Bildern“, sagt er. Sein bekanntester Film ist „Schacko Klak“ (1990), der während der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg spielt. „Ich wollte schon immer Filmregisseur werden“, erinnert sich der 47-Jährige. Nach dem Abitur bewirbt sich der Luxemburger 1977 bei der Münchner Filmhochschule. Nachdem man ihn dort nicht aufgenommen hat, geht er nach Straßburg, um Journalismus zu studieren. Anfang der 80er Jahre landet er bei RTL und arbeitet fürs Radio sowie als Gerichtsreporter für das Tageblatt. Zugleich assistiert er bei Frank Hoffmann am Theater. Nach drei Jahren beginnt er zum ersten Mal selbst zu inszenieren. Fortan bringt Kieffer vor allem Stücke von Luxemburger Autoren wie Nico Helminger und Guy Rewenig auf die Bühne, zumeist im Escher Schlachthof, der heutigen Kulturfabrik. Für Rewenigs „Ventilator“ werden die Zuschauer in zwei Gruppen eingeteilt: Die einen sehen die 24 Szenen des Stücks von vorne, die anderen in umgekehrter Reihenfolge. „Im Theater habe ich gelernt, mit Schauspielern zu arbeiten“, sagt Kieffer. „Andererseits bringe ich viel vom Film ins Theater mit hinein.“ Eine elliptische Erzählweise, Erinnerungsfetzen, Traumbilder und Rückblenden prägen sowohl seine Theaterinszenierungen als auch seine Filme.

Seinen ersten Film „Die Reise das Land“ dreht Kieffer 1986 – wie „Schacko Klak“ zusammen mit Frank Hoffmann. Später gehört er zu den Gründern von Samsa. Sein bevorzugtes Genre wird der Dokumentarfilm, in dem er oft die Grenzen des Dokumentarischen überschreitet: Einmal geht er mit seinem Filmteam die gesamte Luxemburger Grenze zu Fuß ab und interviewt die Menschen, denen er dabei begegnet – und begibt sich dabei auf eine Spurensuche nach der luxemburgischen Identität. „Abends kam ein Auto und holte das Filmmaterial ab“, erzählt er. Dabei fällt wie auch in den späteren Filmen Kieffers auf: Immer wieder geht es um Luxemburg. Der Regisseur analysiert sein Land mit filmischen Mitteln, bildet dessen provinzielle Wirklichkeit ab. Darin erinnert er an den frühen Wenders oder an den Franzosen Robert Bresson. In dem Dokumentarfilm „Ech war am Congo“, einer Auftragsarbeit für das CNA, befragt er Luxemburger, die einst in der belgischen Kolonie Kongo gelebt haben, nach ihren Erinnerungen. „Das waren ehemalige Knastbrüder, Beamte, Ärzte und Verwalter, viele von ihnen zutiefst rassistisch“, schildert Kieffer seine Erlebnisse. „Nach ihrer Rückkehr verloren sie alles und wurden zu Außenseitern der Gesellschaft.“

Den großen Sportidolen des Landes widmet sich der Filmemacher und Dozent für Filmgeschichte in dem Streifen „Luxemburger bei der Tour de France“. Wieder verarbeitet er eine große Menge Archivmaterial. Über den Wahrheitsgehalt des Dokumentarischen macht sich Kieffer keine Illusionen: „Als ich den Film über die Luxemburger im Kongo machte, wusste ich, dass nur die Hälfte von dem wahr ist, was sie mir erzählten“, sagt er und fügt hinzu: „Mir ist das Erfundene sowieso lieber.“ Und einen Hang zum Übertreiben habe er schon immer besessen, so Kieffer.

Für sein neues Projekt „Arabische Nächte“ hat der Filmfreak – jede Nacht schaut er sich mindestens einen Film
an – bereits das Skript fertig, das zusammen mit dem Belgier Philippe Blasband entstand, dem Drehbuchautoren von „Eine pornografische Beziehung“ und „Tango der
Raschewskis“. Darin geht es um einen jungen Nordafrikaner, der nach Luxemburg flieht und dort einem luxemburgischen Eisenbahner begegnet. „Jetzt fehlt uns nur noch ein Koproduzent“, sagt Kieffer, der zudem auch Präsident der Vereinigung der luxemburgischen Drehbuchautoren ist.

Wieder sitzt ein Kostüm noch nicht richtig bei einem Darsteller. Kurze Kaffeepause. Kieffer zündet sich eine Zigarette an. Dicke Luft im Proberaum. Der Regisseur wirkt wie die Ruhe in Person. „Si mer?“, fragt er. Die SchauspielerInnen kommen zurück. Und Thierry van Werveke humpelt wieder über die Bühne. Ein Aschenbecher, zwei, drei.


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