TRANSGENDER: Jenseits der Norm

Der Sammelband „Normierte Kinder – Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz“ zeigt interdisziplinär, dass Gendervarianten selbstverständlich sind, und verweist auf die Folgen ihrer Pathologisierung.

Simone de Beauvoirs viel zitiertes Bonmot: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“ hat, allgemeiner gefasst, heute noch immer Gültigkeit. Nachdem nach Jahrzehnten Homosexualität – zumindest in Westeuropa – gesellschaftlich weitgehend enttabuisiert ist, verharren transidente Menschen noch immer in der Unsichtbarkeit, werden kaum wahrgenommen und wenn, als „abnormal“ – sowohl gesellschaftlich wie institutionell diskriminiert. Schlimmer noch: Durch ihre medizinische Pathologisierung, dem Abweichen von der Norm und der Zuschreibung als „krankhaft“ werden hormonelle Behandlungen wie auch chirurgische „geschlechtszuweisende“ Eingriffe in der frühen Kindheit gerechtfertigt. Unter den psychischen wie physischen Folgen einer verfrühten Festlegung auf ein weibliches oder männliches Geschlecht leiden intersexuelle und transidente Menschen oft ihr Leben lang. Ein Blick in einschlägige Internetforen lohnt, um eine Ahnung davon zu bekommen, in welchem Ausmaß intersexuelle Menschen, die sich dort nicht selten als „zerschnittene Monster“ oder „Freaks“ bezeichnen, unter den an ihnen vorgenommenen Eingriffen leiden. Längst herrscht Einigkeit darüber, dass es sich bei diesen in zahlreichen Fällen eigentlich um Menschenrechtsverletzungen handelt. So veröffentlichte auch der Deutsche Ethikrat im Februar 2012 nach einem langwierigen Verfahren seine im Auftrag der Bundesregierung erarbeitete Stellungnahme zur Situation Intersexueller.

Das Zusammenfallen von Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität – eine Annahme, die über Jahrtausende in der Medizin vorherrschte – hat sich längst als Irrtum erwiesen. Und obwohl auch die medizinischen Klassifikationen, wie die ICD-10-Klassifikation (F64.9 „Störung der Geschlechtsidentität“), selbst nach wissenschaftlichem Konsens als „veraltet“ gilt, wird das Abweichen von gesellschaftlich vorgegebenen Geschlechtererwartungen in vielen Ländern häufig sogar strafrechtlich sanktioniert. – Wie im Fall der Jeanne d´Arc, die unter anderem deshalb verbrannt wurde, weil sie sich weigerte, zu schwören, dass sie nie wieder Männerkleidung tragen werde. „Wie vor hundert Jahren ist die Forderung, Kleidung und Vornamen des sogenannten anderen Geschlechts zu tragen, als Teil der Selbstbestimmung zu verstehen und trifft damals wie heute nur selten auf Akzeptanz, insbesondere bei Kindern […]. Daher erscheint es unabdingbar, sowohl Selbstbestimmung als auch geschlechtliche Selbstverortung – frei von jeglicher Pathologisierung – zu respektieren“, so Mitherausgeber Erik Schneider in seinen Schlussfolgerungen.

In Luxemburg wird die Unsichtbarkeit Intersexueller seit einigen Jahren sukzessive aufgebrochen. Das Transgender Netzwerk ITGL (Intersex & Transgender Luxembourg) unter der Ägide von Erik Schneider leistete hier Pionierarbeit (woxx 1066), und obwohl PolitikerInnen wie Medien noch immer etwas unbeholfen von Intersexualität als von einem „Phänomen“ sprechen, wird zumindest anerkannt, dass es auch diese „anderen“ Menschen gibt.

Heterogener Sammelband

Im Nachgang zu einer interdisziplinären Konferenz 2012 in der Abtei Neumünster ist nun ein Buch erschienen, das die Beiträge der KonferenzteilnehmerInnen unterschiedlicher Disziplinen versammelt. Entstanden ist ein sehr heterogener Sammelband mit insgesamt 25 Beiträgen von Ärzten, Juristen, Psychotherapeuten, Pädagogen, Soziologen, deren Beiträge sich sowohl in ihrem Blickwinkel als auch in ihrer Qualität stark unterscheiden. Ziel ist es, Menschen an die Komplexität des Themas heranzuführen und dabei möglichst Diskriminierungen zu vermeiden. So warnen die HerausgeberInnen Christel Baltes-Löhr und Erik Schneider – im Wissen um die Wirkungsmacht der Sprache – in der Einleitung zu ihrem Buch: „Bei dem Austausch innovativer Ideen und Konzepte zu den Themen Intergeschlechtlichkeit und Trans-Geschlechtlichkeit sollte ein hierarchisierendes Sprechen von sogenannten Professionellen über sogenannte Betroffene vermieden und ein gleichberechtigtes Miteinander von allen an der Konferenz Teilnehmenden unabhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit angestrebt werden.“

Der 400 Seiten umfassende Band ist in sechs Kapitel gegliedert, wobei zunächst ein thematischer Rahmen abgesteckt wird, der sich über Schwerpunkte wie „Kategorien“, „Biomedizin“, „Geschlechternormativität“ und „Transidentität“ bis hin zu „Geschlechternormativität und intergeschlechtliche Körper“ und Vorschläge zu Erziehung und Begleitpraxis erstreckt.

Am Ende der Lektüre wird klar: eine frühe Transformation eines Kindes mit uneindeutigem Geschlecht bedeutet – ohne den Willen des Kindes zu kennen – oft einen massiven Eingriff in seine Selbstbestimmung und Würde.

Aufschlussreich ist hier vor allem ein Beitrag von Jörg Woweries, selbst praktizierender Arzt und Mitglied des Deutschen Ethikrats, der auf die durch seine Berufssparte betriebene Pathologisierung eingeht. Sein Artikel diskutiert die Definitionshoheit der Medizin bei Fragen der Zuordnung intersexueller Menschen und ist insofern grundlegend, als er die vorherrschende medizinische Herangehensweise, an der er explizit Kritik übt, verstehen hilft. Begriffe wie „Zwitter“, „Hermaphroditismus“, „Zwischengeschlecht“, „Intergeschlechtlichkeit“ oder „Intersexualität“ werden in der Medizin unter der Kategorie „Disorders of Sex Development“ (DSD) subsumiert, auf Deutsch „Störung der Geschlechtsentwicklung“. Von einer solchen Störung geht die Medizin aus, wenn chromosomales, gonadales und anatomisches Geschlecht nicht übereinstimmen. Der Befund betrifft aber auch Menschen, denen weder ein „eindeutig“ männliches noch ein „eindeutig“ weibliches Genital zugeordnet werden kann. Dennoch ist klar, dass „Disorders of Sex“ in der systematischen Sicht des ICD-10 ausschließlich unter dem körperlichen Aspekt betrachtet wird. So wird im gängigen medizinisch-sexualpsychologischen Vorgehen eine Normierung der biologischen Vielfalt vorgenommen, die sich stets auf die dichotome oder binäre Vorstellung von Geschlecht bezieht.

Für intersexuelle Menschen selbst ist jedoch auch der juristische Aspekt wesentlich, da er entscheidend zu ihrer Sichtbarmachung und Akzeptanz beitragen kann. Insbesondere eine Reform des Personenstandsrechts könnte hier helfen. So verlangen viele Intersexuelle, dass im Geburtenregister und in Personalakten überhaupt kein Geschlechtseintrag vorgenommen wird; sie, die sich häufig schon als Jugendliche als „männlich und weiblich“, als „sowohl-als-auch“ oder „weder-noch“ begriffen haben, fassen es als „Entwürdigung“ auf, wenn Ärzte bei der Geburt das Geschlecht aufgrund des äußeren Anscheins als ausschließlich „männlich“ oder „weiblich“ festlegen. Auf Empfehlung des Deutschen Ethikrates (2012) wurde in Deutschland daher die zusätzliche Kategorie „andere“ eingeführt. Auch Schneider sieht in der Anerkennung der geschlechtlichen Selbstverortung in Gesetzen, Medizin sowie Erziehungssystem einen Schlüsselfaktor. Sein Vorschlag: die Streichung des Geschlechtseintrags im Geburtenregister oder zumindest seine Ersetzung durch einen fakultativen – in letzterem Fall mit einfacher Änderungsmöglichkeit auf Antrag bei einer Behörde.

Pathologisierung

Pathologisierung bedeutet im Regelfall jedoch auch Verweisung an die Psychiatrie. Denn Menschen, die einen Grenzübertritt versuchen, werden von der Medizin wegen der „Störung der Geschlechtsidentität“ als geschlechtsdysphorisch eingestuft. Woweries berichtet aus seiner Erfahrung als praktizierender Arzt an einem großen Krankenhaus in Berlin: Drei Jahrzehnte lang habe er erlebt, dass die Genitalien intersexueller, mit uneindeutigem Geschlecht geborener Menschen als „atypisch“, als „Makel“, als „Gebrechen“ behandelt wurden. Die Medizin habe angeboten, diesen „Makel“ durch chirurgische Angleichung an ein als „normal bestimmtes“ Genital äußerlich zu beheben. „Durch handwerkliches Unvermögen“ wurden so zu fast 80-90% oberflächlich weiblich aussehende Genitalien hergestellt. Woweries prangert den mit diesem Vorgehen verbundenen Mangel an Transparenz in seiner Berufssparte an. Eltern hätten in vielen Fällen mit niemandem über die Eingriffe sprechen dürfen – nicht mit der Verwandtschaft, noch nicht einmal mit dem eigenen, betroffenen Kind. Die beteiligten EndokrinologInnen und ChirurgInnen hätten sich damit selbst eine Falle gestellt: Mit dem Schweigegebot hätten sie sich „eigentlich aus der Wissenschaft verabschiedet“. Ferner kritisiert auch er, dass die selbst in Lehrbüchern zitierte „Dichotomie“ kein Dazwischen kenne. Es werde eine Einteilung in Frauen und Männer zugrunde gelegt. Intersexuelle seien regelrecht „zerschnitten“ worden; damit Kinder sich nicht an die Eingriffe erinnern könnten, habe man sie im frühen Kindesalter durchgeführt. Leider wird das Leid der Betroffenen nur vereinzelt angedeutet und in keinem Beitrag explizit geschildert – ein Manko des Buchs. Immerhin kann man an einigen Stellen Auszüge aus Erfahrungsberichten von Jugendlichen lesen, die eindrucksvoll vermitteln, auf welches Unverständnis ihr Befinden bei Psychologen
oft stieß.

Geschlechtszuweisungen durch medizinische GutachterInnen sollten gesetzlich verboten werden, fordert Woweries, und allein die Betroffenen sollten über ihre Geschlechtsidentität entscheiden können. Auch müsste ein schwellenarmer Wechsel ermöglicht werden, weil sich bei rund der Hälfte aller Intersexuellen erst während oder nach der Pubertät eine „andere Situation“ zeige.

Aufgezwungene dichotome Konzepte, Normen für Körper und Kopf, schränken Menschenrechte ein, meint Woweries. Und auch Jean-Paul Lehners, Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Menschenrechte an der Uni Luxemburg, kommt zu diesem Schluss: „Transgender-Personen dazu zu zwingen, sich einem operativen Eingriff zu unterziehen, um ihren Geschlechtseintrag ändern zu lassen, stellt eine Menschenrechtsverletzung dar.“

Abwechslungsreich ist der Beitrag von Tanguy Trillet, der/die sich dem Thema Transidentität künstlerisch annähert. Durch ihre Theater-Performance sollen die Gäste direkt mit dem „Unbehagen der Geschlechter“ (Judith Butler) konfrontiert werden. Die Performance will aufzeigen, dass Geschlecht auch im gesellschaftlichen Leben immer auch vorgespielt wird. „Eine neue Wahrheit zu schaffen, bedeutet, gegen die Logik einer Mehrheitsgesellschaft anzukämpfen, die uns in vorgefertigte Kategorien pressen will.“ Man dürfe nicht vergessen, dass Geschlecht auch durch den Blick der anderen definiert wird,
schreibt Trillet.

Bei allem Enthusiasmus für das Anliegen der Konferenz und den wertvollen Sammelband ist doch auch Skepsis angebracht. So darf man gespannt sein, ob die Transgender-Forschung als Nischenthema in Luxemburg an der Uni tatsächlich ernsthaft „als konsequente Weiterentwicklung der Frauenforschung, heute pluralen Geschlechterordnung“ fortgeführt wird, wie es in der Einleitung zu dem Band heißt. Dennoch ist die Publikation unbestreitbar ein Meilenstein und wird künftig eine nicht mehr wegzudenkende Referenz für jede(n) sein, die/der sich mit Transidentität auseinandersetzt.

Schneider, Erik/Balthes-Löhr, Christel (Hg.), Normierte Kinder, Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz, transcript Verlag 2014, 400 S.

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Am Donnerstag, dem 5. Februar, findet in der Bibliothek Cid Femmes um 19h unter dem Titel: „Wie sollen wir das Kind nur nennen? Geschlechternormativität in der Debatte“ eine Konferenz zur Publikation statt. Die beiden HerausgeberInnen Dr. Erik Schneider und Prof. Dr. Christel Balthes-Löhr führen in zwei kurzen Vorträgen ins Thema ein. Im Anschluss diskutieren die ReferentInnen mit Tanja Kieffer (CPOS), G., dem Vater eines „Trans-Kindes“, und M., einem luxemburgischen „Transmann“, über den Alltag in Familie und Schule.


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