THEATER: Die Arbeit der Kunst

Der Regisseur Hansgünther Heyme schärft seine Gesellschaftskritik gern an Stücken der griechischen Antike. In Luxemburg bringt er nach den „Scherben“ mit „Elektra“ erneut Euripides auf die Bühne.

Sein Engagement gilt der freien Entfaltung des denkenden Individuums:
Hansgünther Hemye.

Woxx: Sie wurden einmal mit den Worten zitiert: „Ich war immer zerrissen zwischen Mathematik und Philosophie, zwischen freier Kunst und Gestaltungsaufgaben.“ Schlägt sich diese Zerrissenheit auch in Ihren Arbeiten nieder?

Hansgünther Heyme: Ja, sicher. Ich pendele zwischen sehr genauer, präziser Ästhetik und relativer Geschmacklosigkeit und Wildheit. Das liegt daran, dass es bei uns an der Schule zwei ungeheuer frappante Lehrerfiguren gab. Ein Philosoph und ein Mathematiker. Zwischen den beiden schwankte ich sehr stark in meiner Zuneigung, aber auch bezüglich meiner Berufsentscheidung hin und her. Diese Zerrissenheit ist aber nicht krankhaft oder zersetzend, sondern produktiv.

Ihr Name steht für die Begründung des modernen Regietheaters, also der Etablierung explizit politischen Theaters in den Sechzigern. Wie muss man sich diese Zeit vorstellen?

Das bedeutete, dass man die alten Zöpfe abgeschnitten und die falschen Denkmäler gestürzt hat. Man hat sich von dem nationalsozialistischen Mist gelöst, der auch auf den Gemütern der Zuschauer und der theatermachenden Leute lastete. Wir haben untersucht, was Schiller wirklich geschrieben hat, was da an Verdrehungen der Nazizeit drin war und haben versucht, die Skelette der Qualitäten dieser Texte frei zu kratzen.

Im Jahr 1965 führte Ihre Inszenierung des „Wilhelm Tell“ von Schiller zu einem Skandal, der weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinausreichte. In der Schweiz wurden Sie sogar festgenommen.

Leopold Lindberg, der damalige Leiter des Schauspielhauses in Zürich, musste mich aus dem Polizeigewahrsam auslösen. Ich musste mich auch jeden Tag bei der Fremdenpolizei in Zürich melden. Das waren schon herbe Situationen für einen jungen Menschen, der versucht hat, Kunst zu machen, die kritisch auf die Zeit bezogen und nicht auf Skandale aus war.

Sie sind also von der Wirkung, die Sie erzielt haben, überrascht worden?

Das ist schon lange vor dem Tell passiert und hat mich sehr früh begleitet. Ich habe nicht versucht, Theater zu machen, um die Kaffeehäuser auseinander zu nehmen. Bei der Aufführung des „Tell“ wurden Stühle aus den Reihen gerissen, mit denen sich das Publikum verprügelte, ehe die Aggression sich auch gegen die Bühne richtete. Das war nicht meine Intention. Meine Absicht war, das Denken, das Fühlen anzuregen, damit das Publikum sich in Individuen spaltet, nicht damit es zu Massenreaktionen kommt. Das ist der Sinn von Kunstarbeit. Von heute aus betrachtet fühle ich natürlich auch eine gewisse Trauer, dass das nicht mehr passiert, weil die Zeit eine gänzlich andere geworden ist. Die Menschen, das Publikum sind ganz anders, die Leistungen, die auf der Bühne produziert werden, sind andere.

Haben Sie Strategien entwickelt, um mit den Massenreaktionen umzugehen?

Man wird subtiler, vielleicht auch bösartiger. Der Versuch muss verstärkt werden, den Einzelnen zu erreichen.

Was macht für Sie heute die politische Sprengkraft der griechischen Tragödien aus?

Schwer so knapp zu beantworten. Toll wäre, das Publikum wüsste um das Damals. Auch die Schauspieler müssten wissen, was 400 vor Christus gemeint war. Natürlich kennt ein Teil die Elektra von Sophokles. Das entbindet uns jedoch nicht davon, dieses Stück erst einmal, als sei es gänzlich unbekannt, für heute zu erarbeiten.

Sie haben mit „Elektra“ die Gegenwart im Visier.

Wenn ich so etwas mache, überlege ich mir: Was kann die ungeheure Qualität dieser Geschichte heute im Publikum auslösen? Wenn man die Zeitung aufschlägt und liest, dass ein türkischer Vater seine Tochter von ihren Brüdern erschlagen lässt, wird die Aktualität des Stückes deutlich. Diese Art von Glauben kennen wir auch aus dem Christentum. Es geht also nicht darum, den Islam zu verteufeln. Dennoch sind dies Aspekte, die zu unserem Alltag gehören.

Sie meinen die Problematik der so genannten „Ehrenmorde“. Etwa an Töchter die der Familie missliebig geworden sind, wie jüngst in Berlin?

Ja. Es geht auch darum, ob Menschen ein Recht haben, durch Selbstjustiz anderen das Leben zu nehmen. Es geht um das Ablösen von Bestimmtheiten, die unser Handeln ausmachen. Die hohe Qualität dieser Texte und ihr politisches Entstehungsmoment macht sie so ungeheuer aufregend. Denn die Aufführungen zielten darauf ab, Athen zu verändern.

Worin besteht für Sie das Besondere an der Elektra des Euripides?

Euripides holt die Elektra auf den Teppich, er verheiratet sie an einen Bauern, der kaum seinen kargen Acker bestellen kann. Elektra muss Wasser schleppen, ist völlig verarmt und ihrer Königswürde beraubt. Der Himmel ist leer, dort ist nichts außer einem versagt habenden Apoll, der Orest den Auftrag gibt, seine Mutter zu ermorden, was der gar nicht schafft. Eine orestische Figur also, die uns zunächst gar nicht bekannt ist. Ein sehr schlapper, kaputter, zögernder, verängstigter, heutiger Mensch eigentlich, der mir sehr nahe ist in seiner Unradikalität, in seiner Unprätention, in seiner Angst vor einem Mord an einem Menschen, den er gar nicht umbringen kann und will – seine Mutter eben. Letzten Endes führt ihm Elektra dann beim Mord die Hand. Diese Elektra ist eine fürchterliche Figur, angetrieben von ungeheurem Hass, von größter Eitelkeit, von Sarkasmus, von Bosheit. Warum dieser Mensch so geworden ist, erfährt man auch. Euripides‘ Elektra hat also mit der hehren Vollzieherin eines göttlichen Auftrags bei Sophokles nichts zu tun.

Bei Euripides steht auch die Frage im Vordergrund, was das für ein Gott sein mag, der eine solch mörderische Tat anordnet.

Ja. Wir erfahren eine ganz klare Demontage von Apoll. Der Gesang des Chors hat revolutionäre Inhalte. Er sagt zum Beispiel: Diese ganzen Sagen, wozu sind die eigentlich da? Doch nur dazu, die Menschen zu verängstigen. Ängste werden produziert, um dann die Ausflucht aus diesen Ängsten bei höheren Instanzen, bei der Religion zu suchen. Kastor sagt auch deutlich, dass der apollinische Auftrag falsch war.

Ein Motto von Ihnen lautet: „Theater ist subventionierte Opposition.“ Ist das nicht ein Widerspruch in sich – staatlich subventionierte Opposition?

Das erste Stück, das wir überhaupt haben, „Die Perser“ von Aischylos, war ein Zeitstück, das von den reichen Bürgern Athens subventioniert wurde. Es wurde jedoch nichts anderes getan, als diesen Reichen in die Fresse zu hauen und zu sagen: „Wie verhaltet ihr euch denn als Sieger gegenüber den Besiegten, das ist völlig falsch.“ Athen hat uns gelehrt, wie man eine Gesellschaft pflegt, feiert und zugleich total kritisiert. Eine Demokratie, die es übernommen hat, sich mit Kunst verantwortlich zu beschäftigen, muss es erdulden und geradezu lieben, von der Kunst kritisiert zu werden. Wir dürfen den Staat nicht daraus entlassen, Kunst, und damit meine ich die Kritik am Bestehenden, zu finanzieren.

Zur Person

Hansgünther Heyme wurde 1935 in Bad Mergentheim geboren. In Berlin und Heidelberg aufgewachsen, studierte er in Karlsruhe Architektur sowie u.a Germanistik und Philosophie. Erste Inszenierungen übernahm er schon während der Schulzeit. Im Alter von 28 Jahren wurde Heyme leitender Regisseur am Theater in Wiesbaden. Von 1991 bis 2003 leitete er die Ruhrfestspiele in Recklinghausen. 2004 übernahm er das Ludwigshafener „Theater im Pfalzbau“. Nachdem Heyme vor einigen Jahren bereits „Elektra“ in der Fassung von Sophokles inszenierte, wendet er sich nun jener Euripides‘ zu.

Sophokles schrieb eine heroische Elektra-Tragödie. Euripides hingegen stellt den Muttermord in den Mittelpunkt, die Blutrache Orestes und Elektras an der Mörderin ihres Vaters. Weder moralische Bedenken noch die Rechtfertigungen ihrer Mutter lässt Elektra gelten, für sie zählt einzig der göttliche Wille Apolls, der die Tötung Klytaimnestras angeordnet hat. Doch nach dem Mord kommen ihr Zweifel an der Berechtigung ihres Handelns.

Die internationale Koproduktion ist am 10., 12. und 13. Oktober in den Ateliers des Théâtre National du Luxembourg zu sehen.


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