BEHINDERUNG / SEXUALITÄT: Gegen alle Vorurteile

Behinderte Menschen und Sexualität – nach wie vor ein Tabu. Statt es zu thematisieren und neue Wege, wie die Sexualassistenz, zu beschreiten, ziehen es die Verantwortlichen vor zu schweigen.

Einmal loslassen – für behinderte Menschen ist das Ausleben ihrer Intimität nicht einfach.

„Meine Einschränkungen in der Sexualität bestehen darin, daß ich nicht so einfach flirten kann, und dass ich nicht sehe, was mein Partner von mir will“, schreibt ein junger Mann, der als Vollblinder geboren wurde in einem Blog. Charlotte dagegen kam mit einer spinaler Muskelatrophie auf die Welt. Wegen des fortschreitenden Muskelschwunds wurde ihr eine Lebenserwartung von nicht mehr als einem halben Dutzend Jahren vorausgesagt. Heute ist sie Mitte 30 und glückliche Mutter einer gesunden, lebhaften Tochter. Sie wollte nie aufgeben. „Für viele Leute sind wir eben keine Frauen, sondern ‚die Behinderten'“, berichtet Charlotte im Internet. Die meisten Menschen könnten sich nicht vorstellen, dass Behinderte Sex haben. Zwar braucht Charlotte die Hilfe ihres Mannes, der ihre Arme bewegt, ihre Beine anwinkelt, um sie in eine bestimmte Stellung zu bringen. Spontaneität kann es hier nicht geben. Sie kann sich kein Negligé anziehen, um zu verführen. „Ich bin eher Empfängerin“, beschreibt sie ihre Intimität. Ähnlich ist es bei Stefan: Er hat einmal am Lenkrad nicht aufpasst, ist gegen einen Baum gefahren und hat überlebt. Er sitzt im Rollstuhl. Für ihn war es plötzlich schwer, eine Partnerin zu finden: Oft werden Partner von Behinderten mit der Behinderung und den aus ihr resultierenden Problemen nicht fertig. „Bei mir war die erste Frau, mit der ich nach meinem Unfall sexuellen Kontakt hatte, ebenfalls querschnittsgelähmt. Das machte die Sache um einiges leichter, da ich ihr nicht lange erklären musste, was geht und was nicht“, erläutert Stefan seine Situation. Wieder anders liegt das Problem von Ines, einer Autistin. Ihre Betreuerin schreibt, dass Ines nicht versteht, wie sie mit einem Vibrator umgehen soll.

Sexualität zwischen Behinderten ist nach wie vor ein Tabu. Zwar schätzt die Gesellschaft zum Teil deren Mut und deren Kraft, von sexuellem Drang und Geschlechtsverkehr will sie jedoch im Zusammhang mit Behinderten nichts wissen. In den Augen vieler werden Behinderte zum Neutrum. Sexualität hat, gerade in einer Zeit, in der Schönheit, Jugend und Fitness groß geschrieben werden, viel mit Ästhetik zu tun. Unkoordinierte Motorik, ein künstlicher Darmausgang liegen so weit außerhalb dieser Normen, dass sich jede Anspielung auf Erotik verbietet. Dabei bedeutet eine körperliche oder geistige Abweichung vom Nichtbehinderten längst nicht, dass generelle menschliche Bedürfnisse nicht mehr vorhanden wären. Behinderte können sie aber nur erfüllen, wenn das „barrierefreie Umfeld“, über das auch in Luxemburg viel geredet wird, sich auch auf die Belange von Partnerschaft und Sexualität erstreckt.

Strukturelle Gewalt

In Pflegeheimen und Einrichtungen wurden sexuelle Wünsche von Behinderten bis in die jüngste Zeit als Tabu angesehen – auch, weil die „Aufsichtspflicht“ falsch ausgelegt wurde. Problematisch kann es werden, wenn durch Hausordnungen, z.B. Besuchsverbot, ständige Aufsicht durch das Pflegepersonal oder Fehlen von Einzelzimmern und Ausweichräumen Grenzen nicht respektiert werden. Behinderte Menschen werden in Institutionen oft gerne mit allen möglichen Alltagsangeboten beschäftigt, die Lebensthemen Liebe, Partnerschaft, Sexualität dabei aber vermieden. Und das obwohl Zuneigung, körperliche Zuwendung und Sex insgesamt und nachweislich Stress abbauen helfen und Depressionen lindern. Auch die Partnersuche, die für viele Behinderte schwierig ist, wird wenig unterstützt. So bleiben oft nur die Kontaktanzeigen, die Singlebörsen im Internet (etwa: www.handicap-love.de) oder die Nutzung der Prostitution.

Seit Luxemburg vor einem Monat die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat, steht den Betroffenen nun endlich ein neues Rechtsinstrumentarium zur Verfügung: Denn dort wird explizit die sexuelle Selbstbestimmung unterstrichen und das Recht auf Familie und Kinder betont. Papier jedoch ist geduldig – es muss endlich gehandelt werden. Das fordern mit Nachdruck Andrea und Joël Delvaux. Seit einigen Jahren sind die beiden ein Paar und haben das Glück, gemeinsam in einer betreuten Wohnstruktur für Menschen mit körperlicher Behinderung zu leben, einer der ersten im Land. Im Gegensatz zu vielen Betroffenen haben die beiden keine Scheu, über das Thema zu sprechen und den Wunsch nach Sexualität offen zu äußern. „Schon 2007 haben wir an einem internationalen Kolloquium zum Thema `Dépendance physique: Intimité et sexualité‘ teilgenommen und das Weißbuch mit den Schlussfolgerungen der Familienministerin geschickt. Es ist jedoch nie etwas passiert“, berichtet Joël Delvaux verärgert, während der schwarze Hauskater um seinen Elektro-Rollstuhl streicht. Von klein an leidet Delvaux an der seltenen Krankheit „Arthrogryposis multiplex congenita“, einer angeborenen Gelenksteife, die ihn zwar an den Rollstuhl fesselt, ihn jedoch nicht von der Berufsarbeit ausschließt: Er arbeitet beim OGBL.

Eine erste Herausforderung sei die sexuelle Aufklärung. „Gerade in Sonderschulen und im institutionellen Milieu steht Aufklärung und Sexualität nicht unbedingt auf der Tagesordnung“, weiß Delvaux, der selbst die „Ecole differenciée“ (Ediff) besucht hat. So sei es hier in der Vergangenheit vorgekommen, dass zwei Kinder im Schulhof beim Arzt-Spielen ertappt wurden. Anstatt aber den Weg der Aufklärung zu gehen und auf die Prävention hinzuweisen, ging man repressiv vor. „Es wurde dafür gesorgt, dass die beiden Kinder keine zwei Minuten mehr alleine irgendwo zusammen kommen können“, so Delvaux. Zu lange habe sich die Ausbildung der Sonderschulen ausschließlich an den Erfordernissen der Behindertenwerkstätten orientiert, statt den Betroffenen ein generelleres Schulwissen mit auf den Weg zu geben. Auch die Sexualkunde habe daher lange nicht zum Schulprogramm gehört. Er selbst habe sich mit zwei älteren Mitschülern richtig doof stellen müssen, bevor endlich das Thema an der Sonderschule angeboten wurde. „Dieser Schritt war ein riesiger Aufwand und musste erst von der Direktion bewilligt werden“, erinnert er sich und lacht.

Gegen die Isolation

Die Pubertät ist ein schwieriges Alter. Das Problem des Teenagers, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden, ist für Jugendliche mit einer Behinderung ungleich größer. „Man stößt schneller auf ein moralisches Down, da man nicht so leicht eine Freundin oder einen Freund findet. Und wenn man dann einen Partner hat, fürchtet man umso mehr, ihn wieder zu verlieren“, erklärt Joël Delvaux. Zudem ist die Auswahl an potentiellen Partnern viel geringer als bei Nichtbehinderten.

Davon weiß auch Andrea Delvaux-Da Silva Costa zu berichten. Sie wirkt etwas müde an diesem Abend, tagsüber arbeitet sie in der Fondation Kräizbierg im Bereich Buchführung. Und dennoch hat sich die junge Frau in ihrem Rollstuhl herausgeputzt und wendet sich beim Sprechen ihrem Mann zu, der das Erzählte wiederholt. Ihre Behinderung, eine degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems, schränkt sie mittlerweile auch in ihrem Sprachvermögen ein. Sie spricht stockend, manchmal undeutlich. Sie besuchte eine normale Schule, als sich die ersten Symptome ihrer Krankheit, zunehmende Gleichgewichtsstörungen, zeigten. Da sie in einen Jungen ihrer Klasse verliebt war und nicht wollte, dass er ihre Krankheit sah, blieb sie immer sitzen, bis er den Klassenraum verlassen hatte. „Es ist schwer, da man die Krankheit erst einmal selbst akzeptieren muss. Und dann ist da noch die Angst, was die anderen von einem denken“, so Andrea. Da die Lehrer ihre KlassenkameradInnen über ihr Krankheitsbild nicht aufklärten, wurde sie auch gehänselt. „Wenn Kontakt überhaupt schwer zustande kommt, dann ist es für die Partnerschaftssuche umso schwieriger“, bekräftigt Joël Delvaux.

Der ganze Lernprozess der Partnerschaft mit Flirten und allem, was dazu gehört, bleibt Menschen mit einer schwereren Behinderung oft verwehrt. Gerade die Frage der Autonomie spielt hier eine große Rolle. So werden viele Behinderte morgens mit einem Sonderbus in die Schule oder eine Betreuungseinrichtung gefahren, wo sie die ganze Zeit eingerahmt sind. Abends werden sie auf dieselbe Weise wieder nach Hause geschafft. Es fehlt daher die Möglichkeit, nach der Schule oder der Arbeit etwa noch einen Kaffee trinken zu gehen. „Zu Beginn unserer Beziehung waren wir beide in einer Institution. Da habe ich endlos Taxen bezahlt, um überhaupt nach der Arbeit mit Andrea ein bißchen Zeit verbringen zu können“, berichtet ihr Mann. Ganz ähnlich sei es mit dem Lebensraum. „Im Wohnheim mussten wir erst wie kleine Kinder um das Besuchsrecht ersuchen“, ärgert sich Joël Delvaux. Generell gebe es in den Institutionen nach wie vor eher die Haltung, wenn sich zwei Menschen nahe kommen, das eher zu bremsen – besonders, wenn sich ein Behinderter in jemanden vom Personal verlieben sollte. „Selbst wenn das Gefühl auf Gegenseitigkeit beruht, ist es vorgekommen, dass dem Personalmitglied mit Versetzung gedroht wurde“, berichtet Joël Delvaux. Es sei statistisch erwiesen, dass sich die meisten Partner bei der Arbeit, bei Freizeitaktivitäten oder im Studienkontext begegnen. Dies werde von vornherein unterbunden. „Es bereitet die Betroffenen nicht auf die reelle Welt vor: Jemand, der groß wird in dem Klima der Differenz zwischen der behinderten und der nicht-behinderten Welt, wird schwer seinen Platz in der Welt finden“, ist Joël Delvaux überzeugt. So habe er selbst lange im Sekretariat einer Schule auf Kräizbierg für alle Lehrer und Erzieher gearbeitet und zur Mannschaft gehört. „Aber immer, wenn das Personal der Schule ihr Weihnachtsessen hatte, wurde ich nicht mitgenommen“, berichtet er.

Eine Organisation, die die Partnervermittlung von Behinderten wahrnimmt, ist in Luxemburg nicht vorhanden. „Es gibt Anstrengungen im Sektor, so viel wie möglich an Mainstreamaktivitäten teilzunehmen“, meint der Leiter von Info-Handicap, Silvio Sagramola auf Nachfrage der woxx. Man bemühe sich, Ferienaufenthalte nicht nur im Gruppenrahmen zu organisieren, sondern auch individuelle Reisen zu ermöglichen. Die asbl „Tricentenaire“ etwa bietet die Dienstleistung „3,2,1 Vakanz“ an, wo Betroffene ermutigt werden, auch einmal eigenständig zu verreisen. Zudem gibt es lokale Initiativen: So organisiert die Gehörlosenorganisation „Daaflux“ seit kurzem ein sogenanntes Gebärdencafé.

Grauzone Sexualität

Auch die Fondation Autisme veranstaltet ein- oder zweimal im Jahr einen Diskonachmittag, an dem jeder teilnehmen kann (obwohl letztlich vor allem Betroffene anwesend sind). Wichtig ist eine Infrastruktur, die es zwei Menschen auch wirklich ermöglicht, einen Kontakt aufzubauen. Dazu gehören der Transport, aber auch größere Einzelzimmer in Wohnheimen oder zumindest Ausweichräume, in die sich ein Paar auch einmal übers Wochenende aus dem Leben der Einrichtung zurückziehen kann. Auch muss gewährleistet sein, dass eine körperlich behinderte Person, die zu Besuch kommt, bei Bedarf die Dienste des anwesenden Personals in Anspruch nehmen kann. Ohne diese Bedingung wären Besuche für viele unmöglich.

„Halten. Wärme geben. Die Erfüllung tiefster Grundbedürfnisse“. Das bietet „Zoé“ auf ihrer Homepage an. Sie ist eine der ersten, die als Sexualbegleiterin für Menschen mit Behinderung ausgebildet wurde. Während in Luxemburg der Bereich der Sexualität eher eine Grauzone darstellt, werden im Ausland – in Deutschland, Dänemark und der Schweiz – schon seit längerem ganz neue Wege beschritten. Andrea und Joël Delvaux fordern deshalb auch, dass das „Schweizer Modell der Sexualassistenz“ endlich in Luxemburg Einzug hält und rechtlich anerkannt wird. Denn zunehmend wird es auch für die beiden aufgrund der fortschreitenden Krankheit schwieriger, Nähe und „normalen Sex“ zu erleben. Die einzige Möglichkeit, sinnliche Bedürfnisse zu befriedigen, die es bisher in Luxemburg gibt, ist, die Dienste einer Prostituierten in Anspruch zu nehmen. Diese Lösung kommt für Andrea und Joël Delvaux nicht in Frage, einerseits aus gesundheitlichen und Sicherheitsbedenken, andererseits, da sie sich als Paar eine andere Dienstleistung wünschen. Zudem lehnen manche Prostituierte die Dienstleistungen an einer behindeten Person ab.

„Die einzige Möglichkeit, die wir zurzeit hätten, ist der Escortservice. Das Problem dabei ist jedoch nicht nur der horrende Preis – eine Leistung kostet rund 600 Euro, Kennenlernen kostet zusätzlich -, sondern auch, dass das Escortgirl freien Zugang zu unserer Wohnung hätte. Das setzt aber Vertrauen voraus, wenn man sich kaum rühren kann“, so Joël Delvaux. Gerade da einE Sexual-AssistentIn besser auf die individuellen Bedürfnisse der behinderten Person eingehen kann, stellt die Sexualassistenz, wie sie etwa in der Schweiz angeboten wird, eine sichere Alternative zur Prostitution dar. Sie soll helfen, die sinnliche „Leere“, die Menschen mit einer Behinderung oft erleben, zu lindern. Hier reicht oft schon Zärtlichkeit. „Bei diesem Dienst geht es oft erst einmal darum, einfach in den Arm genommen zu werden, und zwar von einer anderen Person als dem Pfleger, der zwar mal berührt, dann jedoch nur mit Latexhandschuhen und im Rahmen eines medizinischen Aktes“, erläutert Joël Delvaux. Von Prostituierten kann in puncto Zärtlichkeit nichts erwartet werden, sie sind meist nur auf das Geld aus und wollen sich nicht auf die Bedürfnisse eines Behinderten einstellen. „Zudem gibt es bei der Sexualassistenz strenge Regeln“, erklärt Joël Delvaux. In der Schweiz muss die- oder derjenige, die/der als SexualassistentIn arbeiten möchte, hauptberuflich in einem anderen Bereich als dem der Sexualität tätig sein. InteressentInnen müssen eine anspruchsvolle Weiterbildung mit psychologischen Tests absolvieren. Dann müssen die AbsolventInnen bei einer offiziellen Organisation eingeschrieben sein, die Anfragen von behinderten Menschen entgegennimmt, evaluiert und sich um die Vermittlung kümmert. Diese Organisation nimmt auch die Qualitätsüberwachung der Dienstleistung wahr, indem regelmäßig Supervisionen angeboten werden. Wie bei normalen Arbeitnehmern haben Sexualassistenten festgelegte Tarife. In der Weiterbildung wird das Personal zudem auf die verschiedenen Krankheitsbilder hin geschult oder Besonderheiten, wie Magensonden, Druckstellen oder sogenannte Glasknochen.

Sexualassistenz gefordert

Den differierenden Situationen entsprechend – Single oder Paar, homo oder hetero, körperliche, geistige oder psychische Einschränkung – gibt es unterschiedliche Angebote, die vom Streicheln über Hilfestellung bei der Selbstbefriedigung bis zum Sexualakt reichen. Jedem Sexualassistenten steht es frei, selbst festzulegen, wie weit sie/er gehen will. So ist eine genaue Abklärung der Bedürfnisse der behinderten Person sehr wichtig und gehört zum Service mit dazu; sie ermöglicht zudem, zunächst einmal Vertrauen aufzubauen. Im Fall einer geistigen Behinderung, bei der verbale Kommunikation nicht immer möglich ist, müssen Wünsche zum Teil erst entschlüsselt werden.

Insgesamt setzt die Inanspruchnahme der Sexualassistenz natürlich die Lust, manchmal auch den Leidensdruck, voraus, die eigene Scham beiseite zu schieben und einer außenstehenden Person Einlass in die eigene Intimsphäre zu gewähren. Darum gibt es auch Behinderte, die fordern, dass den PflegerInnen, die ihre Patienten ja am besten kennen, rechtlich die Möglichkeit eingeräumt wird, sexuelle Hilfestellungen anzubieten. Der Nachteil dieser Lösung ist, dass dieselbe Person, die dem Menschen aufs Klo hilft, danach bei der Selbstbefriedigung assistiert. Die Delvaux‘ bevorzugen hier eher die neutrale Lösung der Sexualassistenz. „Für mich wäre eine SexualassistentIn wie ein technisches Hilfsmittel“, überlegt Andrea. Sie mußte wie viele andere, schon mehrmals in ihrem Leben akzeptieren, dass Fremde sich in ihren Lebensbereich mischten, etwa als sie das erste Mal fremde Hilfe beim Waschen annehmen musste. Noch heute können sich Menschen mit Behinderungen oft nicht aussuchen, ob eine männliche oder weibliche Person sie wäscht oder aufs Klo setzt. Manchmal kommt es vor, dass dazu sogar junge Praktikanten aufgefordert werden. „Es gibt auch Wohnheime, da werden am Duschtag Behinderte nackt auf Tragen gelegt. Und während die einen nackt im Flur warten, werden andere nackt aus der Dusche gefahren“, ergänzt Joël Delvaux. So wird einerseits das Intimleben von behinderten Menschen oft nicht respektiert – andererseits aber ist ihre Körperlichkeit, soweit es um Sexuelles geht, ein Tabu. Immerhin gibt es heute einige Pfleger, die gelassener mit dem Thema umgehen und auf Nachfrage auch einmal Hilfe zur Selbsthilfe leisten.

Einige Einrichtungen gibt es in Luxemburg, die auf Wunsch von Behinderten und sofern sich ein Pfleger als Begleitperson bereit erklärt, den Transport zu Prostituieren übernehmen. Auf Nachfrage der woxx wollten die betreffenden Einrichtungen jedoch nicht namentlich genannt werden. Rechtlich ist diese Situation natürlich nicht unkompliziert. Dennoch ist es schade, dass die Organisationen nicht den Mut haben, an die Öffentlichkeit zu gehen. Letztlich wird so ein Tabu weiter tradiert und eine Grauzone weiterhin aufrechterhalten. Hier stellt sich die Frage, ob es nicht ein grundsätzliches Recht auf Sexualität gibt? Und ob nicht gerade Einrichtungen, unter deren Obhut sich diese Menschen befinden, die Pflicht haben, sich für dieses Recht stark zu machen – Reformen zu fordern, statt Realitäten zu kaschieren?

Gerade bei den Institutionen ist das Lebensthema Sexualität, Partnerschaft, Liebe und Nachwuchs ein schwierges Thema. „Es ist oft mit Ängsten verbunden und tangiert die Verantwortung, die Institutionen für ihre Schutzbefohlenen tragen: Was passiert wenn eine Bewohnerin einer Institution plötzlich schwanger wird – wie reagiert die Familie?“, fragt Silvio Sagramola von Info-Handicap.

Bisher jedoch hat sich kaum eine Organisation – auch Info-Handicap ist in diesem Bereich bisher eher wenig aktiv geworden – mit der Frage befasst, welche Sexualität- und Familienrechte die Gesellschaft den behinderten Menschen in unserem Land überhaupt zugesteht. Laut Erfahrungsberichten von Betroffenen wurde in Einrichtungen die Verhütungspille sehr lange per se vergeben. Zu oft wurde Behinderten, die einen Kinderwunsch äußerten, abgeraten – auch wenn eine Krankheit sich nicht unbedingt genetisch vererbt hätte – statt ernsthaft nach Lösungen zu suchen. Eine Rolle spielt auch hier wiederum sicherlich, dass es kaum betreute Wohnplätze für Familien gibt. Es scheint klar, dass sehr günstige Beziehungs- und Rahmenbedingungen gegeben sein müssen, wenn Kinder von geistig behinderten Eltern entsprechend unterstützt aufwachsen sollen. Und es schließt sich die Frage an, ob Sexualaufklärung ausreichend auf die Einzelperson abgestimmt ist. „Wenn eine behinderte Frau schwanger wird und der Arzt auch nur vermutet, dass das Kind behindert sein könnte, wird gerne auf eine Abtreibung gedrängt“, so Joël Delvaux, der am Lenksystem seines elektrischen Rollstuhls herumzupft. „Letztlich sollte jedoch die Frau alleine entscheiden dürfen, was sie will.“ Es ist ein komplexes Thema. Bis Behindertenrechte tatsächlich als Menschenrechte anerkannt werden, scheint es noch ein langer Weg.

Marcel Nuss gehört zu den Vorkämpfern der Rechte für Behinderte und setzt sich in Frankreich für die Anerkennung der Sexualassistenz ein. Nachdem er 2007 ein Kolloquium zum Thema „Dépendance physique : intimité et sexualité“ organisiert hatte, veröffentlichte er das vielbeachtete Weißbuch „Handicaps et sexualités“ zum Thema. Er selbst leidet unter der progressiven spinalen Muskelatrophie und ist mittlerweile komplett bewegungsunfähig. Dennoch hat Nuss zwei Kinder, war verheiratet, wurde geschieden und lebt zurzeit mit einer neuen Partnerin zusammen. Es sind vor allem seine erfüllten Partnerschaften, die ihn bewogen haben, sich zu engagieren. Er selbst hat auch das Elend der Isolation wegen seiner körperlichen Einschränkungen erlebt. So setzt er sich in Frankreich für das Recht von Behinderten auf Sexualität ein und kämpft für eine Legalisierung der Sexualassistenz: Bisher kann eine Institution, die Behinderte an SexualassistentInnen weitervermittelt, wegen Zuhälterei belangt werden. Um dem entgegenzuwirken, muss der Status der SexualassistentInnen geregelt werden. 


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