Andrea Arnold: Das vergessene Amerika

In ihrem ersten in Amerika gedrehten Film „American Honey“ erzählt die britische Filmemacherin Andrea Arnold von Menschen, denen mangels Perspektiven letztlich nur der Rückzug auf sich selbst bleibt.

Wie wäre es wohl, sein altes Leben hinter sich zu lassen und einfach aufzubrechen? „American Honey“ erzählt von einem solchen Neuanfang, der möglicherweise aber nur eine Zwischenetappe im Leben der Hauptperson, der 18-jährigen Star (Sasha Lane), darstellt. In dem Film hat die Vorstellung der Freiheit zentrale Bedeutung, obwohl keine der Figuren im Grunde frei ist. Zumindest die Protagonistin dürfte sich aber zeitweise so fühlen, entflieht sie doch einem Alltag, wie er trostloser kaum sein könnte. Star hat kein Geld, sie lebt in einem Trailer Park, ihr Essen kommt aus der Mülltonne, sie muss sich um ihre kleinen Geschwister kümmern, ihr Vater missbraucht sie regelmäßig. Dann lernt sie eines Tages Jake (Shia LeBoeuf) kennen, der ihr vorschlägt, sich ihm und einer Gruppe junger Leute anzuschließen, die im Kleinbus quer durchs amerikanische Hinterland fahren, um Zeitschriftenabos zu verkaufen. Star stimmt zu, nicht nur weil sie eine Arbeit braucht, sondern auch wegen Jake, dem sie von der ersten Minute an hoffnungslos verfallen zu sein scheint. Und so bricht sie mit einer Gruppe Unbekannter auf, ohne zu wissen, was auf sie zukommt. Alles, wird damit suggeriert, ist besser als ihr bisheriges Leben.

Das letztes Jahr in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnete Road Movie mutet in vielem dokumentarisch an: Die Dialoge wirken naturalistisch, das Treiben des größtenteils aus AmateurInnen bestehenden Casts wird mit teils wackliger Handkamera eingefangen. An die Stelle einer klassischen Dramaturgie tritt ein fokussierter Blick auf zwischenmenschliche Interaktionen und ein gewisses Lebensgefühl. Über Stars ArbeitskollegInnen erfahren die ZuschauerInnen nur das Nötigste, im Vordergrund steht die Dynamik in dieser Gruppe desillusionierter Menschen, die sich aus finanzieller Not zusammengefunden haben und sich an dem wenigen erfreuen, das sie besitzen. Star bleibt in der Gruppe eher isoliert; einzig zu Jake baut sie eine Beziehung auf. Es geht aber auch um die Menschen, denen die Truppe unterwegs begegnet. Dieser Blick auf ein Amerika, wie es auf der großen Leinwand nur selten zu sehen ist, verleiht „American Honey“ seine Besonderheit.

Schon 2009 befasste sich die Filmemacherin Andrea Arnold in ihrem Film „Fish Tank“ mit dem Lebensalltag eine Frau aus den unteren Schichten der Gesellschaft. Auch in diesem Werk stand die Beziehung zu einem Mann im Zentrum, der einen Ausbruch aus dem Bestehenden zu verheißen schien. Und wie in „Fish Tank“ geht es auch in „American Honey“ um die Art und Weise, in der die Protagonistin ihre Geschlechtlichkeit und Sexualität einsetzt, um gewisse Ziele zu erreichen – wenn auch nicht immer mit Erfolg. Und so befindet sich die junge Frau stets an der Grenze zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe. Was in eine moralisierende Geschichte über Verantwortungsflucht hätte abgleiten können, meistert die Regisseurin in ihrem neuen Film als einfühlsame, aber sachliche Behandlung des Verlangens nach Autonomie und Zugehörigkeit und der Suche nach Alternativen, die es möglicherweise gar nicht gibt.

Letzte Woche im Rahmen des „#OutOfTheBox“, demnächst in den Sälen.


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