Arbeitsmarkt & Lebenswelt
: Chronisch ignorant


Wenn man mit einer schwer heilbaren Krankheit leben muss, ist es nicht zuletzt die verständnislose Umwelt, die zum Verlust an Lebensqualität beiträgt. Das gilt vor allem in der Arbeitswelt.

In einer Gesellschaft, in der jeder ständig mit seiner Selbstoptimierung beschäftigt ist und man sich für den Arbeitsmarkt fit macht wie für den Überlebenskampf, scheint für die Fähigkeiten von Personen mit chronischen Erkrankungen keinen Platz zu sein. (Foto: Wikimedia)

In einer Gesellschaft, in der jeder ständig mit seiner Selbstoptimierung beschäftigt ist und man sich für den Arbeitsmarkt fit macht wie für den Überlebenskampf, scheint für die Fähigkeiten von Personen mit chronischen Erkrankungen keinen Platz zu sein. (Foto: Wikimedia)

„Man hätte ja auch reden können, gemeinsam eine Lösung suchen können. Stattdessen wurde ich eiskalt abserviert.“ Denis Garzaro fällt es noch immer schwer zu verstehen, wie die Direktion an seinem früheren Arbeitsplatz auf seine gesundheitlichen Probleme reagiert hat.

45 Jahre alt ist der verbeamtete Erzieher, und er leidet an einer genetisch bedingten Krankheit, dem Marfan-Syndrom. Sie zeichnet sich unter anderem durch eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Instabilität der Bindegewebe des Körpers aus. Das bedeutet, dass beispielsweise die Hauptschlagader reißen kann. Dies war beim Vater von Denis Garzaro der Fall, ebenso bei seinem Bruder und einer Cousine, die alle drei an den Folgen der erblich bedingten Erkrankung verstorben sind.

Garzaro hatte sich daher bereits vor knapp zehn Jahren für eine komplexe präventive Operation entschieden, die eine langwierige Rekonvaleszenz mit sich brachte. Als er nach einem Jahr an seinen Arbeitsplatz, eine Einrichtung für schwer erziehbare Jugendliche, zurückkehrte, wurde ihm vom Arzt verordnet, Stress zu vermeiden. Man fand in seiner Dienststelle eine Halbtagsstelle für ihn, wo er unter anderem auch mit administrativen Tätigkeiten betraut wurde. Dennoch passierte einige Jahre später, was die präventive Operation eigentlich verhindern sollte: seine Aorta vergrößerte sich stark und riss. Mit einem komplizierten Eingriff konnte sein Leben gerettet werden. Noch einmal war er für längere Zeit krankgeschrieben.

„Als ich wieder arbeiten wollte, wurde mir von der Direktion gesagt: ‚nee, lass‘ mal, das geht schon!‘ Irgendwann hat es mir gereicht. Ich bin dann wieder zur Arbeit.“ Ein Jahr hat er in Teilzeit gearbeitet, der Lohnausgleich zum Gehalt einer Vollzeitstelle wurde über den „congé pour raison de santé“ finanziert.

„Nach dem Ende dieses Jahres teilte mein Arbeitgeber mir schriftlich mit, dass ein weiterer congé nicht bewilligt werde“, erinnert sich Garzaro. „Entweder ich soll nun halbtags arbeiten, ohne Lohnausgleich, oder in Invalidenrente gehen.“ Da wurde ihm klar, dass man ihn als halbtags Beschäftigten an seiner alten Dienststelle nicht haben wollte, schon gar nicht unter Rücksichtnahme auf seine gesundheitliche Situation.

Mangel an Akzeptanz

Es ist schwierig, herauszufinden, wie viele Menschen in Luxemburg Ähnliches erfahren, weil sie unter chronischen und seltenen genetischen Erkrankungen leiden. Eine vom Forschungsinstitut Ceps/Instead in Auftrag gegebene Studie aus dem Jahr 2009, deren Datenerhebung allerdings bereits auf das Jahr 2003 zurückgeht, sieht den Anteil der 16- bis 49-Jährigen mit chronischen Krankheiten bei 16 Prozent. Im Alter von 50 bis 64 sind es 35 Prozent, ab 65 Jahren gar 50 Prozent. Es handelt sich also um ein Problem, das mit dem Altern der Gesellschaft noch zunehmen wird.

1387stoosAls chronische Krankheiten versteht man gemäß einer Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO länger andauernde Leiden, die in der Regel langsam fortschreiten. Sie sind weltweit für rund 60 Prozent aller Todesfälle ursächlich. Frauen leiden häufiger als Männer an chronischen Erkrankungen, zu denen beispielsweise Lungenkrankheiten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Diabetes, wie auch Depressionen und andere psychische Leiden gehören. Darüber hinaus gibt es unzählige genetische Erkrankungen, die für sich genommen selten und daher für jedes Gesundheitswesen eine Herausforderung sind.

„80 Prozent aller seltenen Krankheiten sind genetisch bedingt“, sagt Marc Ries. „Es gibt an die 7.000 verschiedene seltene Krankheiten“, so der Geschäftsführer der Asbl ALAN, die sich für die Belange der Betroffenen einsetzt. Darunter fallen laut Ries etwa ALS, eine fortschreitende Erkrankung des motorischen Nervensystems, die durch die „Ice Bucket Challenge“ bekannt geworden ist, oder „Progeria, wo der Laie oft sagt, da sehen Kinder wie alte Menschen aus, aber auch seltene Krebsformen, insbesondere bei Kindern“.

Indes sieht man insbesondere chronische und seltene Krankheiten den Betroffenen meist nicht an: „Das führt dann auch zu Problemen bei der Akzeptanz“, so Marc Ries, „weil die Erkrankten auf den ersten Blick wie gesunde Menschen aussehen.“ Auch Ries berichtet davon, dass Probleme insbesondere auf dem Arbeitsmarkt auftauchen.

Meist beginnt das bereits auf dem zuweilen sehr langen Weg zur Diagnose. „Solange man keine klare Diagnose hat, führt das zu Schwierigkeiten bei der Krankenkasse, am Arbeitsplatz, aber auch im direkten Umfeld, bei Freunden, in der  Schule.“

Psychische Belastungen

Ein Beispiel: „Die Betroffenen sind oft sehr müde. Die Krankheit, die vielen Arzttermine, die Medikamente, das kostet viel Kraft“, so Ries. „Oft heißt es dann bloß, du musst halt früher schlafen gehen.“

Zur physischen Erkrankung tritt so häufig die psychische Belastung. „Der Betroffene macht sich anfangs oft selber Vorwürfe“, sagt Ries. Deshalb sei es wichtig, sich bewusst zu machen, dass es immer noch einen gesunden Teil gibt, dass man etwas leisten könne. Eine Bestätigung, die sich in unserer Gesellschaft vorwiegend über die Arbeit ergibt. „Die Arbeit hilft außerdem, die Krankheit etwas aus dem Fokus zu rücken, denn oft geht es nach der Diagnose in vielen Bereichen – beim Arzt, in der Familie, am Arbeitsplatz – immer nur um die Krankheit“.

Dass Arbeit im Zusammenhang mit chronischer Erkrankung eine große Rolle spielt, können auch Vera Bintener und Andrea di Ronco von „Info-Handicap“ bestätigen. „Chronische Erkrankungen sind Behinderungen, die häufig erst im Laufe eines Arbeitslebens zum Tragen kommen, also Leute betreffen, die bereits eine Arbeitsstelle haben“, sagt Bintener, die wie ihr Kollege di Ronco als Pädagogin im juristischen Informationsdienst der Beratungsstelle tätig ist. „Manche können wohl noch arbeiten, müssen aber vielleicht ihre Arbeitszeit reduzieren.“

In solchen Fällen kommt das Gesetz zur beruflichen Wiedereingliederung zum Tragen, das für Angestellte und Arbeiter in der Privatwirtschaft so genannte „reclassements internes“ beziehungsweise „externes“ vorsieht. Die interne Wiedereingliederung zielt darauf ab, dass Arbeitnehmer, die aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sind, ihre letzte Tätigkeit auszuüben, im selben Unternehmen einen anderen Arbeitsplatz bekommen. Außerdem besteht die Möglichkeit, die Arbeitszeit zu reduzieren; die Differenz zwischen dem geminderten Lohn und dem Gehalt, das vor der Erkrankung erzielt wurde, wird aus der Sozialversicherung beglichen. Die externe Wiedereingliederung bezeichnet den Wechsel in ein anderes Unternehmen.

Carlos Pereira vom OGBL, der für seine Gewerkschaft in Anspruch nimmt, das betreffende Règlement grand-ducal seinerzeit mit initiiert zu haben, sieht die Errungenschaften dieser Maßnahmen, ist aber dennoch nicht zufrieden. „Viele Betriebe haben wenige Möglichkeiten, interne Reclassements vorzunehmen. Das führt dazu, dass den Betroffenen Arbeitsplätze zugewiesen werden, die zwar speziell auf sie zugeschnitten wurden, aber für sie nicht sehr befriedigend sind. Häufig sind wir zudem damit konfrontiert, dass der Arbeitgeber den Beschäftigten nach dem Ende des Kündigungsschutzes doch noch loszuwerden versucht“, sagt der Sozialsekretär.

Viele Berührungsängste

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Ein Genie, über dessen chronische Erkrankung ganze Bücher geschrieben wurden: der Komponist Ludwig van Beethoven (1770–1827). Gemälde von Joseph Karl Stieler. (Foto: Fraunhofer/Wikimedia)

Ein Blick auf die Statistiken der ADEM zeigt immerhin, dass sich das Verhältnis interner und externer Wiedereingliederungen in den vergangenen Jahren zugunsten der ersteren verändert hat. Waren noch in den Jahren 2012 und 2013 rund zwei von drei Betroffenen gezwungen, den Arbeitgeber zu wechseln, so konnten 2015 immerhin 40 Prozent in ihrem Betrieb verbleiben. Dennoch zeigen diese Zahlen, dass nicht einmal die Hälfte auf eine erfolgreiche Unterstützung des Arbeitgebers hoffen kann.

Positive Beispiele weiß Marc Ries von ALAN vor allem von Unternehmern zu berichten, die den Beschäftigten schon lange kennen. „Hier werden seine Leistungen und Kompetenzen am ehesten anerkannt“, so Ries. „Andererseits drücken sich manche Arbeitgeber davor, eine Lösung zu suchen.“ Die Betroffenen rutschen in das ‚Reclassement externe‘, was bedeutet, dass ein neuer Arbeitgeber gefunden werden muss. Für kleinere Betriebe ist es naturgemäß problematisch, einen adäquaten Arbeitsplatz einzurichten; auch im Baugewerbe tun sich die Unternehmer besonders schwer.

Mit der Gesetzesänderung, die Anfang des Jahres in Kraft getreten ist, soll der Druck auf die Unternehmen erhöht werden, wie Pierre Bayonnove berichtet, der als Abteilungsleiter des „Service handicap et reclassement professionnel“ bei der ADEM für das Thema zuständig ist. „Bis Ende 2015 gab es noch die Quoten, die die Arbeitgeber einhalten mussten. Seit 2016 stehen Betriebe mit über 25 Beschäftigten grundsätzlich in der Pflicht, für Arbeitnehmer, die wieder eingegliedert werden müssen, eine entsprechende Stelle zu schaffen.“

Denis Garzaro, der als Staatsbeamter nicht unter das erwähnte Gesetz fällt, musste lange darum kämpfen, damit es eine entsprechende Regelung auch für Funktionäre gibt. Seit Oktober 2015 ist es nun auch ihnen möglich, halbtags bei vollem Lohnausgleich zu arbeiten. Als Berechnungsgrundlage dient wie in der Privatwirtschaft jeweils der letzte Lohn als Vollzeitbeschäftigter. Somit können sowohl Staatsbeamte wie Arbeiter und Angestellte von Lohnerhöhungen und Prämien nicht profitieren, denn die „indemnité compensatoire“ wird entsprechend reduziert. „Mein Lohn ist also für die nächsten zehn Jahre eingefroren“, so Garzaro, „das ist schlicht und ergreifend ungerecht!“

Gemeinsam mehr erreichen

Garzaro, der als Vater von zwei Kindern in den vergangenen knapp vier Jahren gezwungen war, Invalidenrente zu beziehen, da er bei einer Teilzeitbeschäftigung keinen Ausgleich erhalten hätte, kann nun seit einigen Monaten wenigstens überhaupt wieder arbeiten. Darüber ist er sehr froh. Nun kann auch seine Frau, die der Familie in den vergangenen Jahren, wie er sagt, „die Stange hielt“, wieder etwas langsam machen. Garzaro selbst ist bemüht, in Vorträgen auf die Situation von Menschen mit seltenen Krankheiten in Luxemburg aufmerksam zu machen und hat erfahren, dass man mit Engagement etwas erreichen kann. Er möchte andere ermutigen, es ihm gleich zu tun: „Man erreicht leichter etwas, indem man sich mit anderen zusammentut, wenn man eine Sache vertritt.“

Mit der eigenen Erkrankung so offensiv umzugehen, wie Garzaro das tut, ist allerdings gar nicht so leicht. Insbesondere gegenüber dem Arbeitgeber haben viele Betroffene Angst, ihre Situation offen anzusprechen. „Man weiß ja nicht, wie der Arbeitgeber reagieren wird“, benennt Andrea di Ronco von „Info-Handicap“ eine gängige Befürchtung. Die Institution, die er vertritt, kann hier Hilfe anbieten. „Wir können eine Vorgehensweise vorschlagen, wie man das gegenüber dem Arbeitgeber praktisch angeht.“ Auch über die verschiedenen Rechte und Möglichkeiten könne man umfassend informieren. Für ALAN gilt das ebenso.

Letztlich geht es darum, auf beiden Seiten Berührungsängste abzubauen. Oftmals werde „lieber nicht geredet, anstatt gemeinsam nach einer Lösung zu suchen“, sagt Marc Ries. Das führe dazu, dass Gespräche „in der Regel spät, oft auch zu spät stattfinden. Es dauert häufig sehr lange, bis Betroffene uns kontaktieren.“

(Photo: Pixabay)

(Photo: Pixabay)

Allerdings sind es längst nicht allein die Unternehmer und Arbeitgeber, die eine Behinderung für all jene darstellen, die mit chronischen und seltenen Erkrankungen leben. „Wenn man dann nach einem Reclassement einer Arbeit nachgehen muss, die einen nicht mehr so erfüllt, hat das oft Konsequenzen“, sagt Pädagogin Bintener: „Da haben Leute mit Minderwertigkeitsgefühlen zu kämpfen; das ist insbesondere bei Männern der Fall, sie fühlen sich nicht mehr als vollwertig, da haben alte Rollenverständnisse dann doch noch eine Bedeutung. Ohne Arbeit hat man nicht die gleiche Stellung in der Gesellschaft, das hört man immer wieder als Konsequenz.“

Bintener wünscht sich daher vor allem eine andere Mentalität. „Menschen mit einer chronischen Erkrankung können sehr viel Produktivität entfalten, können innovative Ideen entwickeln. Es ist ja nicht so, dass Krankheit immer nur Einschränkung bedeutet.“

Für Denis Garzaro steht eine Aussprache mit den Verantwortlichen seiner früheren Einrichtung noch aus. Ihn würde interessieren, weshalb man sich ihm gegenüber damals so verhalten hat. Er wird sich weiter für eine Verbesserung der Situation von Menschen mit chronischen Erkrankungen engagieren. Alles beginnt damit, dass seine Umwelt zumindest eines versteht: „Ich habe eine seltene genetische Krankheit, die ich mir nicht ausgesucht habe, und an der ich nicht schuldig bin.“


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