Autobiographischer Roman
: Parlando des Widerstands


Das Buch „Mein deutscher Bruder“ von Chico Buarque handelt von der brasilianischen Militärdiktatur und von der Suche nach seinem Halbbruder in der DDR. Dem Ernst des Themas trotzend, ist es voll munterer Ironie.

Chico Buarques „deutscher Bruder“: Sergio Günther erlangte in der DDR eine gewisse Prominenz als Schlagersänger, Moderator sowie Radio- und Fernsehentertainer. (Foto: Internet)

Chico Buarques „deutscher Bruder“: Sergio Günther erlangte in der DDR eine gewisse Prominenz als Schlagersänger, Moderator sowie Radio- und Fernsehentertainer. (Foto: Internet)

Chico Buarque ist einer der berühmtesten Liedermacher Brasiliens unter den Musikern der „música popular“. Seine Verse sind große Dichtkunst. „Vater, nimm diesen Kelch von mir weg mit dem Rotwein aus Blut“ – die Zeilen aus dem Lied „Cálice“ hat Buarque weniger an den eigenen Vater gerichtet als an die gesamte Vätergeneration. Der Song, während der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) entstanden, ist eine Anklage.

Im Jahr des Putsches war er 20 Jahre alt; 1970 kehrte Buarque nach anderthalb Jahren aus dem Exil in Italien zurück. Auch Caetano Veloso und Gilberto Gil, die beiden anderen berühmten Vertreter des „Tropicalismo“, wie die politisch geprägte Musikrebellion Brasiliens genannt wird, mussten für ein paar Jahre emigrieren. Der Tropicalismo war mehr als eine musikalische Epoche in der Geschichte des Landes, sondern eine politisch-gesellschaftliche Bewegung, oder besser gesagt „eine Lebenshaltung, eine kulturelle Einstellung, ein Konzept“, wie es Gilberto Gil einmal formuliert hat.

Seinen Durchbruch als Musiker erlebte er 1966. Doch Buarque hat zugleich auch Theaterstücke veröffentlicht – unter anderem das 1967 uraufgeführte „Roda Viva“. Seit den Neunzigerjahren erscheinen auch Romane von ihm. Der Sprössling des gehobenen Mittelstandes, aufgewachsen in einem intellektuellen Umfeld, studierte zuerst Architektur in São Paulo. Mit neun Jahren schrieb er Texte für Karnevalsumzüge, mit 18 seine erste Erzählung. Sein Traum sei es gewesen, zu singen wie João Gilberto, zu komponieren wie Tom Jobim und zu dichten wie Vinicius de Morães.

Ein immer wiederkehrendes Thema des heute 72-jährigen Buarque ist die Wahrnehmung eines vergehenden Lebens und der unaufhaltsame Bedeutungsverlust des Vergangenen. „Mein deutscher Bruder“ ist ein Roman mit einem autobiographischen Kern. Es handelt von Buarques Suche nach seinem Halbbruder, den sein Vater Sergio Buarque de Holanda, ein bekannter Journalist, Soziologe und Historiker, Autor von „Die Wurzeln Brasiliens“, 1930 in Berlin mit einer Deutschen unehelich gezeugt hatte. Die Spur des Kindes verlor sich in den Wirren des Krieges. Bis Chico Buarque im Nachlass seiner Eltern eine Schachtel mit dessen Briefen entdeckte. Von einem Halbbruder in Deutschland hatte er bereits zuvor erfahren. Doch in der Familie wurde darüber geschwiegen.

Die Vermischung von autobiographischen und fiktiven Elementen verschafft dem Autor die nötige Distanz zu dem Thema.

So reiste der große Musiker 2013 auf eigene Faust nach Berlin und fand die Spur des Bruders tatsächlich: Dieser war einst, wie Buarque selbst, ein Sänger. Sergio Günther erlangte in der DDR eine gewisse Prominenz als Schlagersänger, Moderator sowie Radio- und Fernsehentertainer. Günther starb 1981.

Buarques Alter Ego im Roman, Ciccio genannt, ist noch jung, als er in der Bibliothek des Vaters beim Blättern in einem Buch auf einen Brief von einer Deutschen namens Anne Ernst aus dem Jahr 1931 stößt, der an den Vater gerichtet war. Die Entdeckung weckt seine Neugier, ja sogar die Sehnsucht nach dem unbekannten Halbbruder und lässt ihn nicht mehr los: „Eines Abends platzte ich mitten beim Essen ohne Vorwarnung heraus: Ich würde mich für einen deutschen Sohn nicht schämen. Mein Vater erstarrte mit der Gabel vor dem Mund, während mein Bruder im Playboy neben seinem Teller weiterblätterte. Nur Mama, sekundenlang sprachlos, äußerte sich: Aber wer schämt sich denn für einen deutschen Sohn, Ciccio?“

Ciccio ist sich sicher, dass seine Mutter Bescheid weiß über seinen deutschen Bruder. Buarque hat in dem Roman im Vergleich zur Realität einiges verändert. Aus seiner Mutter, einer Künstlerin, wurde eine italienischstämmige Hausfrau, aus sechs Geschwistern machte er einen verhassten Bruder, einen Macho, der dem jüngeren Ciccio durch seine Erfolge bei Frauen das Leben schwer macht und der, obwohl nie politisch gegen das Regime aktiv, von den Militärs entführt, gefoltert und ermordet wird.

Das Buch ist amüsant und voll munterer Ironie – vergleichbar mit dem Vorgängerwerk „Vergossene Milch“, doch etwas dezenter. Es liest sich fließend, Buarques Tonfall erinnert an das Parlando der Bossa Nova. Doch zugleich ist er präzise und voller Raffinesse, jedes Detail ergibt im Kontext des gesamten Romans einen Sinn. Die Sprache bewegt sich stets am Rande der Ernsthaftigkeit, so ernst das Thema auch ist. Dies auf Deutsch zu übertragen, ist eine Meisterleistung der Übersetzerin Karin von Schweder-Schreiner, wie schon in „Vergossene Milch“ und zuvor in dem Roman „Budapest“.

Chico Buarque erfuhr aus der Korrespondenz seines Vaters mit den deutschen Behörden, dass die ledige Mutter das Kind zur Adoption freigegeben hatte. Briefe von Sergio Buarque de Holande, in denen er anbot, seinen Sohn nach Brasilien zu holen, beantwortete sie nicht.

Die Vermischung von autobiographischen und fiktiven Elementen, von Dichtung und Dokumentation, verschafft dem Autor die nötige Distanz zu dem Thema – und es erlaubt ihm, politische Bezüge miteinzubauen. Wieder spielt auch die brasilianische Diktatur eine große Rolle, ein Thema, das in der derzeit schwierigen Lage, in der sich Brasilien befindet, aktueller denn je ist. Denn ausgerechnet das alte Establishment scheint zurück an die Macht gelangt und hat großes Interesse, die dunklen Seiten der brasilianischen Geschichte unter den Teppich zu kehren.

Die Diktatur bildet den Hintergrund des Buchs. Es verschwinden Menschen, darunter der ungeliebte Bruder, obwohl dieser nie politisch aktiv war, aber einmal mit der falschen, weil verdächtigen Frau unterwegs. Die Polizei kommt zur Hausdurchsuchung. Was auffällt: Reden kann Ciccio mit seinem Vater nicht. Ihm bleibt einzig und allein die Suche in dessen wachsender Bibliothek, eine Art subversives Bollwerk gegen die Diktatur

Es wird in der Tat viel gelesen in dem Roman, der auch ein wenig ein Porträt es des linken brasilianischen Bildungsbürgertums ist, das, an Privatschulen europäisch gebildet, seine besten Tage gesehen hat und aus dem die Generation des Tropicalismo entsprang. In der Bibliothek des Vaters stehen Werke von Ernst Jünger, der Protagonist liest neben vielen anderen Fernando Pessoa. Seiner Flamme schenkt Ciccio Bücher von Flaubert und Baudelaire, die er bei seinem Vater getohlen hat.

Chico Buarque und Sergio Günther, der eine ein Gegner der brasilianischen Diktatur, der andere ein Günstling und Mitläufer des SED-Regimes in der DDR, haben sich nie getroffen. Doch Buarque hat die Tochter des Deutschen ausfindig gemacht.

Er wisse manchmal nicht, was Erinnerung sei und was Fantasie oder Traum, so Buarque. Wie in „Vergossene Milch“ verschwimmen historisch belegbare Fakten mit den subjektiven Wahrnehmungen. Das ist nicht etwa eine Schwäche des Buchs, sondern eher ein Appell, sich mit der brasilianischen Geschichte auseinanderzusetzen.

Noch immer mischt sich Chico Buarque in die Politik ein. Erst kürzlich, im Mai, hat er gegen die Rechtsregierung von Interimspräsident Michel Temer und gegen die Suspendierung von Staatschefin Dilma Rousseff protestiert. Bei den Protesten mit dabei war auch wieder Caetano Veloso, ein alter Kampfgefährte. Sie demonstrierten zusammen mit anderen Kulturschaffenden gegen die Abschaffung des Kulturministeriums. Und sie unterzeichneten ein Manifest gegen die Bedrohung der Demokratie. Nach mehr als einem halben Jahrhundert haben weder sie noch ihre Lieder ihren Zauber verloren.

Chico Buarque sieht in dem Impeachment gegen Dilma Rousseff, von deren Anhängern als „institutioneller Putsch“ bezeichnet, Parallelen zu 1964, als die Militärs den linken Präsidenten João „Jango“ Goulart, der den Mindestlohn verdoppelt, Bildungsprogramme gestartet und Analphabeten erstmals das Wahlrecht eingeräumt hatte, mit einem Staatsstreich stürzten und die Macht ergriffen. Umso mehr ist es von Bedeutung, dass sich in Brasilien neue kritische Stimmen dagegen wehren. Gesucht ist der Tropicalismo des 21. Jahrhunderts.

Chico Buarque – Mein deutscher Bruder. Aus dem brasilianischen Portugiesisch 
von Katrin von Schweder-Schreiner. 
Verlag S. Fischer, 255 Seiten.

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