Belgien
: Mit Schokolade in den Staatszerfall


Groteske Ermittlungsfehler, widersprüchliche Behörden-Angaben: einmal mehr scheint sich Belgien nach den Terroranschlägen von einer Seite zu präsentieren, die man von dort nicht nur bei den Medien bestens zu kennen glaubt. Dabei werden auch allerlei Stereotype bedient.

Darf man das noch mögen? 
Auch in Belgien ist man verunsichert, nicht nur was die dem Land zugeschriebenen Sekundärtugenden betrifft. (Foto: Thorsten Fuchshuber)

Es ist der 22. März 2016, wenige Stunden nach den Anschlägen auf den Flughafen Zaventem und die Metro-Station Maelbeek. Ein Anruf bei der belgischen Anti-Terror-Behörde OCAD: „Also noch einmal, bitte, 13 Tote in der Metro-Station, und 13 am Flughafen, stimmt das?“ – „Ja.“ – „Andere Stellen haben aber andere Zahlen genannt.” – „Moment, dann frag‘ ich eben nach.“ Es dauert ein paar Momente, dann bestätigt der Mann am Telefon die Statistik. Etwa zur gleichen Zeit meldet die Presseagentur Belga, laut Gesundheitsministerium gebe es am Flughafen elf Tote. Die Brüsseler Verkehrsbetriebe MIVB gehen von 15 in der Metrostation aus.

Man kann sich vorstellen, dass einiges drunter und drüber geht in solchen Momenten, wie schwer es sein mag, den Überblick zu behalten und dass Meldungen sich widersprechen. Es dauert, Verletzte und Tote zu bergen, und wer je die Berichterstattung von Katastrophen oder Anschlägen aus der Nähe verfolgt hat, weiß, wie schwierig es ist, in solchen Situationen ad hoc verlässliche Informationen zu liefern respektive zu erhalten.

Dennoch diente auch das Informationschaos am Dienstag vergangener Woche einmal mehr als Beleg, dass in Belgien die Administration im Argen liegt. Schon seit den Pariser Anschlägen im November scheint man sich im europäischen Ausland recht einig zu sein, dass nicht nur in der EU-Hauptstadt Brüssel so manches nicht funktioniert. Weil die Pannen so grotesk und haarsträubend erscheinen, weil etwa die Polizei in Mechelen nicht auf einen – sich dann auch noch als zutreffend erweisenden – Tipp zum Aufenthaltsort des Terrorverdächtigen Salah Abdeslams eingegangen ist, weil Ibrahim El Bakraoui, einer der Flughafen-Attentäter trotz negativer Beurteilung vorzeitig aus dem Knast entlassen wird und man auf die Meldung seiner Festnahme durch türkische Behörden in Belgien tagelang nicht reagiert hat. Das erzeugt Misstrauen. Bei Journalisten, bei internationalen Politikern, bei Bürgern.

Um besagtes Misstrauen zu aktivieren, braucht es allerdings wenig. Ein Verdacht ist schnell formuliert und fast ebenso schnell ausgesprochen in diesen Tagen. Selbst bei den Angaben zu den Opferzahlen wird man hellhörig, wenn diese, wie in solchen Situationen üblich, variieren. Am Tag nach den Anschlägen war von 32 die Rede. Am Ende des Oster-Wochenendes hatte man die Zahl dann auf 28 nach unten korrigiert. Inzwischen sind es wieder 32, doch steht dahinter der einfache wie furchtbare Grund, dass weitere vier Opfer in Krankenhäusern verstorben sind. 101 zum Teil schwer Verletzte gibt es nun noch, verteilt auf in 33 Kliniken.

In anderen Bereichen ist das Misstrauen gravierender. Eine Woche nach den Anschlägen berichteten Medien, die US-amerikanische Polizeibehörde FBI habe die Niederlande bereits am 16. März über terroristische Ambitionen der El Bakraoui-Brüder unterrichtet, die sich eine Woche später am Brüsseler Flughafen beziehungsweise in der Metro-Station in die Luft sprengten. Der niederländische Justiz-Minister gibt an, man habe die Information am 17. März an die belgischen Kollegen weitergeleitet. Claude Fontaine, der General-Direktor der föderalen Polizei Belgiens, streitet dies ab. Irgendwo entlang dieses Dienstwegs blieb die Wahrheit auf der Strecke. Für viele scheint indes klar, dass die Schuld wiederum bei Belgien liegt.

Weiteren Grund zur Klage lieferte der Fall Fayçal Cheffou, ein „unabhängiger Journalist“ aus Brüssel mit vermeintlich islamistischem Hintergrund. Letzte Woche wurde er unter dem Verdacht festgenommen, einen Anschlag auf das Hauptquartier der Staatsanwaltschaft zu planen. Möglicherweise, hieß es danach, sei er auch der verhinderte dritte Selbstmord-attentäter vom Flughafen, der auf den Kamerabildern auftaucht und in den Medien als „der Mann mit dem Hut“ bekannt. Am Montag wurde Cheffou freigelassen: Er soll ein Alibi haben, das den Untersuchungsrichter überzeugt. Ein üblicher Vorgang in diesem Stadium der Ermittlungen, der rechtsstaatlichen Prinzipien entspricht. Das scheint indes wenig zu interessieren, stattdessen erfolgt der Hinweis auf die Haftentlassung von Ibrahim El Bakraoui, der dann tatsächlich zum Attentäter geworden war.

Es gibt nicht wenige Menschen, die Belgien schon deshalb „seltsam“ finden, weil es ihrer Meinung nach ein „künstlicher“ Staat sei.

Manche Medienvertreter scheinen auf Pannen nur zu warten, wenn es um Belgien geht. Selbst das Wort „failed state“ wird dabei nicht selten benutzt. Für diese Diagnose scheint es schon auszureichen, dass sich die Tunnels der Hauptstadt in schlechtem Zustand befinden, und die Bahnhöfe wie Brüssel-Nord oder Vilvoorde im Verfall begriffen sind. Vor allem die benachbarten Deutschen und Niederländer scheinen von Belgien befremdet. Als die Tageszeitung „Volkskrant“ vor Jahren ihre Leser aufrief, die vermeintlich hässlichste Stadt der Welt zu wählen, lagen Charleroi und Liège an der Spitze.

Es ist mühsam, der Herkunft dieser Wahrnehmung auf den Grund zu gehen. Manche verweisen auf den Dutroux-Skandal und das damals offenkundige Versagen der belgischen Behörden, um ihre Skepsis gegenüber den heutigen Institutionen zu begründen. Es gibt allerdings nicht wenige Menschen, die Belgien schon deshalb „seltsam“ finden, weil es ihrer Meinung nach ein „künstlicher“ Staat sei. Diese Einschätzung auch seitens ansonsten durchaus liberal denkender Menschen schockiert ebenso wie die ethno-biologischen Exkurse mancher deutscher Zeitungen, die angesichts des belgischen Sprachkonflikts gerne laut darüber nachdenken, wo sich dann die deutschsprachige Minderheit im Osten des Landes am besten zuordnen ließe.

Doch auch abseits solcher Gedanken wirft der aktuelle Kontext eine beklemmende Frage auf: Schafft das viel gerühmte belgische Laissez-faire als Nebenwirkung Freiräume für Jihadisten? Die Genussfreude des „nördlichsten Lands Südeuropas“ ist in Verruf geraten, steht gar unter Terror-Verdacht. Und mittendrin: Brüssel, bewundert und verflucht für sein flexibles Durcheinander. „Wann wird charmante Unordnung zu riskanter Nonchalance?“, fragte sich etwa Bart Eeckhout, Kolumnist der belgischen Tageszeitung „De Morgen“ und überzeugter Hauptstadt-Bewohner. Der Titel seines Essays lautete: „In mir ist ein Stückchen Brüssel kaputt gegangen.“

Insbesondere die (Dis-)Funktionalität der Hauptstadt selbst steht seit den Anschlägen von Paris im medialen Brennpunkt, und damit langfristig auch auf der belgischen politischen Agenda. Der belgische Nahost- und Jihad- Experte Pieter Stockmans erläutert: „Es ist nicht leicht, in einem Land mit sechs Regierungen (die föderale, die drei Regionen Wallonien, Flandern, Brüssel, die extra verfasste frankophone Sprachgemeinschaft sowie die der deutschsprachigen Minderheit; Anm. der Red.) eine Sicherheitspolitik zu koordinieren. Das gleiche gilt für Brüssel mit seinen 19 Bürgermeistern. All diese Regierungen müssen miteinander sprechen und Informationen durchlassen. Ein Beispiel: Die Repression ist eine föderale Aufgabe, Prävention wie Bildung oder Sozialarbeit ist bei den Sprachgemeinschaften angesiedelt.”

Unter den Tisch fällt dabei vielfach, dass die bisherige Unterfinanzierung der Sicherheitsdienste auch mit knapp einem halben Jahrhundert der Regionalisierung zusammenhängt, was die belgische föderale Politik nachhaltig unterminiert hat. Just die flämischen Nationalisten der Regierungspartei N-VA waren in den letzten zehn Jahren hierbei die entscheidende Kraft. Und genau in den Jahren, als die Warnungen vor islamistischen Tendenzen in belgischen Städten immer häufiger wurden, kreiste das Land in seiner schweren politischen Identitätskrise um sich selbst.

Die Situation nach den Anschlägen hat nun die inneren Bruchlinien Belgiens wieder auf die Karte gebracht. Dass vorwiegend rechtsextreme Hooligans an Ostern das Gedenken an die Terror-Opfer vor der Brüsseler Börse mit nationalistischen Parolen störten, verleitete Bürgermeister Yvan Mayeur zu der Aussage, „Flandern“ habe Brüssel „mit seinen Extremisten beschmutzt“. Seine Aussage bezieht sich darauf, dass sich die rund 400 Hooligans zuvor in der zu Flandern gehörenden Stadt Vilvoorde vor den Toren Brüssels versammelt hatten. Eine Fortsetzung der Querelen scheint garantiert. Was wiederum den Stereotypen vom belgischen „failed state“ neue Nahrung geben wird.

Tobias Müller berichtet für die woxx vorwiegend aus Belgien und den Niederlanden. Er lebt in Amsterdam.

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