Bosnien und Herzegowina
: Flucht ohne Ankunft


Seit zwei Jahren ist die sogenannte „Balkan-Route“ praktisch dicht. Tausende Migranten sitzen fest. Ihnen gilt Bosnien und Herzegowina als letztes Schlupfloch in die EU. Der Weg führt über Sarajevo, von wo die Menschen vor nicht allzu langer Zeit selbst geflohen sind. 
Teil I einer zweiteiligen Reportage.

Die Bilder gleichen sich: Flüchtlinge campen im Park von Sarajevo, doch es könnte auch Brüssel sein oder Berlin. (Fotos: Lorenz Matzat
)

Die Schlange windet sich am Rand des leeren Bahnhofsvorplatzes entlang. 50 oder 60 Menschen, als Silhouetten nur erkennbar, warten im schwachen Schein der wenigen Laternen auf einen Plastikteller voll Reis. Es ist kurz nach 21 Uhr. Aus der Heckklappe eines weißen PKW teilen Helfer die Mahlzeit aus. Gegessen wird in kleinen Grüppchen, kauernd auf dem Boden. Szenen wie diese erinnern an den Herbst 2015 oder den darauffolgenden Winter. Diese aber spielt sich im Mai 2018 ab. In Sarajevo, der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas, ist die Flüchtlingskrise nicht Vergangenheit. Hier hat sie gerade erst begonnen.

Ein hagerer junger Mann aus Pakistan, nennen wir ihn Rahim, sitzt mit vier anderen auf einem Bordstein. Hungrig beugt er sich über die Portion auf seinem Teller, seine erste Mahlzeit an diesem Tag. Rahim trägt eine leichte Jacke und ein Tuch um den Hals. Mehr hat er nicht, in den Nächten, die immer noch kühl sind. Er verbringt sie in einem Park im Zentrum Sarajevos, ohne Zelt und ohne Schlafsack. „Schau mich an“, sagt Rahim, „ich habe seit drei Nächten nicht geschlafen.“ Davor war er mit seiner Gruppe drei Tage lang zu Fuß unterwegs, aus Serbien kam er über die Grenze. Bald soll es weitergehen, zunächst in Richtung Kroatien.

Nach dem sogenannten „Türkei-Deal“ der EU und den Grenzschließungen im Frühjahr 2016 (Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien) war die „Balkanroute“ für Flüchtlinge, die vom Mittelmeer aus weiter Richtung Mitteleuropa wollten, passé. Zumindest vermittelte Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, damals ein entsprechendes Bild, als er im März erklärt hatte, die Route sei „geschlossen“. Die irregulären Migrantenströme auf dem westlichen Balkan seien zu Ende gekommen, so Tusk. In den Hauptstädten der EU atmete man erleichtert auf.

Das bedeutete allerdings nicht, dass sich keine geflüchteten Menschen mehr in der Region aufhielten. Mehrere Tausend saßen fest, vor allem in Serbien, das gleich mehrere EU-Außengrenzen teilt. Sie versuchten ein Schlupfloch zu finden, nach Ungarn oder Kroatien, doch in den allermeisten Fällen wurden sie von Grenzbeamten aufgegriffen und gewaltsam zurück nach Serbien gebracht. Diese Rückführungen von Asylsuchenden in Länder außerhalb der EU sind illegal. Um die Balkanroute endlich stillzulegen, wird diese Praxis jedoch auch von den nicht direkt betroffenen Mitgliedsstaaten billigend in Kauf genommen.

Wie so etwas aussieht, lässt sich in den Berichten der Göttinger NGO „Rigardu“ lesen, die in Grenzorten wie Subotica und Šid im Einsatz ist. Dokumentiert ist etwa ein Vorfall vom 3. März dieses Jahres, als es einer größeren Gruppe pakistanischer Geflüchteter gelang, in der Nähe von Horgos über die Grenze nach Ungarn zu gelangen. Dann wurden sie von einer Einheit ungarischer Polizisten entdeckt. Die Sicherheitskräfte schlugen die Pakistanis mit Fäusten und Stöcken und ließen sie von ihren Hunden kratzen und beißen. Die Pakistanis sagten, sie wollten um Asyl bitten, wurden aber ignoriert. Weder hat man sie registriert noch ihre Fingerabdrücke genommen. Stattdessen sperrten die Polizisten die Flüchtlinge fünf Stunden lang in einen Bus. Dann übergab man sie an einem Grenzübergang der serbischen Polizei.

Die meisten derer, die sich nun, im Frühjahr 2018, nach Bosnien aufmachen, waren zuvor lange Zeit in Serbien gestrandet. Viele von ihnen sind nicht wochen- oder monatelang unterwegs, sondern seit Jahren. Rahim etwa, der in Pakistan zur Schule gegangen ist und nebenher Jobs annahm, verbrachte die letzten vier Geburtstage auf seiner Odyssee. Heute ist er 20 Jahre alt, und endlich ist ein Ziel am Horizont aufgetaucht: die knapp 1.000 Kilometer lange Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien, bergig und schwer zu sichern. Auf bosnischer Seite ist die Polizei chronisch unterbesetzt. Auch die Grenzen zu Serbien und Montenegro kann sie kaum wirksam überwachen, das ist ein offenes Geheimnis.

Viele Flüchtlinge sind nicht wochen- oder monatelang auf ihrer Route unterwegs, sondern seit Jahren.

Dreieinhalb Tausend Migranten, so die offiziellen Zahlen der Regierung, wurden seit Jahresbeginn in Bosnien registriert, und aktuell kommen jede Woche etwa 500 hinzu – drei Mal mehr als die Kapazitäten des einzigen Asylbewerberzentrums. Auf der neuen Route ist Sarajevo ein Fixpunkt. Gut 1.000 Geflüchtete sind laut der „Internationalen Organisation für Migration” (IOM) in der Stadt. Seit Jahresbeginn sind es immer mehr geworden. Wer noch Geld hat, kann sich ein billiges Hostel leisten. Manche werden auch von hilfsbereiten Bürgern der Stadt beherbergt. Die meisten aber sind an Orten untergekommen, die kurzerhand zum Camp umfunktioniert wurden.

Das größte und auffälligste davon ist der Park mitten in Sarajevo, gegenüber des Alten Rathauses, wo auch Rahim und seine Freunde ihr momentanes Basislager haben. Der Park ist ziemlich überschaubar, vielleicht 50 mal 75 Meter. Fast überall stehen Zelte, mindestens 50. Mehr als 200 Menschen sind es, die hier schlafen oder es versuchen. Die essen, rasten, warten. In der Nacht hat es geregnet. Der erdige Boden ist noch ein wenig feucht. Die Sonne bricht mit Macht durch die Wolken. Man kann sich vorstellen, wie der Sommer hier werden wird.

Die Erinnerung an den eigenen Bürgerkrieg haben viele Helfer in Bosnien noch schmerzhaft in Erinnerung: Einwohner von Velika Kladuša verteilen im Stadtpark Essen an Flüchtlinge. Der Ort befindet sich nur zwei Kilometer von der kroatischen Grenze entfernt.

Rund 500 Flüchtlinge kommen in Bosnien-Herzegowina jede Woche hinzu – drei Mal mehr als die Kapazitäten des einzigen Asylbewerberzentrums.

An einem diesigen Mittag sind einige Helfer mit neongelben Westen dabei, ein Gerüst aus Stangen zu montieren, für ein größeres Zelt. Manche von ihnen tragen Mundschutz. Kleinkinder laufen herum, Großeltern hocken in den Zelteingängen. Jetzt wird klarer, weshalb Rahim gestern erst abends eine Mahlzeit bekommen hat: An einer zentralen Stelle kommen immer wieder Bürger vorbei, die Lebensmittel abgeben. Einzelne Park-Bewohner gehen dort vorbei und holen sich was. Essen wird hier also nur sporadisch ausgegeben. Das Bild einer jungen Frau ist symptomatisch: Auf einen Arm trägt sie ihr Kind, in der anderen Hand Butter und einen Laib Brot. Die Hilfsbereitschaft ist bemerkenswert, aber nicht strukturiert. Um das Essen so zu verteilen, dass alle satt werden, ist das Camp im Park zu schnell gewachsen.

Nidzara Ahmetasevic gehört zu der kleinen Gruppe von Freiwilligen, denen die Situation über den Kopf gewachsen ist. Die Journalistin, Mitte 40, ist Teil der Online-Plattform „Are You Syrious?“, die seit 2015 zu den bestfundierten Informationsquellen über die Geschehnisse in der Region gehört – auch und gerade, seit die vermeintlich geschlossene Route aus den Schlagzeilen und dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist.

Einst floh Nidzara Ahmetasevic selbst, vor der Belagerung Sarajevos, nachdem sie bei einem Raketenbeschuss schwer verwundet worden war. Eine Erfahrung, die sie bis heute prägt: „Ich hasste jeden Tag meines Lebens als Flüchtling, und hasse es noch immer. Ich lebte mit drei anderen Mädchen, die ich aus Bosnien kannte, im Keller eines Hauses in Zagreb. Wie ich waren sie von ihren Eltern aus Sarajevo weggeschickt worden, um sicherer zu sein. Das waren wir vielleicht auch. Aber als Flüchtlinge in einem fremden Land waren wir einsam und hatten Angst. Also beschlossen wir zusammenzubleiben.”

Dieses Zusammentreffen von Fluchterfahrungen von Menschen verschiedener Generationen und Herkunft fällt derzeit in Bosnien immer wieder auf. Speziell in dieser Stadt, die fast vier Jahre lang belagert war. Auch über zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Bürgerkriegs begegnet man dessen Spuren auf Schritt und Tritt, häufig sind noch Einschusslöcher in den Hauswänden zu sehen. Selbst die Geographie wird zum Mahnmal: Die Berge, die sich entlang des schmalen Tals aufreihen, lassen an die Scharfschützen denken, die von hier aus Zivilisten unter Beschuss genommen haben. Das Wissen um Traumata und Flucht treibt nun viele Bewohner Sarajevos in den Park, um zu helfen.

Die vermeintlich stillgelegte Balkanroute windet sich nun also durch Bosnien. Davor hat Nidzara Ahmetasevic lange gewarnt: „Es war eine Frage der Zeit, bis die Migranten es hier versuchen. Alle anderen Wege sind versperrt, die Gewalt an den Grenzen hat immer mehr zugenommen.“ Seit 2016 warb Ahmetasevic bei UNHCR und IOM um Aufmerksamkeit – vergeblich. Inzwischen erwägt der bosnische Ministerrat die Errichtung von Auffangzentren für die Migranten. Für Nidzara Ahmetasevic bedarf es dafür keiner Überlegungen mehr: „Es gibt im Park weder Duschen noch Toiletten. Die Menschen schlafen in Exkrementen und Dreck.”

Der Mai ist fast vorüber, als sich die Regierung nun endlich zum Handeln gezwungen sieht. In aller Frühe lässt sie das Lager im Park räumen. Fünf Busse bringen knapp 300 Flüchtlinge in eine Unterkunft im Kanton Mostar. Das jedenfalls ist der Plan. Doch an der Kantonsgrenze wird der Konvoi von lokalen Polizisten angehalten. Die Verzögerung geht auf die kroatische dominierte Kantonsregierung zurück, die den Flüchtlingen argwöhnisch gegenübersteht und die Order der föderalen Regierung sabotiert. Nicht zum ersten Mal zeigt sich: Eine Migranten-Krise kann in dieser Region schnell instrumentalisiert werden.

Einst floh Helferin Nidzara Ahmetasevic selbst – aus der Belagerung Sarajevos, nachdem sie schwer verwundet worden war.

Als die Busse nach vier Stunden Warten endlich passieren dürfen, endet ihre Reise bei einer Barackensiedlung, die früher für Arbeitseinsätze der kommunistischen Jugend Jugoslawiens diente. Das Areal ist renoviert, die Bedingungen zufriedenstellend, berichtet Nidzara Ahmetasevic von vor Ort. Im Nachhinein allerdings sagen nicht nur die freiwilligen Helfer, sondern auch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, dass vor allem der Wahlkampf-Besuch des türkischen Präsidenten Anlass war, das Camp aufzulösen. Nicht nur aus Angst vor schlechter Presse, sondern auch, weil zahlreiche Kurden aus Afrin im Park campierten.

Der Rest der Migranten ist weiterhin in Sarajevo. Mehrere Zehntausend weitere werden demnächst aus Griechenland erwartet. Die bosnische Regierung hat nun angekündigt, die Bewachung der Grenzen mit Serbien und Montenegro aufzustocken. Bei der IOM nimmt man die Notlage inzwischen zur Kenntnis. West-Balkan-Koordinator Peter Van der Auweraert ist permanent vor Ort und drängt die bosnischen Autoritäten zum Handeln. „Wenn es nicht eine sehr kurzfristige Lösung gibt, droht hier eine humanitäre Krise. Wir brauchen eine offizielle Unterbringung. Das bietet auch Schutz vor Schmugglern und verbessert Gesundheitsfürsorge und Hygiene.“

Die IOM hat nun vorläufig selbst eine Unterkunft eröffnet. In Bihac, 300 Kilometer nordwestlich von Sarajevo, keine 20 Kilometer von der kroatischen Grenze entfernt. Eine Notlösung, räumt Van der Auweraert ein: „Es ist absolut keine phantastische Unterkunft, vor allem nicht für Kinder. Aber besser, als auf dem Feld zu schlafen.“

Auf dem Weg dorthin sieht man, warum die bosnisch-kroatische Grenze als schwer kontrollierbar gilt. Es ist unwegsames Terrain, Bergketten lösen einander ab, auch gibt es zahlreiche verlassene, halb verfallene Häuser, der Nachlass des Bürgerkriegs. Zu diesem zählt auch der Bau, den die IOM als Unterbringung auserkoren hat. Am Rand der Stadt gelegen, halb verdeckt von hohen Nadelbäumen, am Fuß eines Berges. Einst war das Gebäude ein Studentenwohnheim, dann, in den Jahren der Belagerung Bihacs, wurde es als Kaserne genutzt. Heute ist es wieder ein Rohbau: nackter Beton mit hohen, leeren Fensteröffnungen, klaffende Löcher, die sich zwischen den Zweigen der Nadelbäume auftun.

Weil auch in Bihac im Lauf des Frühjahrs immer mehr Migranten wild campierten, schlugen IOM und Rotes Kreuz dem Bürgermeister vor, hier ein provisorisches Auffanglager zu errichten. Sie stellten Duschen und Toiletten auf, sorgten für Strom, säuberten die Böden, organisierten Matratzen und medizinische Hilfe. Nun ist die Kriegsruine ein Zufluchtsort für Geflüchtete – der allerdings beklemmend wirkt. Überall liegen Verpackungen herum, keine einzige Treppe hat ein Geländer. Die etwa 20 Kinder, die hier untergebracht sind, könnten, wenn sie unachtsam sind, leicht aus einer der Fensteröffnungen fallen.

„Ich hasste jeden Tag meines Lebens als Flüchtling, und hasse es noch immer.“

Von hier aus ist es bis zur Grenze nicht mehr weit. 20 Kilometer vor der Stadt liegt der winzige Weiler Tržacka Raštela. Kurz hinter dem letzten Haus lagern an einem schwülen Nachmittag drei junge Männer unter einem Baum. Die Wiese grenzt an einen Fluss namens Korana, der weder breit noch tief ist. Dahinter beginnt Kroatien. Grenzanlagen sind keine zu sehen. Der Übertritt scheint leicht, doch viele haben es hier schon vergeblich versucht. Es fällt auf, dass der Uferstreifen gerodet ist. Die kroatischen Grenzer sind mit Nachtsichtgeräten ausgestattet, mit Helikoptern und Wärmebildkameras.

Die drei kommen aus Syrien und wollen, sobald es dunkel wird, ihren ersten Versuch wagen. „Auf der anderen Seite müssen wir zwei Kilometer laufen, dann kommt ein Dorf. Wir bräuchten ein Auto, um von dort weiter in Richtung Slowenien zu kommen, aber das haben wir nicht”, seufzt Malik (Name redaktionell geändert), der mit seinen roten Haaren und Bart auffällt. Auf seinem Telefon zeigt er die markierte Route an. Dass die kroatischen Polizisten heimlich Eingereiste mit Schlägen und Tritten traktieren und sie zurück zur Grenze bringen, haben sie von jenen gehört, denen es widerfahren ist. Auch, dass man ihnen das Telefon zerstört und die SIM-Karte abgenommen hat.

In ein paar Stunden wird es dämmern. Dann machen sich die drei Männer auf den Weg.

Tobias Müller berichtet für die woxx aus Belgien und den Niederlanden. Für diese Reportage war er in Bosnien und Herzegowina unterwegs.

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