Brasilien: Wahlkampf der Angst

Brasilien steht kurz davor, von dem Ultrarechten Jair Bolsonaro regiert zu werden. Mehr als drei Jahrzehnte nach dem Ende der Diktatur würde mit ihm auch das Militär zurück an die Macht kommen. Vor der Stichwahl am 28. Oktober ist das Land tief gespalten.

Der aussichtsreichste brasilianische Präsidentschaftskandidat, ein veritabler Faschist? Jair Bolsonaro verachtet die Demokratie, hat ein extrem autoritäres Programm und mobilisiert derzeit auch eine Massenbewegung. (Foto: EPA-EFE/Marcelo Sayao)

Angeblich war es die größte politische Kundgebung in der Geschichte von Manaus, die jemals stattgefunden hat. Wie viele Tausende von Menschen Bolsonaro tatsächlich zu seinem Wahlkampfauftritt in die Millionenmetropole am Amazonas lockte, ist schwer zu sagen. Die Angaben gehen weit auseinander. Jedenfalls herrschte geradezu Ausnahmezustand in der Stadt, als seine Anhänger mit Transparenten und brasilianischen Nationalflaggen durch die Stadt zogen.

Schon von Weitem war eine überlebensgroß aufgeblasene Figur des Mannes zu sehen, der möglicherweise der neue Präsident Brasiliens werden wird. „Mito, Mito“ (Mythos, Mythos) riefen viele und meinten damit „ihren“ Kandidaten, dessen Zweitname Messias ist. Für sie ist Bolsonaro mehr als ein Hoffnungsträger. Sie bringen das Motto „ordem e progresso“ auf der Fahne des Landes auch weniger mit dem französischen Positivisten Auguste Comte in Verbindung, von dem es entlehnt ist. Viel eher meinen sie damit die erhoffte Militarisierung Brasiliens; ob in den Schulen, von denen bereits 122 von der Militärpolizei verwaltet werden, oder im gesamten öffentlichen Leben.

„Die Situation ist wie ein Albtraum“, sagt Mario Marques Trilha de Neto. „Ich habe das Gefühl, das alles sei nicht real. Aber leider ist es Wirklichkeit.“ Der Endvierziger, Professor für Musik an der Universidade Federal do Amazonas von Manaus, empfindet die Aussicht, dass Bolsonaro bald sein Land, eine der größten Demokratien der Welt, regieren könnte, als Horrorvorstellung. „Er ist ein Faschist, frauenfeindlich, homophob und rassistisch“, sagt er. „Und er sät nur Angst und Hass.“ Mit der Aussage, Bolsonaro sei ein Faschist, ist Mario Marques nicht allein.

Die Stimmung im Wahlkampf ist emotional stark aufgeladen. Der rechtspopulistische wenn nicht gar rechtsextreme Kandidat des Partido Social Liberal (PSL) spaltet die brasilianische Gesellschaft. Den ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen am 7. Oktober gewann er deutlich mit 46 Prozent der Wählerstimmen. Bolsonaro verfehlte damit nur knapp die für einen Sieg im ersten Wahlgang nötigen 50 Prozent. Er hatte zehn Prozent mehr Stimmen erhalten als in den Meinungsumfragen vorhergesagt.

Nun muss er in der Stichwahl am 28. Oktober gegen Fernando Haddad, den Kandidaten des Partido dos Trabalhadores (PT), antreten. Haddad kam auf 29,3 Prozent der Stimmen. Für ihn wird es äußerst schwer, die Stimmen der unterlegenen Kandidaten zu bündeln, um gegen Bolsonaro bestehen zu können.

Es war die Frauenbewegung, die im Wahlkampf am entschiedensten gegen Bolsonaro auftrat.

Der Wahlkampf war vor allem von Bolsonaros Hassreden geprägt. Sie stellten alles andere in den Schatten. „Wut und Angst“ sind laut Veronica Theil bestimmende Emotionen des Wahlkampfes gewesen: „Bolsonaro malt immer wieder das Schreckgespenst an die Wand, dass die Arbeiterpartei den Sozialismus in Brasilien einführen wolle und dass aus Brasilien ein zweites Kuba oder Venezuela werde. Aber auch gegen eine angebliche ‚Genderdiktatur‘ macht er Stimmung.“ Die Psychologin aus São Paulo ist vor allem über das Frauenbild des PSL-Kandidaten entsetzt. Immer wieder machte der 63-Jährige mit sexistischen Aussagen auf sich aufmerksam. Als Kongressabgeordneter meinte er zu einer Kollegin, sie verdiene es nicht vergewaltigt zu werden, sie sei zu hässlich. Bolsonaro hält es für gerecht, wenn Frauen weniger verdienen, „weil sie schwanger werden“. Grundsätzlich spricht er sich gegen Abtreibung aus.

Es war die Frauenbewegung, die im Wahlkampf am entschiedensten gegen Bolsonaro auftrat. Sie mobilisierte gegen ihn mit dem Hashtag „#EleNão“. Am 29. September demonstrierten Hunderttausende in mehr als hundert Städten des ganzen Landes. Der Frauenbewegung schlossen sich indigene, afrobrasilianische, gewerkschaftliche und queere Bewegungen an. Der Protest gegen den Ultrarechten ist zum Widerstand gegen einen Rückfall des Landes in düstere Zeiten geworden.

Bolsonaro zeigte sich mehrmals als Anhänger der Diktatur von 1964 bis 1985. „Ich bin für Folter“, sagt Bolsonaro öffentlich. „Der einzige Fehler während der Diktatur war, dass sie gefoltert und nicht getötet hat.“ Als vor zweieinhalb Jahren das Parlament über die Amtsenthebung der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff abstimmte, widmete er sein Votum dem Andenken von Oberst Carlos Alberto Brilhante Ustra, der während der Militärdiktatur für die Folter von politischen Gefangenen verantwortlich war, zu denen auch Dilma Rousseff gehörte. Ustra sei ein nationaler Held, wiederholte Bolsonaro vor Kurzem.

Zwei Tage, nachdem ihm am 6. September ein geistig verwirrter Mann während eines Wahlkampfauftritts ein Messer in den Bauch gerammt hatte, saß Bolsonaro im Krankenhaus und formte seine Hände zu einer imaginären Waffe. Er ist ein Waffennarr. Nach seinen Worten können Kinder gar nicht früh genug schießen lernen. Jeder Brasilianer soll eine Waffe tragen dürfen und die Polizei die Lizenz zum Töten erhalten. Nach dem Anschlag kündigte er an, als Präsident mehr Militär auf die Straßen zu schicken. Sein Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten ist der 65-jährige Reservegeneral Antônio Hamilton Martins Mourão. Bei der Parlamentswahl haben mehr als hundert Militärangehörige kandidiert.

Auf die Straße gehen, um eine Diktatur zu verhindern: Die brasilianische Frauenbewegung führt die Proteste gegen Bolsonaro an, der Antifeminismus mit dem Hass auf Minderheiten verbindet. (Foto: EPA-EFE/Fernando Bizerra Jr.)

Das Attentat verschaffte Bolsonaro noch mehr Auftrieb. Doch wie ist das „Phänomen Bolsonaro“ zu erklären, der angebliche „Mythos“? Was ist dran am Aufstieg des 63-jährigen ehemaligen Fallschirmjägers aus einer Kleinstadt im Hinterland von São Paulo? Die meisten Wähler hat der Ultrarechte unter weißen Männern aus der Mittelschicht. Oft wird der Brasilianer mit US-Präsident Donald Trump verglichen, weil es ihm gelingt, sich gegen das etablierte politische System zu inszenieren. In der Tat ist die politische Elite durch eine Reihe von Korruptionsskandalen gigantischen Ausmaßes diskreditiert.

Bolsonaro bezeichnet die Demokratie als „Schweinerei“ und möchte, dass Brasilien aus den Vereinten Nationen austritt. Dabei blickt er selbst auf eine lange politische Karriere zurück, gehört also selbst zum System. Seit 27 Jahren sitzt er als Abgeordneter für unterschiedliche Parteien im Kongress, am längsten für den Partido Progessista (PP). Diese rechtskonservative Partei ist am stärksten in den „Lava-Jato“-Skandal verstrickt, den größten Korruptionsskandal der brasilianischen Geschichte, benannt nach einer Autowaschanlage. Zahlreiche Politiker und Manager, unter anderem des Bauriesen Odebrecht, aber auch des Energiekonzerns Petrobras wurden in Gerichtsverfahren verurteilt.

Im Gegensatz zu Trump rühmt sich Bolsonaro nicht als Geschäftsmann. Nach seinem Wirtschaftsprogramm gefragt, verweist er gerne auf seinen zukünftigen „Superminister“ Paulo Guedes. Der Investmentbanker und Gründer einer Privatuniversität hat allerdings keinerlei politische Erfahrung. Er tritt als radikaler Neoliberaler für die Privatisierung von allen noch verbliebenen Staatsbetrieben sowie von Renten- und Bildungssystem ein. Außerdem verfechten Bolsonaro und Guedes eine Einheitssteuer für alle.

Die Wirtschaft steht Bolsonaro noch positiv gegenüber. Vor allem der agro-industrielle Sektor – die Großgrundbesitzer des Riesenlandes – steht hinter ihm. Mit den Meinungsumfragen zu Gunsten von Bolsonaro stiegen auch die Aktienkurse an der brasilianischen Börse. Große Unterstützung findet Bolsonaro auch seitens der mächtigen und reichen evangelikalen Sekten; er selbst ist erst seit zwei Jahren Mitglied einer Pfingstgemeinde.

„Ich bin für Folter“, sagt Bolsonaro öffentlich.

Bolsonaro werden auch Verbindungen zu dem ehemaligen Trump-Berater Steve Bannon nachgesagt. Einen Großteil des Wahlkampfes führt er über die sozialen Netzwerke. Zu seinen Unterstützern zählen ehemalige Fußballprofis wie Ronaldinho und Rivaldo.

Hat sein Gegner überhaupt eine Chance? Fernando Haddad war ursprünglich als Vize unter Luiz Inácio „Lula“ da Silva vorgesehen und war von diesem selbst ausgewählt worden. Der Jurist, Ökonom und Doktor der Philosophie war als Bürgermeister von São Paulo zwar erfolgreich, was die Haushaltspolitik anbelangte, aber er konnte seine moderne Stadtpolitik mit einem ausgebauten Netz des öffentlichen Transports und von Fahrradwegen nur schwer vermitteln. Die Paulistas wählten ihn nach einer Amtszeit wieder ab.

Zum Spitzenkandidaten wurde Haddad erst gekürt, nachdem Lula von der Wahl ausgeschlossen worden war. Der ehemalige Präsident Brasiliens sitzt seit April in einer Zelle in Curitiba eine Gefängnisstrafe ab. Trotz dünner Beweise wurde er zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Während seiner Amtszeit von 2003 bis 2011 hatte er die Ausgaben im Sozialbereich erhöht und mit Sozialprogrammen wie „Zero Fome“ und „Bolsa Familia“ laut Schätzungen 35 bis 40 Millionen Brasilianer aus der Armut geholt. Diese sind ihm noch immer dankbar.

Die meisten Unterstützer hat der PT im armen Nordosten des Landes. Allerdings rutschte das Land nach 2011 tief in die Krise, gegen die Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff kein Mittel fand. Als nach deren umstrittener Absetzung ihr Vizepräsident Michel Temer die Macht übernahm, wurden die Bildungs-, Gesundheits- und Sozialausgaben gesenkt. Was anstieg, war die Arbeitslosigkeit, vor allem aber die Kriminalität. Mehr als 60.000 Menschen starben im vergangenen Jahr eines gewaltsamen Todes.

„Haddad ist ein guter Kandidat“, sagt Mario Marques, „unsere einzige Hoffnung.“ Er selbst hat „mit meinen bescheidenen Mitteln und in meinem kleinen Bekanntenkreis und innerhalb meiner Familie“ für den PT-Kandidaten Wahlwerbung gemacht. Der Musikdozent nahm an Haddads Wahlkampfveranstaltungen in Manaus und an den Demonstrationen gegen Bolsonaro teil. Zwar konnte der Wahlsieg Bolsonaros im ersten Durchgang noch vermieden werden. Aber die Situation war eine Woche vor den Wahlen besorgniserregend. „Alles ist möglich – von einem klassischen Militärputsch, wenn Bolsonaro verlieren sollte, bis zu einem schleichenden Putsch, wie er seit Dilma Rousseffs Amtsenthebung stattfindet und wie er sich seither fortgesetzt hat“, sagt Mario Marques, „ich befürchte die allmähliche Entmachtung des Parlaments.“

Der Musikdozent aus Manaus, der unter anderem in Karlsruhe und Basel studierte und in Lissabon unterrichtete, befürchtet, dass die öffentliche Forschung gestoppt und kulturelle Einrichtungen geschlossen werden. „Dieser Faschist“, wie er Bolsonaro immer wieder bezeichnet, „wird vermutlich dafür sorgen, dass die Gewalt gegen Minderheiten und gegen Haddads Anhänger zunimmt.“ Bolsonaro hat bereits von einer Wahlkampfbühne gebrüllt: „Wir werden die Petralhada füsilieren.“ Gemeint hat er die Anhänger der PT.

Bildquelle: Flickr

„Alles ist möglich; 
von einem Militärputsch, falls Bolsonaro verliert, 
bis zu einem schleichenden 
Putsch, wie er seit 
Rousseffs Amtsenthebung 
stattfindet.“

Auch Camilo de Lelis Furlin befürchtet, dass es unter Bolsonaro zu einem Kahlschlag in der Kulturpolitik kommen würde. „Dies könnte zur Schließung von Theatern und anderen Kulturinstitutionen führen.“ Der Theaterregisseur aus Porto Alegre, der Hauptstadt des Bundesstaates Rio Grande do Sul, hat in seiner Heimat in den 1990er-Jahren den Aufstieg der Arbeiterpartei erlebt. Die knapp 1,5-Millionen Einwohner zählende Stadt im Süden Brasiliens wurde zur Modellkommune für den partizipativen Haushalt und Ausrichtungsort des Weltsozialforums. Porto Alegre blühte unter PT-Bürgermeistern wie Olivio Doutra und Tarso Genro auf.

„Doch von all dem ist nicht mehr viel übrig geblieben“, bedauert Camilo de Lelis. Auch in Porto Alegre sind die Straßen unsicherer geworden. Die Kriminalität hat zugenommen. „Das ist die alte Taktik der Faschisten“, weiß der Theatermacher, „für Unruhe zu sorgen und Angst zu schüren.“

In den vergangenen Wochen gehörten die Straßen der Gaucho-Kapitale mehrmals dem Widerstand gegen Bolsonaro. Tausende und Abertausende von Demonstranten zogen am letzten Samstag zum Parque do Redenção im Herzen der Stadt. So auch der Regisseur de Lelis Furlin: „Brasilien ist besser als Bolsonaro“, sagt er. Ihn stimmen die zahlreichen Proteste zumindest etwas hoffnungsfroher. „Bei der Stichwahl am 28. Oktober fällt die Entscheidung zwischen Demokratie und Diktatur.“

Während die Psychologin Veronica Theil am selben Nachmittag in São Paulo auf der Avenida Paulisa, der wichtigsten Verkehrsachse der Megalopolis, unter den Demonstranten war, hat sich Mario Marques den Bolsonaro-Gegnern in Manaus angeschlossen. „Das Schlimmste war für mich, wie manche Menschen, denen ich es vorher nicht zugetraut habe, Sympathie für den Faschismus hegen. Letzterer ist wie ein Gift, der die menschlichen Beziehungen verseucht. Was uns erst recht verpflichtet, dagegen Widerstand zu leisten.“ Immerhin hat die Angst vor einem Wahlsieg des Rechtspopulisten auch viele seiner Gegner mobilisiert. Der 28. Oktober wird richtungsweisend sein – für Lateinamerika, das in den vergangenen Jahren wieder verstärkt nach rechts gedriftet ist, aber vor allem für die Brasilianer.


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