Chancengleichheit: Barrierefreiheit in den Köpfen

Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit finden meist nur schwer einen Job. Das beruht nicht zuletzt auf der Ignoranz der Unternehmer. Doch mit dieser Haltung schaden sich die Betriebe selbst.

Luxemburger Erfolgsgeschichte: Joaquim Alves leidet an einer fortschreitenden Augenerkrankung. Zunächst Arbeiter bei Arcelor Mittal, wechselte er nach seiner Diagnose in ein „atelier protégé“. Unterstützt von einem Spezialbildschirm gelang ihm nun die Rückkehr an den ersten Arbeitsmarkt, wo er eine unbefristete Stelle im Sekretariat einer Schule hat. (Foto: info-handicap)

Luxemburger Erfolgsgeschichte: Joaquim Alves leidet an einer fortschreitenden Augenerkrankung. Zunächst Arbeiter bei Arcelor Mittal, wechselte er nach seiner Diagnose in ein „atelier protégé“. Unterstützt von einem Spezialbildschirm gelang ihm nun die Rückkehr an den ersten Arbeitsmarkt, wo er eine unbefristete Stelle im Sekretariat einer Schule hat. (Foto: info-handicap)

Der kommende Samstag ist der „Internationale Tag der Menschen mit Behinderung“. Wie andere solcher von den Vereinten Nationen ausgerufener Tage soll er auf einen Missstand aufmerksam machen. Und da könnte kaum treffender sein, dass das Datum in diesem Jahr nicht auf einen Werktag fällt. Denn wer mit einer körperlichen oder psychischen Einschränkung leben muss, trifft nicht selten auf unüberwindbare Barrieren auf der Suche nach einem Job.

Auch in Luxemburg ist dies der Fall. Die Beratungsstelle „info-handicap“ hat für den Welttag in diesem Jahr daher die berufliche Inklusion von Menschen mit Behinderung als Thema gewählt und das Projekt „modes d’emploi“ lanciert. Unter anderem wurde in Zusammenarbeit mit mehreren Partnern das Internetportal www.modesdemploi.lu geschaffen. Es richtet sich sowohl an Menschen mit Behinderungen als auch an Unternehmen. „Wir wollen die Netzwerkarbeit von allen Akteuren fördern, die im Bereich Behinderung und Arbeit tätig sind“, sagt Vera Bintener, die als Pädagogin im juristischen Informationsdienst der Beratungsstelle tätig ist. „Gleichzeitig wollen wir Betriebe sensibilisieren, damit sie ihre Ängste und Unsicherheiten bei der Einstellung von Arbeitnehmern mit einer Behinderung etwas abbauen können.“

Abgesehen von der verbesserungswürdigen Kooperation zwischen Arbeitgebern, der Adem und den verschiedenen begleitenden sozialen Trägern, liegt die Hauptursache für das spezifische Beschäftigungsproblem in den Betrieben und ihren Personalbüros. Dort gibt es nach wie vor große Vorbehalte. „Meiner Meinung nach hat es damit zu tun, dass die Unternehmer nicht wissen, welche Unterstützung der Staat ihnen bei der Einstellung von behindertem Personal zugesteht“, sagt Bintener.

Angela Ruess-Kaszun von Zarabina geht noch härter mit den hiesigen Arbeitgebern ins Gericht: „Letztendlich haben die in Luxemburg einen schier unbegrenzten Pool an jungen, motivierten und gesunden Arbeitskräften, sodass die Beschäftigung von Menschen mit Beeinträchtigungen glaube ich nicht vorne steht“, meint die Geschäftsführerin der Asbl, die sich für Chancengleichheit in der Arbeitswelt engagiert.

Eingeschränkt sein

Beide Beratungsstellen haben daher diese Woche Initiativen lanciert, um daran etwas zu ändern. Zarabina etwa hat einen „Leitfaden Jobcoaching“ erarbeitet, der sich vorrangig an BeraterInnen richtet. Doch auch Arbeitssuchende finden dort wertvolle Tipps; etwa Ratschläge für Vorstellungsgespräche und wie man in dieser Situation mit seiner Einschränkung umgehen kann.

Denn auch die Betroffenen selbst haben häufig Angst vor dem Gang an den ersten Arbeitsmarkt. „Da werden doch auch noch ganz andere Sachen gefordert. Man muss sich bewusst sein, dass dort Leistung, Schnelligkeit, Flexibilität gefragt sind“, sagt Vera Bintener. Doch bei einer entsprechenden Anpassung des Arbeitsplatzes ist das häufig gar kein Problem: „Behinderte Menschen haben sehr viele Fähigkeiten“, so Bintener, „und wenn bestimmten Einschränkungen Rechnung getragen wird, dann können sie sich auf dem ersten Arbeitsmarkt behaupten.“

Auch ein im Zarabina-„Leitfaden“ enthaltener Fragekatalog soll dazu beitragen, indem er den Gesundheitsstatus, die Kompetenzen und Ressourcen der Betroffenen zu klären hilft: „Wir orientieren uns an den gesunden Anteilen, die sie haben, und was sie damit machen können“, erläutert Ruess-Kaszun den Ansatz, der sich „Salutogenese“ nennt: „Das bedeutet, dass man sich anders auseinandersetzt mit den Menschen, weil man nicht primär ihre Defizite adressiert.“

Dennoch: Die Zahlen zeigen, dass die Situation auf dem Arbeitsmarkt schwierig bleibt. Das bestätigt Marie-Paule Max. „Nicht einmal der Staat geht mit gutem Beispiel voran und erfüllt die vorgeschriebene Beschäftigtenquote von fünf Prozent“, sagt die Koordinatorin der „Association nationale des victimes de la route“.

„Was nützen die Quoten, wenn niemand sie kontrolliert?“, fragt sich auch Vera Bintener, zudem würden bei deren Nichterfüllung „keine Sanktionen ausgesprochen, obwohl sie im Gesetz vorgeschrieben sind“. Angela Ruess-Kaszun hält von Quoten ohnehin nicht allzu viel. Denn Unternehmer finden genug „Schlupflöcher“, den vorgeschriebenen Anteil von behinderten Beschäftigten zu umgehen.

Wie schwer luxembugische Unternehmen für das Thema zu mobilisieren sind, musste auch Vera Bintener diese Woche wieder erfahren. Das Interesse an einem von info-handicap organisierten Workshop für Firmenchefs und Personalverantwortliche war eher mau.

1400regardsbildtelexxhandicapEingeschränkt werden

Gregor Demblin war einer der Referenten. Der österreichische Unternehmensberater argumentiert, dass die Beschäftigung von Personen mit Behinderung auch ein Wettbewerbsvorteil sein kann. „Es gibt verschiedene Studien, die alle übereinstimmend sagen, dass zwischen 15 und 17 Prozent der Bevölkerung eine Behinderung haben“, so Demblin gegenüber der woxx. „Das sind riesige Zielgruppen, die von der Wirtschaft überhaupt nicht als solche gesehen werden“. Demblins Consultingagentur „DisAbility Performance“ hat sich daher auf Menschen mit Behinderung als Kunden und Angestellte aus Unternehmensperspektive spezialisiert.

Der Manager möchte die Unternehmer vor allem aus der betriebswirtschaftlichen Perspektive für das Thema Behinderung sensibilisieren: „Mir ist wichtig, dass die Unternehmen das nicht aus sozialen Gründen machen, weil diese Sachen dann meistens nur halbherzig funktionieren oder nicht von langer Dauer sind. Sie sollen verstehen, dass das auch für ihren wirtschaftlichen Erfolg wesentlich ist“, so der Enddreißiger, der seit einem Badeunfall vor 20 Jahren im Rollstuhl sitzt.

Seine Beratung der Supermarktkette Rewe in Österreich beispielsweise beurteilt Demblin als Beleg, dass seine Strategie funktioniert. Rund 2.000 Filialen werden derzeit barrierefrei umgestaltet, 400 Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen werden geschaffen – in einem ersten Schritt.

Demblin hofft, dass solches Beispiel Schule macht; denn die Widerstände sind in vielerlei Hinsicht absurd: „Die Leute denken automatisch immer gleich an jene Behinderung, die für einen bestimmten Job am allerhinderlichsten ist.“ Was indes nicht gesehen werde, seien die besonderen Stärken, die Menschen mit Einschränkungen entwickeln: „Jeder, der eine Behinderung hat, entwickelt, um diese zu kompensieren, ganz besondere Fähigkeiten, und wenn man die in einem Unternehmen gut einsetzt, dann hat man einen Vorteil, weil behinderte Menschen bestimmte Sachen besser können als Menschen ohne Behinderung.“

Demblin hat noch weitere Argumente parat. „Ich mache den Unternehmen klar, dass statistisch betrachtet 15 Prozent ihrer Belegschaft eine Behinderung hat, nur wissen es die Personalverantwortlichen nicht.“ Das gelte auch für den Leistungsschwund des alternden Personals. „Statistisch betrachtet erwerben jährlich zwei Prozent dieser Belegschaft eine Behinderung.“ Demblin will erreichen, dass dieses Wissen Firmen nicht nur zum Nachdenken anregt, wie man solches Personal loswerden kann. „Die Leute versuchen ihre Einschränkung zu verstecken, wenn sie ihren Job nicht mehr so gut machen können wie früher. Wenn aber das Unternehmen konkrete Unterstützung anbietet, dann bringt das den Mitarbeitern was, weil sie keine Angst mehr um ihren Job haben müssen. Gleichzeitig erhöht das die Produktivität der Mitarbeiter und damit auch der Unternehmen.“

In Luxemburg allerdings bedarf es im Prinzip keiner privaten Consultingfirma, um solche Beratungsfunktionen zu übernehmen – sofern die bestehenden Ressourcen finanziell adäquat ausgestattet sind: Zwar verfügen soziale Träger wie Zarabina und Info-handicap selbst über differenziertes und weitreichendes Knowhow, doch schon Projekte wie „mode d’emploi“ sind personell eine Herausforderung und trotz staatlicher Zuschüsse nur dank Sponsorengeldern umsetzbar.

So richtet sich das Augenmerk schließlich doch zurück auf die Politik und die zuständigen Ministerien. Neben institutionellen Fragen geht es darum, die personelle und finanzielle Ausstattung zu gewährleisten, damit auch Luxemburger Unternehmen eine fachspezifische Beratung wahrnehmen können, die prinzipiell längst vorhanden ist. Im nächsten Jahr fällt der „Internationale Tag der Menschen mit Behinderung“ auf einen Sonntag. Es wäre zu hoffen, dass das Thema nur in dieser Hinsicht eines für Sonntagsreden bleibt.


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