Datenschutz im Netz
: Kontrolle zurückgeben


Datenschutz und Anonymität im Netz gehen uns alle an. Für queere Menschen sind sie jedoch oft überlebenswichtig.

Im Rahmen der Computersicherheitskonferenz „hack.lu“ unterhielt sich die woxx mit der Sicherheitsexpertin Sarah Jamie Lewis über ihr Projekt „Queer Privacy“ und die besonderen Anforderungen, die die Situation queerer Menschen an die Anonymität und den Datenschutz im Netz stellt.

woxx: Warum ist Privacy so wichtig für queere Menschen im Internet? 


Sarah Jamie Lewis: Sowohl bei der Anonymität als auch beim Datenschutz geht es in Wirklichkeit um Empowerment. Wenn wir Anonymität für Menschen in gewissen Situationen gewährleisten, geben wir ihnen den Raum, sie selbst zu sein, Ideen auszudrücken und mit Konzepten und Ideen zu spielen. Das könnten sie nicht, wenn sie sich mit Klarnamen präsentieren müssten, weil dann durch die gesellschaftlichen Erwartungen Druck entstünde. Queere Menschen als Gruppe brauchen Hilfe, und es kann vieles gemacht werden, was ihnen hilft, ein erfülltes Leben zu führen.

Historisch gesehen war der Prozess eines „offiziellen“ Coming-out und größerer Sichtbarkeit ein wichtiger Bestandteil queerer Kultur und Politiken. Wie beurteilen Sie die Spannung zwischen Sichtbarkeit und Anonymität?


Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was Coming-out für queere Menschen bedeutet, und dem, was der Rest der Welt sich darunter vorstellt. Oft wird so getan, als sei Coming-out dieser eine große Tag, nach dem alles anders ist. Für die meisten queeren Menschen ist die Realität eine andere; ihr Outing ist kein einmaliger Schritt, sondern sie tun ihn immer wieder. Je nach Situation sogar jeden Tag. Es gibt diese Idee, dass queere Menschen vor ihrem Coming-out anonym sind und nach ihm keine Privatsphäre mehr nötig haben. Wenn wir aber annehmen, dass queere Menschen sich jeden Tag outen müssen, weil sie ständig gegen diese cis-hetero-
normative Gesellschaft kämpfen müssen, wird Privatsphäre zum Werkzeug, mit dem queere Menschen verschiedene Aspekte ihres Lebens kontrollieren können. Wenn jemand sich in einer bestimmten Situation nicht zu outen braucht das Geschlecht seines Partners/seiner Partnerin unerwähnt lassen kann, dann gibt das der Person Kontrolle zurück.

Es ist ja nicht so, dass EntwicklerInnen in böser Absicht handeln und aktiv Homosexuelle outen wollen, sie denken einfach nicht darüber nach

Sie haben einen Vortrag auf der hack.lu gehalten. Wie wichtig ist es für Sie, dass auf solchen Konferenzen über Themen wie Queer Privacy gesprochen wird?


Sehr wichtig (lacht). Die Leute, die diese Konferenzen besuchen, haben sehr viel Macht darüber, wie Systeme und Technologien in Zukunft aussehen werden. Ich kann viel mit AktivistInnen und PolitikerInnen reden, aber das wird die Probleme, die die sich aus der Technologie ergeben, nicht lösen. Es ist ja nicht so, dass EntwicklerInnen in böser Absicht handeln und zum Beispiel aktiv Homosexuelle outen wollen; sie denken einfach nicht darüber nach, dass ebendies möglicherweise die Folge ihres Handelns ist. Der einzige Weg, das zu ändern, besteht darin, es diesen Leuten zu sagen. Denen, die es hören wollen, und auch denen, die es vielleicht nicht hören wollen.

Was für Werkzeuge für Queer Privacy gibt es, und welche wären wünschenswert?


Die Tools, über die ich am meisten rede und die ich selbst auch täglich benutze, sind der Signal-Messenger für anonyme Kommunikation und TOR zum anonymen Browsen. Beide sind großartig, beide haben aber auch Probleme: Es ist kompliziert, sie zu bedienen, selbst für Menschen die über technisches Know-How verfügen. Die Leute haben auch Probleme zu verstehen, wie genau diese Tools sie schützen. Und es sind sehr allgemein konzipierte Tools, die sich nicht an die Bedrohungszenarien einzelner UserInnen anpassen. SexarbeiterInnen, die Signal verwenden, gewinnen dadurch ein gewisses Maß an Anonymität. Sie haben aber zum Beispiel keine Möglichkeit, einen Notfallanruf abzusetzen. Ich würde wirklich gerne integrierte Privacy Tools sehen, die sich für verschiedene Bedrohungsszenarien anpassen lassen, also zum Beispiel eine Funktion besitzen, mit der man Signal die Anweisung geben kann: „Wenn ich mich bis zu diesem Zeitpunkt nicht melde, setze einen Notruf an Person X ab“. Solche Schemata könnte es außer für SexarbeiterInnen beispielsweise auch für‘s Dating, für Menschen die versuchen ihre Geschlechtsidentität herauszufinden, oder für Menschen, die aus einer gewalttätigen Beziehung fliehen wollen, geben. Es wäre wichtig, dass Privacy Tools solche Szenarien mitbedenken würden und ihre UserInnen in gefährlichen Situationen warnen könnten. So etwas zu entwickeln, ist sehr schwierig, aber ich hoffe, dass Projekte wie „Queer Privacy“ dazu beitragen können.

In Ihrem Vortrag ging es auch um Bedrohungen und Belästigungen im Netz, die queere Menschen erfahren. Welchen Schutz gegen solches Verhalten sollte es geben?


Die UserInnen müssen die Möglichkeit haben, selbst zu entscheiden, welche Inhalte sie sehen wollen und welche nicht. Es muss also eine technische Handhabe geben, die es ihnen zum Beispiel erlaubt, UserInnen, die sie belästigen oder bedrohen, aus ihrer Gruppe oder Timeline zu entfernen und deren Verhalten zu melden. Ein Problem ist zur Zeit, dass es nur zwei Modelle gibt, mit denen Belästigungen im Netz bekämpft werden können: Man kann die entsprechenden Personen blockieren und sie ignorieren oder sie melden und hoffen, dass irgendwer etwas unternimmt. Diese Modelle stehen sich aber gegenseitig im Weg. Ich zum Beispiel hatte einmal mit einer Person zu tun, die mir belästigende Nachrichten auf twitter schickte. Ich habe sie geblockt und folglich nicht mehr gesehen, dass sie mir weiterhin schrieb. Monate später fand ich durch einen Zufall heraus, dass das der Fall war und dass ihre Nachrichten mit jedem Tag aggressiver und sexualisierter wurden. Weil ich die Person aber geblockt hatte, war ich mir nicht bewusst, dass ich mir vielleicht ernsthafte Sorgen um meine Sicherheit hätte machen müssen. Ich denke, wir brauchen intelligentere Modelle, vielleicht Werkzeuge, die das Verhalten geblockter Personen überwachen, vor allem, wenn diese in der Nähe der Betroffenen wohnen. Ich hasse regulatorische Lösungen für soziale Probleme, weil sie beinahe nie funktionieren. Ich denke, social media-Plattformen müssen anfangen, Verantwortung zu übernehmen und sich zu überlegen, welche Art von Inhalte sie auf ihren Seiten haben wollen.

Gibt es Beispiele dafür, dass social media-Plattformen angemessen mit Bedrohungen und Belästigungen umgehen?


Nein. Was ganz sicher nicht hilft, ist eine Klarnamenpflicht. Eigentlich ist jedes Werkzeug wie ein Hammer, ein stumpfes Werkzeug. Blockieren ist ein Hammer, Stummschalten ist ein Hammer, Melden ist ein Hammer, eine Anzeige erstatten ist ein Hammer, es in die Öffentlichkeit zerren ist ein Hammer. Es gibt keine nuancierte Lösung, weil es ein soziales Problem ist, denn es geht um Leute, die Arschlöcher im Netz sind. Es gibt keine „best practices“, die einzige Lösung ist, den Menschen ein wenig Kontrolle über die Situation zu geben.

Es ist nicht okay, dass Regierungen unsere SMS, Anrufe und Browser-Chroniken durchschnüffeln

Sie haben ihrem Publikum zwei Botschaften mit auf den Weg gegeben: „Übt euch in Mitgefühl!“ und „Setzt Konsens durch!“. Was meinen Sie damit?


Mit „Übt euch in Mitgefühl!“ meine ich, dass wir die ganze Zeit darüber nachdenken sollten, wie unsere Handlungen andere beeinflussen. Und dass wir verstehen müssen, dass jede Entscheidung, die wir treffen, wahrscheinlich gesellschaftliche Auswirkungen haben wird. Die Entscheidungen können trivial sein, wie zum Beispiel die, welche Optionen die UserInnen für das Feld „Geschlecht“ haben, oder ob überhaupt nach dem Geschlecht gefragt wird. Sie können aber auch bedeutsam sein, wie zum Beispiel die Antworten auf die Fragen „Trete ich Organisationen bei, die trans- oder homofeindliche Botschaften verbreiten?“ oder „Ist es mir wichtig, woher mein Essen kommt?“. Wir haben als Gesellschaft die Tendenz, zu denken „Hier ist ein Interface, mir ist egal, was dahinter steckt!“. Ich denke, wir müssen wissen, wer das Interface programmiert hat und wie es funktioniert, um seinen Einfluss auf die Welt richtig zu begreifen. Mit „Konsens durchsetzen“ meine ich, dass wir die Passivität gegenüber den Verletzungen der Privatsphäre, die ständig um uns herum passieren, überwinden müssen. Nein, es ist nicht okay, dass alle unsere Daten wegen schlecht designter Protokolle überall durchsickern. Es ist nicht okay, dass unsere Regierungen unsere SMS, Anrufe und Browser-Chroniken durchschnüffeln. Es ist nicht okay, dass Menschen sich outen müssen, um an Gesundheitsdienstleistungen heranzukommen. Die einzige Lösung für diese Probleme ist, schonungslos Konsens durchzusetzen. Also zum Beispiel zu sagen „Nein, ihr könnt euch nicht meinen Datenverkehr ansehen, ich verschlüssele ihn. Wenn ihr ihn ansehen wollt, müsst ihr herkommen und euch um meine Zustimmung bemühen. Oder ihr fragt ganz lieb, und vielleicht entscheide ich mich dann ja, euch das mitzuteilen. Aber ich bin es, die diese Entscheidung trifft, nicht ihr!“ Ich denke, das ist eine wichtige Geisteshaltung und ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen sie teilen.

Sie starten jetzt ein neues Projekt namens „Queer Hacking“. Was hat es damit auf sich?


„Queer Privacy“ ist ein sehr deprimierendes Buch, und es war sehr belastend, es zusammenzustellen und zu schreiben. Ich habe natürlich versucht, hoffnungsvoll zu sein, aber im Endeffekt geht es darum, wie Technologie uns im Stich lässt. Ich wollte, dass mein nächstes Projekt optimistischer wird und mehr Empowerment leistet. „Queer Hacking“ wird eine Sammlung von Geschichten über Menschen, die die Welt durch Technologie, Hacking und Aktivismus zu einem besseren Ort machen. Vielleicht – hoffentlich – bringt sie einige dazu, es diesen Menschen gleich zu tun.


Zur Person

Sarah Jamie Lewis ist Informationssicherheitsforscherin und beschäftigt sich mit Anonymität im Netz. Anfang 2017 erschien ihr Buch „Queer Privacy“, eine Sammlung von Essays über die Privatsphäre von queeren Menschen. Außerdem hält Lewis Vorträge und arbeitet an mehreren Open Source-Projekten, unter anderem dem Projekt „bounce“, das Log-ins ohne Passwörter ermöglichen soll. Mehr zu diesem Tool auf woxx.lu.


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