Diskriminierung
: Schreckgespenst Behinderung

In Kampagnen für Verkehrssicherheit werden Menschen mit Behinderung gerne als Abschreckungsmittel benutzt. Zu mehr Akzeptanz und Chancengleichheit trägt dies sicher nicht bei.

Ein Bild der Sécurité-routière-Kampagne droht mit generellem „Out-sein“. (©sécurité-routiere.lu)

Zwei Frauen spazieren lachend durch die Stadt, eine der beiden wäscht sich in der Dusche die Haare, wir sehen sie auf ihrem Arbeitsplatz, sie läuft Treppen hoch, steigt vorm Flughafen aus dem Taxi, man sieht sie beim Kochen in der Küche und anschließend beim Fallschirmspringen. Dann sitzt sie im Auto hinterm Steuer, sie wird von einem Scheinwerfer angestrahlt, schreit und tritt auf die Bremse – aber zu spät: wir hören quietschende Reifen und schepperndes Blech. In der nächsten Einstellung rollt die Frau mit dem Rollstuhl in den Bildrahmen. Es werden noch weitere Menschen mit einer Behinderung gezeigt. „Ech hu meng Zukunft verluer“, „An ech meng Privatsphär a meng Autonomie“ verkünden die Personen im Video.

Es ist Teil einer Kampagne von Association des victimes de la route, Nachhaltigkeitsministerium und Sécurité routière. Damit soll die breite Öffentlichkeit für die „unwiderruflichen Folgen von Verkehrsunfällen“ sensibilisiert werden, wie auf der Seite der Sécurité routière zu lesen ist. Mit Bezug auf so definierte Menschen mit Behinderung werden dort Autonomie- und Intimitätsverlust, Einsamkeit und Isolation aufgezählt. „Och e Liewen, wat net eriwwer ass, kann zerstéiert sinn“ – ist außerdem zu lesen. Eine Behinderung zerstört das Leben. Der Spruch zieht sogar einen Vergleich zwischen Behinderung und Tod-Sein. Es entsteht der Eindruck, dass letzteres für die Kampagne als nicht abschreckend genug erachtet wurde.

Salonfähige Diskriminierung

Während etwa sexistische, rassistische oder antisemitische Medieninhalte mittlerweile heftige Widerrede auslösen, gibt es zwei Bevölkerungsgruppen, die immer noch auf diskriminierende Weise dargestellt werden können, ohne dass die Diskrimination überhaupt als solche erkannt wird: Dicke Menschen und solche mit Behinderung. Der Grund, weshalb sich nur die wenigsten an solchen Darstellungen stören, ist einfach: Sie werden in direktem Kontrast zu Gesundheitsidealen gezeigt, über welche ein breiter gesellschaftlicher Konsens herrscht. Auf den ersten Blick scheint es sich bei der Diskriminierung von dicken Menschen und solchen mit Behinderung um zwei separate Phänomene zu handeln, doch sind es im Grunde nur verschiedene Ausprägungen ein und derselben Denkweise: Wer nicht auf sich achtet, macht seinen Körper kaputt und ruiniert damit sein Leben. Dicksein, Behindertsein – alles Dinge, die einem blühen, wenn man sich nicht an die Regeln hält. Natürlich gibt es aber auch deutliche Unterschiede zwischen beiden Diskriminierungsformen. Während bei negativen Darstellungen von Behinderung vor allem das Zerstörte-Leben-Narrativ dominiert, schwingt bei solchen dicker Menschen immer die Aufforderung zur Optimierung, also zum Abnehmen mit. Die relativ ähnlichen Exklusionserfahrungen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den jeweiligen Stigmas auch darüber hinaus um sehr unterschiedliche Phänomene handelt.

Intuitiv liegt es nahe, dass eine erhöhte Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung eine Enttabuisierung sowie den Abbau von Vorurteilen und Berührungsängsten begünstigt. Doch kommt es wesentlich auf die Art der Darstellung an. Die meisten fallen in eine von zwei Kategorien. Entweder werden Menschen mit Behinderung als Inspiration dargestellt, als Beweis, dass man „trotz“ physischer und psychischer Einschränkungen Tolles leisten kann. Nicht selten kann man zum Beispiel Sätze lesen wie „Sie kämpft nicht nur gegen ihre Gegner, sondern auch gegen ihre Behinderung“, „Sie überwindet ihr Schicksal“ oder „Trotz körperlicher Einschränkung hat er hohe Ziele“. Meist werden Menschen mit Behinderung allerdings als bemitleidenswert und als Abschreckung für gesundheitsgefährdendes Verhalten benutzt, so wie etwa in oben erwähnter Kampagne.

Neben dem Video sind auch Plakate Teil der Kampagne von Sécurité routière und Co. Die darauf stehenden Slogans zeichnen ein äußerst negatives Bild von Behinderung: „Dohi mam Auto. Zeréck mam Rollstull“; „Gëschter autonom. Haut onselbststänneg.“ Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass manche Menschen so über die eigene Behinderung denken, wie es diejenigen in der Kampagne tun. Denn Menschen mit Behinderung wird es in unserer Gesellschaft in der Tat nicht leicht gemacht. Weder Barrierefreiheit noch Chancengleichheit sind eine Selbstverständlichkeit. Davon wird in der Kampagne aber nichts angedeutet. Stattdessen wird so getan, als sei die Behinderung an und für sich eine Last.

Zudem wird der Rollstuhl als Sinnbild der Einschränkung dargestellt – ironischerweise ebenjenes Mittel, das vielen physisch behinderten Menschen zu mehr Mobilität und Autonomie verhilft. Die Vorstellung, dass Menschen mit Behinderung keine Autonomie haben, ist ein verbreitetes Vorurteil. Damit geht die Ansicht einher, sie seien auf ständige Hilfe angewiesen. Die Kampagne bestärkt zudem die Tendenz, dass es ein Anrecht darauf gäbe, zu erfahren, weshalb andere von einer Norm abweichen. Menschen mit einer Behinderung werden in dieser Hinsicht als etwas angesehen, aus dem sich wichtige Lebenslektionen ziehen lassen.

Sprache beeinflusst das Denken

Sprache ist nie nur eine Abbildung der Realität, sondern gestaltet diese zugleich auch mit. Das heißt einerseits, dass stigmatisierende Beschreibungen bei betroffenen Personen zu einem entsprechend negativen Selbstbild führen können. Andererseits aber auch, dass dadurch bestehende Vorurteile reproduziert werden. Die angeführten Beispiele normalisieren die Vorstellung von Behinderung als etwas, das man sich wegwünscht. „Gott sei dank bin ich nicht behindert“ und „Wäre ich doch nur nicht behindert“, sind die Botschaften, die damit einhergehen. Für Menschen, die eine positive Einstellung zu ihrer Behinderung haben ist dabei kein Platz.

(© https://incl.ca)

Beispiele für Kampagnen, die auf diskriminierende Weise für Verkehrssicherheit werben gibt es zahlreiche. 1980 warb zum Beispiel eine deutsche Autoversicherung mit „Behinderung ist schlimmer als der Tod“ für Autofahren mit Anschnallgurt. Und der Autohersteller BMW beispielweise warnte  mit dem Bild einer Person mit Beinprothese vor alkoholisiertem Autofahren. Die Kampagne der Sécurité routière zeigt, dass diesbezüglich immer noch kein wirkliches Umdenken stattgefunden hat. Zwar wird nicht explizit gesagt, dass das Leben und der Körper von Menschen mit Behinderung minderwertig sind, es wird aber impliziert. Dadurch, dass Behinderung als Horrorszenario dargestellt wird, wird Nicht-Behindertsein als Ideal propagiert – eine Haltung, die Ableismus genannt wird. Für Sensibilisierungskampagnen zur Verkehrssicherheit keine ungewöhnliche Strategie, findet die Abschreckung in diesem Fall, anders als bei Hinweisen auf Verkehrstote, anhand real existierender Menschen statt. „Halte dich an Geschwindigkeitsbegrenzungen, sonst wirst du einmal so“, so die Drohung. In einer Gesellschaft, in der Menschen mit Behinderung täglich um Akzeptanz und gleichberechtigte Teilhabe kämpfen, kann eine solche Botschaft nur kontraproduktiv sein. Von menschenrechtsbasierten Gesundheitsdiensten wäre eine größere Sensibilität gegenüber Menschen mit Behinderung zu erwarten gewesen.

Körper und Existenzweisen, die nicht der Norm entsprechen, erfahren heutzutage eine verstärkte mediale Aufmerksamkeit, was grundsätzlich positiv zu bewerten ist. Bei Kampagnen wie der der Sécurité routière steht allerdings nicht die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung im Zentrum, sondern die Festigung bestimmter, mit ihnen im Widerspruch stehenden, Normen. Dadurch, dass die abgebildeten Menschen auf ihre Behinderung reduziert und schädliche Stereotype reproduziert werden, wird Nicht-Behinderung als Ideal zementiert. Dem Anliegen der Kampagne wird die Bekämpfung von Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderung somit nicht nur untergeordnet, sie fällt ihm sogar zum Opfer.


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