Einheitsfach „Vie et société“
: Mit tausend Zungen lehren

Die Einführung von „Vie et société“ an den Sekundarschulen ist schlecht vorbereitet, klagen die Lehrer. Der Grund dafür liegt weniger beim Minister als bei der Art und Weise, wie über die Lerninhalte diskutiert wurde

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Laizität und Schule: So klar strukturiert wie in Frankreich ist die „Trennung“ in Luxemburg nicht. Wirklich schade? (Foto: Raymond Klein)

„Der Lehrer spielt eine Vermittlerrolle, setzt einen Rahmen für die Diskussionen – um die Wissensvermittlung an sich geht es nicht.“ So versuchte die Lehrerin Tammy Muller am 7. Juli eine Unterrichtsstunde des neuen Fachs „Vie et société“ zu beschreiben. Die Pressekonferenz des Bildungsministeriums (siehe Kasten) fand zum spätestmöglichen Zeitpunkt statt, wenige Stunden, bevor in der Chamber über das entsprechende Gesetz abgestimmt wurde. Ob das Modell „ohne Wissensvermittlung“ die Lehrer und die breite Öffentlichkeit überzeugen wird, ist, angesichts der heftigen Diskussionen der vergangenen zwei Jahre, schwer zu sagen.

Jeder Reformversuch ruft Widerstand hervor, doch selten haben Reformer es ihren Kritikern so einfach gemacht wie bei der Einführung des neuen Einheitsfachs „Vie et société“. „Hier trägt man aus politischen Gründen Chaos in die Schulen hinein, und die Lehrkräfte werden als Geiseln für politische Zwecke geopfert“, schrieb die Lehrergewerkschaft Feduse vor einem Monat. Stein des Anstoßes ist die obligatorische Fortbildung von 16 Stunden für all jene, die künftig das neue Fach unterrichten wollen. Das ist nicht verwunderlich, denn im öffentlichen Dienst wird jede obligatorische Fortbildung erst einmal als Zumutung angesehen – angesichts von Zugangshürden wie Examen und Praktika durchaus verständlich. „Mir ist es wichtig, dass das neue Fach mitgetragen wird (…) [auch von den Eltern, die sagen] wir wollten das vielleicht nicht, aber wir finden, dass es fachlich gut ist und dass wir den Lehrkräften vertrauen können“, rechtfertigte Bildungsminister Claude Meisch im RTL-Radiointerview die Fortbildung.

Das reicht nicht aus, die Kritik der Feduse zu entkräften, die sich ja eigentlich daran entzündete, dass ausgebildete und erfahrene Ethik- und Religionslehrer zu der gleichen Fortbildung verpflichtet werden wie Neueinsteiger: „Für die einen kann das gewinnbringend sein, für die anderen ist es eine Zumutung“ meint die Gewerkschaft. Und stellt die etwas verwegene Behauptung auf, es handle sich bei „Vie et société“ nur um eine Programmänderung gegenüber den beiden Fächern Religion und Ethik.

Die Lehrer sehen das anders – auf beiden Seiten. Die Ethiklehrer bemängeln, dass man hier versuche, „mehr schlecht als recht Politikwissenschaft, Theologie und Soziologie zu vereinen“, anstatt, wie im Fach Ethik, die Philosophie als Leitdisziplin zu nehmen. Die Religionslehrer dagegen bezweifeln die religionswissenschaftliche Kompetenz ihrer Kollegen, wenn es um die Auseinandersetzung mit Glaubensrichtungen und deren Traditionen geht. Beide Bedenken hätte man mit einer umfassenden Fortbildung beschwichtigen können, nicht aber mit besagten 16 Stunden.

Schweizer Käse?

Doch was die Gemüter erregt, ist eher die unsichere Zukunft der Religions-Lehrkräfte. Auf RTL zeigte Meisch Verständnis für den Unmut der vom Verschwinden des Religionsunterrichts Betroffenen. Und weil der luxemburgische Staat normalerweise nicht so mit seinen Bediensteten umspringt, fällt die Kompensation recht großzügig aus: Wer derzeit Religion unterrichtet, soll auf irgendeine Weise im staatlichen Dienst bleiben können. In den Sekundarschulen, wo auch bisher schon der Staat und nicht das Bistum als Arbeitgeber fungierte, stellt sich die Frage mit weitaus geringerer Schärfe – nach unseren Informationen werden im Herbst alle bisherigen Religionslehrer das neue Fach unterrichten.

Bei der Diskussion, wer zu welchen Bedingungen welchen Job bekommen wird, verschwindet, wie so oft, der eigentliche Zweck der Reform aus dem Blick: ein Unterrichtsfach hoher Qualität zu etablieren, in dem Schüler mit unterschiedlichem familiär-kulturellem Hintergrund mit ethischen Fragen befasst werden. „Im Zentrum des Fachs soll das Zusammenleben (…) stehen“, heißt es im Rahmenlehrplan für „Vie et société“. „Als ob man mit Hilfe der Schweiz im MENJE nun endlich die eine Formel fürs Zusammenleben gefunden hat, die man den SchülerInnen jetzt wie eine Impfung verabreichen könnte“ spottet die Association luxembourgeoise des professeurs d’éthique (ALPE). Doch bei ihrer Vorgabe wenden Claude Meisch und seine Züricher Berater nur ihren gesunden Menschenverstand an. Als Rechtfertigung dafür, die beiden Fächer Religion und Ethik nicht einfach ersatzlos zu streichen, taugen nämlich die Ausführungen von Diplomphilosophen über die Wichtigkeit ihrer Disziplin wenig. 
Die Idee, in Zeiten von kultureller, weltanschaulicher und religiöser Vielfalt im Rahmen der Schule gezielt Dialog und Toleranz fördern zu wollen, ist dagegen unmittelbar einleuchtend.

Klug war es wohl auch, die Bezeichnung Werteunterricht zu vermeiden; diese suggeriert nämlich die Vermittlung eines Korpus vorgegebener moralischer Prinzipien. Von religiöser Seite gab es die überzogene Warnung vor einer staatlichen Indoktrinierung, doch auch diejenigen Ethiklehrer, die ihre Methode des praktischen Philosophierens ernst nehmen, dürften sich in diesem Punkt nicht ganz wohl gefühlt haben. Übriggeblieben ist ein Verweis auf Jules Ferry im „Exposé des motifs“ der Reform: Neutralität stehe für eine von den Menschenrechten geprägte Erziehung auf der Basis von Freiheit, wissenschaftlichen Fakten und gemeinsamer Moral. Lehrer, die das wortwörtlich anwenden, werden aber wohl im Angesicht von experimentierfreudigen pubertierenden Jugendlichen schnell an ihre Grenzen stoßen, besonders dann, wenn sie das Fach unvorbereitet unterrichten.

Richtig gut vorbereitet wird niemand sein. Denn außer dem vor einem Jahr vorgestellten Rahmenlehrplan liegt bisher nichts vor, weder detaillierte Inhalte noch Unterrichtshilfen. „Dieses neue Fach muss sich über die nächsten Jahre hinweg weiterentwickeln, wie legen das jetzt in die Hände einer noch zu schaffenden Programmkommission“, erläuterte Meisch im RTL-Interview. Das klingt nach „learning by doing“ – für sich genommen nicht unsympathisch, aber leider in diesem Fall eine Verlegenheitslösung.

Wir sind die Ethik!

1379stoosSchlimmer noch: indem er auch Quereinsteiger nach 16 Stunden Fortbildung auf „Vie et Société“ loslässt, suggeriert der Minister, dass eigentlich jeder das Fach auf seine Weise unterrichten kann. Von einer CSV-Abgeordneten in der Commission de l’Éducation befragt, ob die Behandlung der Religionen hierbei nicht Gefahr laufe, zu kurz zu kommen, verwies Meisch auf die Aufsichtspflicht der Schuldirektoren und auf die geplante Erstellung von Lehrplänen in den jeweiligen Schulgebäuden. Beides wird fehlendes Fachwissen nicht ersetzen und den Lehrern nicht weiterhelfen, wenn sie, gerade bei religiösen Inhalten, Schülern gegenüberstehen, die über mehr Sachkenntnis verfügen als sie selber.

Wie konnte es zu diesem Chaos kommen? Die Laizisten verweisen immer wieder gerne auf unter den Vorgängerregierungen betriebene Vorarbeiten für ein Unterrichtsmodell „Praktisches Philosophieren“. „Vie et Société“ dagegen räume der Religion zu viel Platz ein und laufe Gefahr, zum „Laberfach“ zu werden – es werde „die ethische Bildung in Luxemburg um 20 Jahre zurückwerfen“. Es stimmt, dass es bemerkenswerte Bemühungen gab, das „kunterbunte Allerlei“, das gerade beim Ethikunterricht in der Grundschule herrschte, mittels Lehrplan und Fortbildung in den Griff zu bekommen. Das Problem: Nach der Entscheidung, den Religionsunterricht abzuschaffen, versuchten die Ethiklehrer, ihr Unterrichtsmodell als Blaupause für den künftigen Einheitskurs durchzusetzen. Weil aber die „Trennung von Kirche und Staat“ auf einem Kompromiss beruht und diese Vorgehensweise für die religiöse Gegenseite inakzeptabel war, kam es 2014 zu einer Pattsituation.

Die Ethiklehrer waren mit maximalistischen Forderungen in die Diskussion gegangen: „Jeder“ Religion gleich viel Raum im Lehrplan gewähren, die Religionslehrer vom neuen Fach ausschließen. Mit mehr Kompromissbereitschaft und einer klaren Abgrenzung zu dem Kulturkampf, den sich Ultra-Laizisten und religiöse Trennungs-Gegner lieferten, hätten man sich vielleicht auf einen Kurs „Praktische Philosophie plus“ einigen können, der den für Luxemburg relevanten Religionen einen besonderen Platz einräumt. So aber bleibt den Ethiklehrern nur die Enttäuschung über die schlecht vorbereitete Einführung eines Unterrichtsmodells, das sie nicht gutheißen.

Der falsche Kompromiss

Mehr zu fordern, etwa einen Aufschub, wäre allerdings wenig ratsam. Denn Meischs überstürzte Einführung von „Vie et société“ im Sekundarunterricht ist aus der Not erwachsen – die Reform muss vor den nächsten Wahlen unter Dach und Fach sein. Die wenigsten Laizisten glauben wohl, ein näher rückender Wahltermin begünstige eine Korrektur der „faulen Kompromisse“, und schon gar nicht sind sie überzeugt, dass ihnen die nächste Regierung – mit CSV-Beteiligung – all das gewähren wird, was Meisch verweigert.

Das ist das wahre Paradox: Diejenigen, die das Fach unterrichten werden, haben es nicht geschafft, einen sachlich fundierten Kompromiss auszuhandeln. So pendelte die Ausrichtung von „Vie et société“ hin und her, mal enthielt der Plan, in den Augen der katholischen Lobby, zu wenig Religion, mal zu viel in den Augen der laizistischen. Einig sind sie sich nur darin, wie sie das Kürzel „Vieso“ aussprechen, nämlich als „Wieso“. Das suggeriert – passenderweise – die Frage nach dem Sinn des Lebens, oder – mit bitterer Ironie – die Frage nach dem Sinn des neuen Fachs. Am Ende der Verhandlungen steht jedenfalls statt eines sachlichen Kompromisses ein – von Zeitdruck und Phrasendrescherei geprägtes – politisches Arrangement.

Dabei haben auch die Religionslehrer der Ideologie das Feld überlassen, statt eine realistische Strategie zu entwickeln. Gewiss, sie haben immer wieder betont, dass sie seit langem keine Katechese mehr betreiben und dass ihr Fach dem Moralunterricht und der praktischen Philosophie stark ähnelt. Wenn aber beide Fächer so nah beeinander liegen, wie passt das zum Mantra des „Fir de Choix“, das die Religionslehrer ebenfalls immer wieder nachbeteten? Verständlich auch, dass sie ihren Unmut über den erzwungenen Karrierewechsel artikulierten. Doch wenn es darum geht, über die Ausgestaltung einer unwillkommenen Veränderung zu verhandeln, ist es nicht gerade klug, nur darauf zu beharren, dass es am besten wäre, alles beim Alten zu belassen. Man könnte es Claude Meisch nicht verdenken, wenn er denen, die seine Reform sowieso nicht akzeptieren, am Ende ein „Friss oder stirb“ zuriefe.

Und dann? Entpuppt sich der neue Kurs, wie wohl manche hoffen, als Flop? Wird nach den nächsten Wahlen die „Wahlfreiheit“ wieder eingeführt? Es wäre ein Triumph für die Ewiggestrigen, denn es würde dem laizistischen Lager klar signalisieren: Mit uns gibt es keine Kompromisse. Aber nur ein kurzlebiger Triumph. Denn beim nächsten Ausschlagen des Pendels würde dann wohl nicht mehr lange an einem Einheitskurs herumgebastelt, sondern die traditionelle Forderung der Laizisten umgesetzt werden. Deren These war nämlich lange Zeit, dass, Zusammenleben hin oder her, ein Werteuntericht nichts in der öffentlichen Schule zu suchen habe – und somit Religions- und Ethikunterricht ersatzlos gestrichen gehören.


Das „Laberfach“ im Detail


(lm) – Ein wenig wurde der Schleier des Geheimnisses, der über den Vorbereitungen für „Vie et société“ lag, am Morgen des 7. Juli gelüftet, wenige Stunden bevor das dazugehörige Gesetz der Chamber vorgelegt wurde. Zwar fand das Pressegespräch ohne den Minister statt, doch standen immerhin acht der für das Projekt verantwortlichen Mitarbeiter den Medien Rede und Antwort.


Klar wurde, dass die Leitidee, das Zusammenleben ins Zentrum des Fachs zu stellen, mehr ist als nur ein Kunstgriff, der helfen soll, ideologische Klippen zu umschiffen. Die Väter und Mütter von „Vieso“ meinen es ernst. Bei der heiligen pädagogischen „Fünffaltigkeit“, die Tammy Muller anführte – Bewusstsein, Wissen, Meinung, Diskussion und Handeln – steht die reine Wissensvermittlung im Hintergrund. Am Beispiel der Handreichung zum Thema Migration illustrierte sie, wie man sich den neuen Kurs vorstellt. Das Unterrichtsmaterial liefere Ideen und keine gebrauchsfertigen Schulstunden – jeder Lehrer könne und solle es auf seine Art benutzen und ergänzen.


Dazu passt auch, dass nicht nur die Schüler dazu ermutigt werden, sich im Gespräch auszutauschen – zu „labern“, wie es die Ethiklehrer einmal abfällig genannt hatten. Auch die Lehrkräfte sollen ihre Unterrichtsweise in einem kollegialen Austausch vorstellen und weiterentwickeln. Bis September soll es 70 der 4-seitigen Handreichungen geben, also gerade mal vier pro Trimester. Und irgendwann danach sogar eine Programmkommission. Ob das Material später zu einem Buch zusammengefasst wird, sei noch nicht entschieden, so das Ministerium. Und schließlich sind die obligatorischen Fortbildungen sehr partiell angelegt: Im optionalen Modul muss sich jeder Lehrer für eines der sechs Lernfelder entscheiden, in die anderen wird er erst in den Folgejahren eingeführt. Reines Fachwissen, wie die von manchen geforderte Religionskunde, ist überhaupt nicht vorgesehen.


Ganz klar, hier wird versucht, aus der Not eine Tugend zu machen. Wenn nämlich die Einführung von „Vie et société“ wirklich die Jahrhundertaufgabe ist, als die sie der Conseiller de gouvernement Lex Folscheid bezeichnete, dann kann die „hochrangige Ausbildung der Lehrkräfte“ (derselbe Folscheid) keineswegs solides Lehrmaterial und eine umfassende Fortbildung ersetzen.


Damit nicht genug. Die Journalistenfrage, warum man beim „Thema Religion und Naturwissenschaft“ gewissermaßen den Kreationismus in die Schule hineintrage, führte zu einer spannenden Diskussion, wie sie sich das Ministerium wohl in den Vieso-Stunden wünscht. Tammy Muller unterstrich, das Thema sei in der Tat „heikel“ und verwies mahnend auf das Fingerspitzengefühl, das die Lehrer aufbringen müssten. Das neue Fach zu unterrichten, dürfte spannend werden.


In diesem Sinne hat das Ministerium auch recht, wenn es versucht, den Lehrern vor allem die Methodologie zu vermitteln – und nicht zusätzliches Fachwissen zu Religionen und anderen Disziplinen. Das Problem: Um das anspruchsvolle und, wie wir finden, überzeugende pädagogische Konzept zu erfassen, auszuprobieren und umzusetzen, werden die 16 Stunden Fortbildung und die 70 Handreichungen nicht ausreichen.

www.vieso.lu

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