EU-Türkei: Aus 1:1 soll 0:0 werden

Der EU-Türkei Deal ist eine Mogelpackung: Für jeden Syrer, den die Türkei aus Griechenland zurücknimmt, soll ein weiterer in die EU umgesiedelt werden. Doch der Widerspruch liegt schon im Angebot. Denn es gilt nur, so lange tatsächlich Syrer in Griechenland ankommen. Und gerade das soll verhindert werden.

Bahnbrechender Deal: Türkischer Premier Minister Ahmet Davutoglu, EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommisisonspräsident Jean-Claude Juncker präsentieren das EU-Türkei Abkommen zur Migration. (Foto: EU)

Bahnbrechender Deal: Türkischer Premier Minister Ahmet Davutoglu, EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommisisonspräsident Jean-Claude Juncker präsentieren das EU-Türkei Abkommen zur Migration. (Foto: EU)

Leicht würde es nicht werden, ausgerechnet einen Deal mit der Türkei humanitär begründet zu verkaufen, ahnten viele Staats- und Regierungschefs, als sie vor gut zwei Wochen vor die Presse traten.

„Ich freue mich darüber, dass der UNHCR mit an Bord ist“, sagte damals Luxemburgs Premierminister Xavier Bettel unmittelbar nachdem sich die 28 Staats- und Regierungschefs der EU auf ein Abkommen mit der Türkei zur Migration geeinigt hatten. „Dies war besonders wichtig für mich“, so Bettel. Die Teilnahme der Vereinten Nationen sei eine Garantie dafür ist, dass das Abkommen gemäß internationaler und EU-Regeln funktionieren wird.

Keine drei Tage, nachdem das Abkommen in Kraft getreten war, stellte das Flüchtlingshilfswerk klar: „Wir sind kein Teil des EU-Türkei Abkommens, und wir werden uns weder an Rückführungen oder an Inhaftierungen beteiligen.“ Seit Sonntag seien aus den Auffanglagern für Flüchtlinge, den so genannten hot spots, geschlossene „Hafteinrichtungen“ geworden, deshalb habe man die Aktivitäten dort eingestellt, so das UNHCR.

Andere Hilfsorganisationen zogen nach. „Durch das EU-Türkei-Abkommen werden aus Auffanglagern Deportations-Camps“, twitterte die Organisation Ärzte ohne Grenzen. „Würden wir weitermachen, würden wir Teil eines Systems, das wir als ungerecht und unmenschlich betrachten.“

Syrische Flüchtlinge, die legal in die EU einreisen wollen, müssen zwangsläufig darauf hoffen, dass andere Syrer weiterhin ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Griechenland zu gelangen.

Doch die internationale Kritik galt nicht nur der Praxis auf griechischem Boden. Nur wenige Stunden nach Abschluss des Abkommens habe die Türkei 30 afghanische Asylbewerber abgeschoben, ohne ihnen Zugang zum Asylverfahren zu gewähren, meldete Amnesty International am Montag vor einer Woche. Amnesty zufolge wurden diese Menschen, die vor den Taliban geflohen sind, „in ein Land abgeschoben, wo ihr Leben auf dem Spiel steht“. Dies zeige, „wie riskant es ist, Flüchtlinge in die Türkei zurückzuführen“, sagte John Dalhuisen, Direktor der EU-Abteilung von Amnesty.

Dennoch hatten zuvor EU-Verhandlungsführer die Superlative bemüht, um das Abkommen mit der Türkei zu bezeichnen. Von einem „Durchbruch“ sprach etwa die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nannte den Deal einen regelrechten „game changer“.

Nur drei Tage nach dem EU-Gipfel sollte das Abkommen in Kraft treten und somit dafür sorgen, dass alle „neuen irregulären Migranten, die ab dem 20. März 2016 von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangen, in die Türkei rückgeführt werden“. Im Gegenzug verpflichtet sich die EU zu einem 1:1 Prinzip, das allerdings nur für syrische Flüchtlinge gilt: Für „jeden von den griechischen Inseln in die Türkei rückgeführten Syrer wird ein anderer Syrer aus der Türkei in der EU neu angesiedelt“, heißt es in der gemeinsamen Stellungnahme.

„Dies ist eine starke Botschaft, um Schleuser zu bremsen“, sagte Xavier Bettel, der wie die anderen EU-Leader den Türkei-Deal als prioritär humanitäre Aktion präsentierte. Die Botschaft an die Flüchtlinge laute: „Geht nicht nach Griechenland, riskiert nicht euer Leben, wenn ihr durch die Prozedur der Umsiedlung von der Türkei aus eine legale Perspektive habt.“

Zudem würden jene, die dennoch den Weg über Griechenland wählen, „ganz unten auf der Liste der Kandidaten für eine Umsiedlung landen“, kündigte der Luxemburger Premier an. Er gab zu, er habe noch vor einigen Wochen die Kritik der Hilfsorganisationen geteilt. Nun habe ihn jedoch „vor allem der Teil des Abkommens, in dem es darum geht, Leben zu retten“, überzeugt.

Ein wackeliges Argument, denn anstatt den Weg auf die griechischen Inseln einzuschlagen könnten sich Flüchtlinge nun gezwungen sehen, andere lebensgefährlichere Routen nach Europa zu wählen. Und ob sich angesichts der komplizierten Konstruktion des Abkommens tatsächlich viele davon abhalten lassen werden, ein Boot Richtung Griechenland zu besteigen, ist ebenso fraglich.

Zudem hat das Verständnis, das Abkommen ermögliche Flüchtlingen nun endlich einen legalen Weg nach Europa, hat auch allein logisch betrachtet einen entscheidenden Haken. Er liegt in der Struktur des 1:1-Prinzips: Nur so lange neue Flüchtlinge auf den griechischen Inseln ankommen und in die Türkei zurückgeführt werden, nimmt die EU auch Flüchtlinge aus der Türkei auf. Kommt niemand mehr nach Griechenland, wird auch niemand in die EU umgesiedelt. Lässt sich also die überwiegende Mehrheit durch den Deal erfolgreich davor abschrecken, den Weg auf eine der griechischen Inseln einzuschlagen, könnte aus dem Abkommen schon bald ein 0:0-Prinzip werden.

Mit anderen Worten: Syrische Flüchtlinge, die legal in die EU einreisen wollen, müssen zwangsläufig darauf hoffen, dass andere Syrer weiterhin ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Griechenland zu gelangen.

Dennoch beharrt auch die EU-Kommission auf ihrer Version. Ziel sei es nicht, „dafür zu sorgen, dass Flüchtlinge außerhalb Europas bleiben, sondern das kriminelle Element aus ihrer Flucht herauszunehmen“, sagte etwa der erste Vizepräsident der Brüsseler Behörde. „Dies ist eine zeitlich begrenzte Maßnahme, um das Geschäftsmodell der Schmuggler zu zerstören“, so Frans Timmermans.

In der Tat ist die Maßnahme nicht nur zeitlich, sondern vor allem zahlenmäßig begrenzt: Die ersten 18.000 Syrer werden nach einem bestehenden Umsiedlungsplan innerhalb der EU verteilt. Sollten weitere Plätze benötigt werden, werden diese über eine „ähnliche, freiwillige Vereinbarung bis zu einer Obergrenze von zusätzlichen 54.000 Personen“ umgesiedelt. Übersteigt die Zahl die insgesamt vorgesehenen 72.000 Plätze „wird der Umverteilungsmechanismus eingestellt“, heißt es im Abkommen.

Andere machten keinen Hehl aus dem eigentlichen Ziel, die Zahl der Flüchtlinge, die in die EU einreisen, möglichst gering zu halten. „Wir gehen davon aus, dass wir die 18.000 Plätze gar nicht vollständig in Anspruch nehmen müssen“, sagte ein deutscher Diplomat. „Wir erwarten, dass die Zahl der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge schnell gegen Null gehen wird.“

Die EU wird maximal 74.000 Syrern eine legale Einreise ermöglichen, danach wird der Umverteilungs-mechanismus eingestellt.

Tatsächlich lag diese Zahl vergangene Woche bei unter 1.000 Flüchtlingen, zuvor kamen zuweilen mehr als 2.000 Personen täglich an. Dies könne jedoch ebenso gut am schlechten Wetter wie am seit dem 20. März in Kraft getretenen Abkommen mit der Türkei liegen, kommentierte ein UNHCR-Mitarbeiter auf Lesbos den Rückgang.

Seit vergangenen Sonntag werden die ankommenden Flüchtlinge in den hot spots festgehalten. „Die griechischen Behörden greifen derzeit auf geschlossene Einrichtungen zurück, um die Situation zu kontrollieren und gegebenenfalls irreguläre Migranten oder Asylsuchende abzuschieben, deren Anträge als nicht zulässig erklärt wurden“, erklärte EU-Kommissionssprecherin Natasha Bertaud die Lage vor Ort.

Die Kommission arbeite zusammen mit den Behörden „an Lösungen, die in Einklang mit EU-Recht sind“, so Bertaud. Sie stellte auch klar, dass „das europäische Asylrecht die Möglichkeit vorsieht, Flüchtlinge in Gewahrsam zu nehmen“. Angesichts der Reaktion der NGO und des UNHCR fügte sie hinzu: „Die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen ist wichtig, wir hoffen darauf, sie konstruktiv fortzusetzen.“

Einer rechtmäßigen Umsetzung des EU-Türkei-Abkommens stehen indessen weitere juristische Hürden im Weg. Die Türkei muss entsprechende Gesetzänderungen vornehmen, um ein Asylrecht gemäß der Genfer Konvention zu garantieren. Insbesondere geht es darum, geographische Begrenzungen für Asylanträge aus Herkunftsländern wie etwa Afghanistan aufzuheben. Zudem müssen rückkehrende syrische Flüchtlinge ihren Anspruch auf den temporären Schutzstatus wiedererlangen, den ihnen die die Türkei zuvor gewährte. Auch dazu bedarf es einer noch ausstehenden Gesetzänderung, für die bislang nicht die nötigen Schritte unternommen worden sind. Der EU-Türkei-Koordinator wird diese Woche nach Ankara reisen, um vor Ort Gespräche zu führen, so Natasha Bertaud.

Griechenland muss ebenfalls noch nachbessern. Um Flüchtlinge abschieben zu können, ohne ihnen Asyl zu gewähren, muss es die Türkei als sicheren Drittstaaten anerkennen. Zum anderen muss das Land jedem Asylantragsteller das Recht auf Widerspruch garantieren und die dafür notwendigen Strukturen vor Ort schaffen.

Das Abkommen sei in Kraft getreten, „bevor die nötigen Vorkehrungen in Griechenland getroffen wurden“, stellte das UNHCR diesbezüglich fest. Insgesamt 4.000 zusätzliche Experten, Übersetzer und Richter werden vor Ort gebraucht, so die Kommission. Immerhin 2.500 sollen aus den Mitgliedstaaten kommen. Laut Bertaud haben über ein Dutzend EU-Länder Zusagen für die Bereitstellung von insgesamt rund 500 Polizisten und 500 Experten gemacht. Bislang wurden jedoch lediglich „170 nominiert und entsendet“. Dennoch trat das EU-Türkei Abkommen in Kraft, ab dem 4. April sollen die ersten Rückführungen von Syrern in die Türkei mit den anschließenden Umsiedlungen durchgeführt werden.


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