Europäische Union: And the winner is …

In Europa wird gestritten, wem der „Brexit“ wohl mehr schaden wird: der EU oder Großbritannien. Ein Gewinner indes scheint festzustehen: die europäische Rechte sieht sich im Aufwind. Doch auch Linke haben für einen Ausstieg gestimmt.

1378Interglobal

Brexit-Befürworter Nigel Farage von der rechten Ukip-Partei bei der parlamentarischen Aussprache vor der Wahl von Jean-Claude Juncker zum Kommissionspräsidenten im Juli 2014. (Fotorechte: Europäisches Parlament)

Es war ein Tag der Freude für Geert Wilders. Bereits am Freitagmorgen, die Medien auf dem Kontinent vermeldeten das Ergebnis aus Großbritannien noch als vorläufig, schickte seine „Partij voor de Vrijheid“ (PVV) bereits eine vollmundige Pressemeldung in die Welt. „Die PVV gratuliert den Briten zum Unabhängigkeitstag. Die europhile Elite ist geschlagen worden.“ Auch in den Niederlanden solle es jetzt schnellstmöglich ein Referendum geben. Front National-Chefin Marine Le Pen forderte für Frankreich kurz darauf dasselbe.

Guy Verhofstadt, der Vorsitzende der liberalen Fraktion ALDE im EU- Parlament, nahm solche Aussagen durchaus ernst: „Ohne gründliche Reformen der EU wird es in vielen anderen Ländern auch Referenden geben.“ Tatsächlich fürchten in der Union nun viele, der Brexit könne einen Domino-Effekt auslösen. So hegt auch die Dänische Volkspartei (DF) entsprechende Ambitionen, in Tschechien gibt es ebenfalls Bestrebungen, die Bevölkerung über einen Verbleib in der EU abstimmen zu lassen. Schon macht in diesen Tagen die Rede vom Anfang des Endes Europas die Runde.

Jedoch steht hinter solchen Spekulationen vor allem die Faszination für Untergangs-Szenarien, und auch die Jagd nach Schlagzeilen spielt mitunter eine größere Rolle als deren faktischer Gehalt. Schon am Tag nach der Brexit-Nacht zeichnet sich ab: Der Abschied Großbritanniens von der Europäischen Union wird langwierig werden. Der Präzedenzfall Brexit wird wohl auch in dieser Hinsicht andere Länder beeinflussen, denn zähe Prozesse wie dieser können ebenfalls abschreckend wirken.

Jenseits davon zeichnet sich ab, dass das Brexit-Referendum und der Diskurs, der damit einhergeht, für die europäische Rechte von erheblicher Bedeutung sind. Dies, obwohl längst nicht alle „Leave“-Wähler per se der europhoben Rechten angehören. Denn auch von Europa enttäuschte Gewerkschafter und manche Labour-Wähler haben für den Ausstieg gestimmt. Ähnlich wie in anderen Ländern lehnen im Vereinigten Königreich nicht wenige Linke die EU als neoliberales Projekt ab, das Austerität über Wohlfahrt stellt. Eine Kritik, der sich im Übrigen selbst Nigel Farage oder Geert Wilders längst angeschlossen haben.

Die Auswirkungen des Brexit werden die politische Kultur des Kontinents prägen. Manifestieren wird sich das im Wahlverhalten generell – nicht nur bei etwaigen Abstimmungen über EU-Austritte – sowie im gesellschaftlichen Diskurs und in den alltäglich vorgebrachten Meinungen. Gestärkt wurden der Nationalstaat, die Rückbesinnung auf die vermeintlich eigene Identität, das Denken in Kategorien von „Wir“ und „Sie“, Vorbehalte gegenüber Immigranten sowie ganz allgemein eine Tendenz, die sich als anti-elitär inszeniert und dem vermeintlichen politischen Establishment den Kampf angesagt hat. Allesamt Aspekte, die in der Brexit-Kampagne eine wichtige Rolle spielten. Und die, so lehrt ein Blick in die verschiedenen Gesellschaften Europas, so gut wie überall auf dem Kontinent Konjunktur haben.

Dabei lässt sich beobachten, dass sich vergleichbare Debatten an verschiedenen Orten gegenseitig verstärken können. Ein Beispiel hierfür war der Besuch von Nigel Farage Anfang April in den Niederlanden. Als euroskeptische Galionsfigur wollte der UKIP-Chef die Kampagne gegen den EU-Assoziationsvertrag mit der Ukraine unterstützen. Wenige Tage später sollten die Niederländer darüber abstimmen, ob Den Haag diesen Vertrag ratifizieren sollte. Farage machte keinen Hehl daraus, dass ein Nein zu diesem Abkommen wiederum auch der Idee des Brexit Auftrieb geben könne, deren Anhänger damals noch in der Minderheit waren. Das Resultat scheint ihm Recht zu geben: Beide Abstimmungen endeten mit Niederlagen für Europa.

Gestärkt wurden der Nationalstaat, die Rückbesinnung auf die vermeintlich eigene Identität und das Denken in Kategorien von „Wir“ und „Sie“.

Die Referenden verbindet ein weiterer Aspekt, der in Analysen meist ungenannt bleibt: Sie haben die einstmals anrüchige Euroskepsis zum Mainstream gemacht. Die Initiatoren des niederländischen Referendums sind keine rechtsextremen Schreihälse, sondern gutgesittete europakritische Neokonservative. Nigel Farage wiederum ist zweifellos ein nationalistischer Scharfmacher, hat sich mit UKIP im EU-Parlament aber wohlweislich der Fraktion „Europe of Freedom and Direct Democracy“ (EFDD) angeschlossen. Dem gehören beispielsweise die Schwedendemokraten an, aber auch die italienische Fünf-Sterne-Bewegung. Eins wollte Farage jedoch vermeiden: eine Allianz mit den Exponenten der alten extremen Rechten, der Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), dem belgischen Vlaams Belang und dem Front National (FN), die ihrerseits sehr gern mit ihm zusammengearbeitet hätten.

Zugleich war es aber genau dieses politische Spektrum, welches UKIP und der Brexit-Debatte diskursiv den Weg bereiten half. In den letzten Jahren war bei diesen Parteien ein deutlicher inhaltlicher Schwenk contra Europa zu beobachten. Ende 2013 verkündeten Marine Le Pen und Geert Wilders die Zusammenarbeit von FN und PVV zur „Befreiung von der europäischen Elite“. Die Bildung der angestrebten Fraktion misslang nach der EU-Wahl 2014 zunächst, konnte ein Jahr später aber als „Europe of Nations and Freedom“ (ENF) realisiert werden.

Diese Fraktion steht für einen mit rabiater Rhetorik vorangetriebenen nationalstaatlichen Rollback, erfüllt von heiligem Zorn gegen den vermeintlichen „Superstaat Brüssel“. In diesem Kontext propagieren vor allem Marine Le Pen und Geert Wilders schon seit Längerem den Abschied aus Europa. Wilders prägte bereits Anfang 2014 den Begriff „NeXit“, der in diesen Tagen durch die Presse geistert und in zahlreichen nationalen Ableitungen widerhallt.

Sein rhetorischer Referenzpunkt war der damals diskutierte „Grexit“. Über die Eloquenz mag man streiten; deutlich ist jedoch, dass Wilders und Le Pen die Möglichkeit eines Abschieds von der EU umgedeutet haben: von der Strafe zu einem Schritt aus freiem Willen. Inzwischen wird dieser freilich längst zur Initiation widererlangter nationalstaatlicher Souveränität verklärt.

Es ist dieser Kontext, der die Strahlkraft des Brexit erklärt. Wobei es eher um den symbolischen Akt der Auflehnung gegen vermeintliche Fremdbestimmung geht, als um eine bestimmte Kritik an der politischen Praxis der EU. „Brexit“ steht für die Rückbesinnung auf das, was als eigene Interessen gesehen wird, unabhängig davon, wie viele Länder dem Beispiel Großbritanniens letztlich tatsächlich folgen werden. Die inhaltlichen Aspekte der Brexit-Entscheidung allerdings, Nein zur Einwanderung, die Betonung einer nationalen und kulturellen Identität, der Anspruch „Herr über das eigene Land, die eigenen Grenzen, das eigene Geld“ (Wilders) zu sein – all das ist erkennbar, in den Niederlanden, in Deutschland oder in Frankreich.

Das schafft auch eine Verbindung zu den „illiberalen Demokratien“ Osteuropas, nach Polen und Ungarn, wo Protagonisten wie Jarosław Kaczyński und Viktor Orbán mit immer schrilleren Worten die Gängelung ihrer Länder durch Brüssel beklagen. Im westlichen Aufschrei über die autoritären Tendenzen Warschaus und Budapests geht unter, dass die dortigen Diskurse in vielerlei Hinsicht den Debatten in Paris oder Berlin nicht so unähnlich sind. Natürlich gibt es allerlei spezifische Ausprägungen. Verbindender Faktor aber ist das Element des Nationalstaats, der dem bedrohten Selbst im Kampf gegen ein potenziell gefährliches Anderes den Kopf über Wasser hält.

Kritiker hatten lange Zeit an der Fähigkeit nationalistischer Parteien zu internationaler Zusammenarbeit gezweifelt, zumal diese erhebliche Unterschiede aufweisen: zwischen der alten extremen (FPÖ, Vlaams Belang) und der neuen populistischen Rechten (PVV), früheren antisemitischen Tendenzen (FPÖ, FN) und selbsterklärten Israelfreunden (PVV), Homophoben (der polnische Kongress der Neuen Rechten, KNP) und jenen, die Homosexualität als westliche Errungenschaft gegen die Islamisierung verteidigen wollen. Zwei Aspekte sind es, welche die rechten Parteien zusammenschweißen: die Kritik an der Zuwanderung und die Opposition zur EU.

In all jene Milieus wird der Brexit ausstrahlen – und weit darüber hinaus. Denn 52 Prozent der Stimmen, das ist deutlich mehr als alle Menschen, die jemals UKIP, Front National, AfD oder PVV ihre Stimme geben würden. Vielleicht aber korres-
pondiert dieser Wert in ungefähr mit einer Summe all jener, die sich unwohl, bedroht oder nicht repräsentiert fühlen. Von den Flüchtlingen, von Brüssel, von der Elite. Vor allem im Hinblick auf die im kommenden Jahr anstehenden Wahlen – in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland – sind vergleichbare Effekte nicht ausgeschlossen, sondern wahrscheinlich.

Tobias Müller berichtet für die woxx vorwiegend aus Belgien und den Niederlanden. Er lebt in Amsterdam.

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