Gender & Migration
: „Emanzipation soll her
beigebombt werden“

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Nikita Dhawan, geboren 1972, 
ist seit Oktober 2014 Professorin für Politische Theorie mit thematischer Akzentuierung im Feld der Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Transnationaler Feminismus, Globale Gerechtigkeit, Menschenrechte sowie Demokratie und Dekolonisierung. 
Sie ist Co-Autorin des Standard-Werkes „Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung“.
 (Foto: woxx)

Im Gespräch mit der woxx warnt die indische Feministin Nikita Dhawan vor pauschalen Lösungsansätzen und erklärt, wie der Westen unter dem Vorwand der Emanzipation die Situation von Migrantinnen nicht selten verschlimmert.

woxx: In Ihrem Vortrag anlässlich der 15. Internationalen Genderkonferenz erwähnten Sie Alice Schwarzer ironisch als Ihre „Lieblingsfeministin“. Wer eignet sich in der transnationalen Genderforschung tatsächlich als Vorbild?


Nikita Dhawan: Ich finde Alice Schwarzers Version von Feminismus ist ein sehr gutes Beispiel für imperialistischen Feminismus, weil sie noch immer daran glaubt, dass es eine gemeinsame Interessenlage aller Frauen auf der ganzen Welt gibt – unabhängig davon, ob sie im Süden oder im Norden leben, unabhängig von Rasse, Klassenzugehörigkeit und Religion. Das ist das wichtigste Charakteristikum von imperialen Feministinnen, dass sie sich anmaßen, im Namen aller Frauen zu sprechen. Die spezifischen Bedingungen bestimmter Frauengruppen werden nicht berücksichtigt. Sie nimmt eine Universalisierung, eine Vereinfachung vor und die jeweiligen Konflikte werden nicht miteinbezogen. Wie zum Beispiel, dass bürgerliche weiße Frauen von der Ausbeutung migrierter arbeitender Frauen profitieren oder weiße Frauen an Rassismus und kolonialistischen Verhalten beteiligt gewesen sind, an der Ausbeutung, Enthumanisierung und Entwürdigung schwarzer Frauen. Diese Art von Fragestellungen blendet sie aus.

„Spivak bringt materielle Ausbeutung zusammen mit Fragen der epistemischen Gerechtigkeit.“

Welche Feministin mein Vorbild ist? Direkt fällt mir Gayatri Chakravorty Spivak ein. Es heißt ja, Marxismus und Post-Strukturalismus würden nicht zusammenpassen. Sie aber ist ein Beispiel dafür, wie produktiv sich diese beiden Schulen ergänzen können. Spivak bringt materielle Ausbeutung zusammen mit Fragen der epistemischen Gerechtigkeit. Sie vertritt eine komplexe Politik von Gleichstellung, die über ein ökonomisches Verständnis hinaus Fragen von Gewalt und Ausbeutung einbezieht. Und sie verfällt 
nicht der Versuchung, einen „One-size-fits-all“-Ansatz zu wählen und damit eine Universal-Diagnose abzugeben, wie man Frauen weltweit emanzipieren kann.

Was kritisieren Sie grundsätzlich an der Forschungspraxis?


Um eine Verbindung zu meinem Vortrag herzustellen: Es gibt einen vorherrschenden Glauben, dass es bei sozialen Problemen reicht, ein paar Daten zu sammeln, eine Lösung zu entwickeln und man diese dann nur noch operationalisieren muss. Es ist der Irrglaube, es gäbe Patentlösungen etwa für Arbeitskonflikte oder Migrationsprobleme – wir müssen nur rausgehen, einige Interviews führen, diese in Wissen transformieren und finden dann eine Lösung. Das ist ein „Dr. Oetker“-Ansatz. Dabei wird komplett ignoriert, wie uns historische Prozesse und historische Entwicklungen in eine bestimmte Situation geführt haben.

Wieso sind unsere gegenwärtigen Diskurse über Demokratie und Menschenrechte nicht von unserem kolonialen Erbe zu trennen? 


Wenn wir uns die allgemeine Erklärung der Menschenrechte anschauen, so war sie eine Antwort auf den zweiten Weltkrieg und auf die Ungeheuerlichkeiten während des Nazi-Regimes. Diese Art von Gewaltverbrechen gegen die Menschheit haben auf europäischem Boden stattfinden müssen, um als solche anerkannt zu werden. Der Völkermord gegen die Hereros und Namas in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, wird bis heute hingegen nicht anerkannt. Das Label „Genozid“ wurde ihm bis heute nicht zugebilligt. Die Kritik an Menschenrechtserklärungen hat eine lange Geschichte. Schon von Anfang an, als die Konzeption der Menschenrechte entstand, gab es Kritik an ihr. Die Erklärung wurde von politischen Denkerinnen wie Olympe de Gouges und Mary Wollstonecraft als sexistisch kritisiert, weil sie Frauen ausschließt. Später gab es Stimmen wie die von Jeremy Bentham, die sie als „leere Rechte“, die nicht einforderbar sind, bezeichnet haben.

„Es gibt einen vorherrschenden Glauben, dass es bei sozialen Problemen reicht, ein paar Daten zu sammeln, eine Lösung zu entwickeln und man diese dann nur noch operationalisieren muss.“

Auch Karl Marx hat in „Zur Judenfrage“ eine Kritik an dem Dogma der Menschenrechte formuliert. Hannah Arendt kritisiert „das Paradox der Souveränität“, nämlich die Spannung zwischen der universalen Gültigkeit der Menschenrechte und dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Um zurückzukommen auf Spivak: Sie legt Entwicklungspolitik, Demokratie und Menschenrechte zugrunde und erklärt, dass die Welt geteilt ist in die, die ausgeben und Rechte spenden und diejenigen, die als Opfer wahrgenommen werden. 
Zur Legitimierung von Diskursen der globalen Gerechtigkeit und Demokratie brauchen wir drei Akteure: „authentische“ Opfer, Unterdrücker und Retter. Wenn wir über Gender-Gewalt gegen Migrantinnen sprechen, ob von Flüchtlingen die Rede ist oder von Menschen, die im Exil leben, wirst du wieder und wieder diese Dreifaltigkeit der Täter, Opfer und Retter finden. Es gibt die armen hilflosen weißen Opfer, einen europäischen Staat oder eine internationale NGO – wie etwa Amnesty International oder Human Rights Watch -, die die Retter sind, und dann die Barbaren, wie zum Beispiel „Dritte-Welt“-Regierungen. Oder denken wir an Afghanistan: Die US-amerikanische Kriegsintervention wurde damit legitimiert, dass dort die Frauen vor den Taliban gerettet werden müssen. Es ist sehr interessant, zu zeigen, wie Rechts- und Entwicklungsdiskurse als Alibi funktionieren, um geopolitische Machtasymmetrien aufrechtzuerhalten. Das ist eines der Hauptprobleme, die ich mit dem Menschenrechtsdiskursen und Entwicklungspolitiken habe: dass sie eurozentrisch sind, dass sie eine imperialistische Attitüde haben. Kolonialismus wurde schließlich auch im Namen der Gerechtigkeit und unter dem Vorwand der Zivilisierung betrieben.

Was meinen Sie damit, wenn Sie behaupten, die europäische Gesellschaft stünde gegenüber Migrantinnen vor einem „Gerechtigkeitsdilemma“? 


Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel nennen: Eine Schweizer Kollegin erzählte mir vor Kurzem, dass in ihrem Land gemäß der aktuellen ausländerrechtlichen Bestimmungen in Fällen von häuslicher Gewalt in migrantischen Familien die Täter in ihr Herkunftsland abgeschoben werden. Viele Migrantinnen harren bei ihrem gewalttätigen Ehemann aus, um nicht in ihr Herkunftsland zurück zu müssen. Das ist ein klassisches Beispiel eines Gerechtigkeitsdilemmas.

„Die Gendereffekte müssen unter Berücksichtigung von Fragen der Gewalt, des beschränkten Zugangs von Frauen zu Ressourcen untersucht werden.“

Auf der einen Seite behauptet der Staat, wir (be-)schützen die gewaltbetroffene Migrantin, auf der anderen Seite wird die ganze Familie gefährdet, wenn die Polizei oder der Staat interveniert. Selbst, wenn es der gewaltbetroffenen Migrantin erlaubt ist, zu bleiben, wird sie in ihrer Gemeinschaft stigmatisiert und die Situation kann so aus dem Ruder laufen. Was ich damit sagen will ist, dass im Namen von Geschlechtergerechtigkeit die Handlungsmacht der Betroffenen nicht unbedingt verstärkt wird. Im Gegenteil, es kann sogar sein, dass den gewaltbetroffenen Migrantinnen die Existenzgrundlage entzogen wird.

In Ihrem Vortrag sagten Sie, dass dasselbe Phänomen vorliegt, wenn Europäer Frauen von ihrem Stigma retten wollen – und zugleich eine pauschale Zuweisung betreiben, nach der sie diese auf ihre ethnische Herkunft oder ein religiöses Symbol (wie das Kopftuch) reduzieren.


Absolut. Um ein anderes Beispiel zu geben: Als der Krieg gegen den Terror von den USA angekündigt wurde und der Bogen nach Afghanistan geschlagen wurde, weil der Weltfrieden von dort aus bedroht wurde, machte Laura Bush regelmäßig eine Radio-Sendung, in der sie sagte, wie wichtig es sei, „unsere afghanischen Schwestern“ zu retten. Der Krieg wurde legitimiert im Namen der Emanzipation unterdrückter Frauen. Zynisch gesagt: Die Emanzipation soll herbeigebombt werden. Und das ist wieder ein Dilemma. Es gibt nichts, womit man die Taliban verteidigen könnte, sie haben eine extrem patriarchalische und sexistische Ideologie, aber auf der anderen Seite instrumentalisieren diejenigen, die die Taliban bekämpfen, dafür die Frauenfrage. Mit dem Befreiungsdiskurs wird die imperialistische Absicht so verbrämt oder die Vorgehensweise gerechtfertigt. Die Handlungsfähigkeit der Frauen wird aber nicht gestärkt, obwohl in ihrem Namen gehandelt wird. Was mich daran interessiert: Wie wird etwas zu einem Problem oder wird als solches wahrgenommen? Und welche Praktiken und Strategien werden entwickelt, um dieses Problem zu lösen und was sind die Machteffekte? Diese Machteffekte der Problemlösungsstrategien gilt es zu analysieren. Ich spreche nicht nur über Konservative, sondern auch über Linke, die in Genderfragen ein Defizit haben. Die Gendereffekte müssen unter Berücksichtigung von Fragen der Gewalt, des beschränkten Zugangs von Frauen zu Ressourcen untersucht werden und unter diesen Aspekten müssen die Auswirkungen der Lösungsstrategien untersucht werden. Die sinnvollste Perspektive ist die, auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten von Migrantinnen abzustellen. Aber es wird meist unterstellt, sie hätten keine und dann wird paternalistisch interveniert oder es werden ihnen noch mehr ihrer wenigen Handlungsmöglichkeiten genommen.

„Ich denke, die Gefahr ist, genau dieser Stereotypisierung zu verfallen: entweder sind alle Heldinnen oder alle sind Opfer.“

Zurück zu dem in vielen Workshops dominierenden Thema „Menschenhandel“ bzw. „Zwangsprostitution“. Greift die Dichotomie der „Opfer“ von Menschenhandel einerseits und andererseits der „Heldinnen“, die durch ihre Arbeit die Familie ernähren, nicht zu kurz? 


Ja, ich wäre auch vorsichtig damit, diese Kategorisierung vorzunehmen. Um bei dem Beispiel der Sex-Arbeiterinnen zu bleiben: Entweder wird gesagt, sie täten es alle freiwillig oder es wird behauptet sie würden alle dazu gezwungen. Dazwischen gibt es viele Varianten. Sogar ein und dieselbe Person kann es mal freiwillig machen und in einer anderen Situation dazu gezwungen werden. Biographien sind komplex und vor allem widersprüchlich. Und es ist eine typische Situation, wenn eine Frau sagt, sie hätte die Entscheidung freiwillig getroffen, um das Abrutschen in die soziale Misere zu verhindern; sie wurde dann ja durch die Umstände dazu gezwungen. Daher birgt die Tendenz, zu verallgemeinern und zu kategorisieren, Gefahren. Es herrscht die Ansicht vor, nur so komme man zu Ideen und möglichen Lösungsansätzen. Aber ich denke, die Gefahr ist, genau dieser Stereotypisierung zu verfallen: entweder sind alle Heldinnen oder alle sind Opfer.

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Keine Männerveranstaltung: Tagungsteilnehmerinnen im Düdelinger Rathaus. (Foto: Dario Ciel)

Inwiefern ist männliche Dominanz sozio-kulturell bedingt? Und inwiefern verfestigt ein ‚neoliberales‘ Wirtschaftsmodell die Unterdrückung der Frau?


Das ist ein Thema, wozu sehr wichtige Arbeiten in den letzten fünf Jahrzehnten enstanden sind. Ich denke an Angela Davis, Chandra Talpade Mohanty aber auch an Spivak, die auf einer Linie mit diesen marxistischen Feministinnen ist, die zeigen, wie Kapitalismus und patriarchale Strukturen zusammenhängen. Nicht nur in der Art und Weise, wie sie Frauen ausbeuten und unterdrücken, sondern auch, wie sie eine Gesellschaft determinieren, die asymmetrisch, ungleich, entmenschlicht und ausbeuterisch ist.

„Es ist nicht nur die Frage, wie Frauen zu Opfern werden, sondern es geht auch darum, zu zeigen, wie soziale Beziehungen organisiert werden, wie die Gesellschaft Teil daran hat und ungleiche Strukturen reproduziert und verfestigt.“

Es ist also nicht nur die Frage, wie Frauen zu Opfern werden, sondern es geht auch darum, zu zeigen, wie soziale Beziehungen organisiert werden, wie die Gesellschaft Teil daran hat und ungleiche Strukturen reproduziert und verfestigt. Natürlich spielt das auch bei der queer-feministischen Theorie eine Rolle. Etwa bei Judith Butler, die zeigt, wie Männlichkeit in diesen Diskursen reproduziert wird. Mein Bestreben ist es, zu zeigen, wie neoliberale Globalisierung einhergeht mit heterosexuellen Ideologien und dadurch in gewisser Weise dominante männliche Strukturen reproduziert. Wir dürfen auch nie vergessen, dass Frauen, die diesen Mustern entsprechen, auch davon profitieren. Wenn du die Norm von Weiblichkeit erfüllst, wenn du dich entsprechend anziehst und sprichst, deine Rolle also erfüllst, wirst du dafür belohnt. Es gibt viele Frauen, die daraus durchaus Privilegien ziehen, weil sie den Gender-Normen entsprechen. Auch, indem sie ihre Mutter-, Tochter-, oder Schwesternrolle oder die Rolle als gute Bürgerin übernehmen. Und andererseits gibt es viele Männer, die nicht den Männlichkeitsnormen entsprechen und dafür sanktioniert und marginalisiert werden. Diese queerfeministischen postkolonialen Genderansätze waren sehr wichtig, um zu diversifizieren und Entmachtungen zu verstehen.

Welche neuen Erkenntnisse und Impulse nehmen Sie von dieser 15. Tagung zu Gender mit? Und welches sind die Gender-Fragen der Zukunft? 


Ich untersuche gerade die Beziehung zwischen Staat bzw. der Nation, der Zivilgesellschaft und subalternen Gruppen. Also dem Begriff „subaltern“ wie Antonio Gramsci ihn verstand. Statt nur über arme Frauen und arme Migrantinnen zu sprechen, ziehe ich den Begriff „subaltern“  vor, weil es kein auf Identität basierendes Konzept ist. Auf der einen Seite gibt es den Globalisierungsdiskurs, der den Post-Nationalismus zelebriert: wir sind alle Weltbürger, wir sind alle mobil, wir haben transnationale Biographien. Und innerhalb dieses Diskurses werden Nationalstaaten als unwichtig erklärt.

Auf der anderen Seite gibt es den nationalistischen Diskurs, im Rahmen dessen argumentiert wird, dass Nationalstaaten immer noch eine große Rolle spielen – und zwar in der Art und Weise, wie ökonomische, soziale und politische Beziehungen organisiert werden. So braucht man etwa noch immer einen Pass, um zu reisen. Wir brauchen diese Papiere, die einen an ein Staatsgebiet binden. So gibt es diese sehr interessante Spannung zwischen Souveränitätsprinzip und kosmopolitischen Ideen und Normen. Deshalb will ich in den nächsten Jahren die Rolle des Staats untersuchen, denn gerade wenn wir auf verletzliche Gruppen blicken, spielt der Staat noch immer eine sehr große Rolle und es gibt eine gewisse Tendenz seitens (internationaler) zivilgesellschaftlicher Gruppen, die Rolle und Verantwortung des Staats zu übernehmen bzw. seinen Rückzug aufzufangen.

„Statt nur über arme Frauen und arme Migrantinnen zu sprechen, ziehe ich den Begriff „subaltern“  vor, weil es kein auf Identität basierendes Konzept ist.“

Ob es Gewerkschaften sind oder andere zivilgesellschaftliche Gruppen, die den Staat in gewisser Weise gegenüber seinen Bürgern zusammenschrumpfen lässt. Und diese kleine Lücke wird ausgefüllt von gesellschaftlichen Gruppen. Das ist es, was ich analysieren will. Man kann sich nicht allein auf ein einzelnes Thema wie Arbeitsmarkt beschränken. Denn dann sieht man nur arbeitende Körper, die ausgebeutet werden, und man vergisst, dass es auch kulturelle Aspekte gibt. Ich interessiere mich nicht nur für Fragen der ökonomischen Verteilungsgerechtigkeit oder politischen Partizipation, sondern auch für Fragen der Utopien, Begehren und Wünsche verletzlicher Gruppen sowohl im globalen Süden als auch im Norden.

15. Internationale Genderkonferenz in Düdelingen

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(Foto: woxx)

(avt) – Für ein paar Tage, vom 18. bis 20. Juni, war die kleine Minette-Stadt Treffpunkt von WissenschaftlerInnen aus dem angelsächsischen und deutschsprachigen Raum. Die 15. Internationale Gendertagung mit dem Schwerpunkt Migration, organisiert unter anderem vom Centre de Migrations Humains (CDMH)*, fand diesmal in Düdelingen statt. Rund 145 TeilnehmerInnen, darunter 48 RednerInnen und 16 ModeratorInnen waren angereist, um Vorträge rund um Migration und Gender zu halten und anzuhören.

Wieso diese Tagung nicht in der Hauptstadt, sondern gerade in der roten Südgemeinde stattfand, brachte Dario Ciel vom CDMH in seiner Eröffnungsrede in einem historischen Exkurs auf den Punkt: Etwa 1900 Menschen aus verschiedenen Ländern – vor allem aber aus Deutschland und Italien – sind Ende des vorletzten Jahrhunderts nach Düdelingen eingewandert, um in der Stahlindustrie und verwandten Sektoren zu arbeiten. Die kleinen Stadtviertel „Italie“ und „Schmelz“ erzählen durch ihre Architektur noch heute von ihrer Anwesenheit. Und ähnlich wie in vielen anderen Ländern sind die Geschichten dieser eingewanderten Arbeiter – und erst recht die der Arbeiterinnen (!) – nicht in Schulbüchern behandelt, geschweige denn in politischen Debatten thematisiert worden. Wenn AusländerInnen erwähnt wurden, so meistens, um die negativen Aspekte hervorzuheben, die ihre Anwesenheit in der Gesellschaft mit sich brachte. Die Genderbeauftragte der Stadt, Annabelle Laborier-Saffran, nannte bei der Eröffnung ein paar Schlüsselzahlen, die eine Vorstellung von der Diversität Düdelingens – und Luxemburgs – geben: Rund 20.000 Einwohner leben in der Südgemeinde, von denen 40,2% Ausländer sind. Spreche man in Luxemburg also über „Gender“, so müssten die Fakten der Migration immer mit einbezogen werden. Welche Fragestellungen ergeben sich aber daraus für die Forschung? Die häufige Abhängigkeit migrierter Frauen verdeutlichte die Gender-Beauftragte an einer persönlichen Erfahrung einer aus Marokko eingewanderten, von ihrem Mann verlassenen Frau: Diese habe sich nur mit Mühe davon überzeugen lassen, dass sie das Recht habe, ohne Erlaubnis ihres Mannes ein eigenes Konto zu eröffnen. Dass Frauen oft noch immer im Schatten der „produktiven Ökonomie“ arbeiten, veranschaulichte der Vortrag Eleonore Kofmanns. In Großbritannien etwa hat sich der Sektor der unterbezahlten, prekären und „illegalen“ Arbeit von MigrantInnen in den letzten Jahren rapide ausgeweitet. In manchen Hotels wie auch im Pflegebereich sind – ähnlich wie in Luxemburg – weniger als 10% einheimische Arbeitskräfte beschäftigt. Auf die Widersprüche in dieser Schattenökonomie verwies unter anderen Nikita Dhawan. So expandiere auch in Spanien, trotz immens hoher Arbeitslosenquote, der Sektor der illegalen und unterbezahlten Arbeit – besonders in der Landwirtschaft. Viele der Referentinnen wiesen darauf hin, dass die Diskriminierung von Frauen oft mit Rassismus und Antisemitismus, wie auch einer allgemeinen Verachtung der Unterschicht einhergeht. Patrick Taran sprach in diesem Zusammenhang von einer Dreifach-Diskriminierung (gender – class – nationality) migrierter Frauen und forderte in einem flammenden Plädoyer, ihnen volle Rechte zuzugestehen. Noch immer wird der Körper der Frau im Namen der Religion als Schlachtfeld missbraucht. Die Ausbeutung von Frauen durch Menschenhandel und Zwangsprostitution war immer wieder ein Thema bei der Tagung, so etwa in einem sehr plastischen Vortrag von Emel Coskun, Forscherin an der Duzce Universität, über „Menschenhandel in der Türkei“. Etwa 2.5 Millionen Menschen weltweit sind heute Opfer von Menschenhandel – 77% darunter Frauen. Seit den 1990ern ist auch die Türkei ein Transitland für Zwangsprostitution. Mehr als 2.500 immigrierte Frauen wurden zwischen 2000 und 2006 in die Türkei – vor allem aus Ost-Europa und der ehemaligen UDSSR – zur Prostitution eingeschleust. Wegen der Sprachbarriere und ihres Status als „Papierlose“ haben sie kaum die Möglichkeit, sich institutionell gegen Gewalt zu wehren. Ihre unregulierte Situation, die scharfen Einwanderungsgestze und die öffentlich-moralische Ächtung der Prostitution erhöhen ihre Verletzlichkeit und treiben sie in eine Teufelsspirale. Erschreckend, dass sich diese Situation nicht allzu sehr von der ost-europäischer Sex-Arbeiterinnen in Luxemburg unterscheidet. Dass das Paradigma zwischen Opfern und Heldinnen, die durch ihre Arbeit im Ausland oft ganze Familien in Entwicklungsländern ernähren, nicht immer aufgeht, sondern es viele Nuancen gibt, davon zeugten zahlreiche Fallbeispiele und Interviews mit Betroffenen. Und letztlich bleibt neben der selbstkritischen Befragung, ob die wissenschaftlichen Ansätze wirklich zu konstruktiven Lösungen führen, nach jeder Tagung dieser Art das dumpfe Gefühl darüber, wie viel solche elitären Debatten den Betroffenen wirklich bringen. Dass diese Konferenz dennoch viel gewinnbringenden Austausch bot, ist nicht zuletzt den VeranstalterInnen wie der Stadt Düdelingen, unter deren Schirmherrschaft die Konferenz stattfand, zu verdanken.

* Veranstalter neben dem CDMH waren: das Institut für Regional- und Migrationsforschung (IRM) Deutschland, das Institut Integration und Partizipation IIP der Hochschule für soziale Arbeit HSA, Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW (Schweiz), die Kompetenzplattform für Migration und interkulturelle Kompetenz KOPF der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschulen Köln (Deutschland) sowie das Institut für Erzeihungswissenschaft, Fakultät für Bildungswissenschaften, Universität Innsbruck (Österreich).

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