MIGRATION: Im Land der geplatzten Träume

„Bitter Oranges“ beschäftigt sich mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen afrikanischer Flüchtlinge, die als Tagelöhner auf kalabrischen Obstplantagen arbeiten.

Wer in einem solchen Zelt unterkommt, hat Glück gehabt. (Foto: Carole Reckinger)

„Wer erst mal in Rosarno gelandet ist, hat keine Hoffnung mehr.“ Mit diesem Satz resümiert Carole Reckinger die Situation der afrikanischen Flüchtlinge, die, oft nach monatelangem Martyrium, in Kalabrien landen. „Sind die Flüchtlinge in Lampedusa, wo sie meistens ankommen, noch voller Lebensmut und Vorfreude auf das angeblich schöne Leben in Europa, so haben sie in Kalabrien meist schon begriffen, dass das nicht das Land ihrer Träume ist“ erklärt Reckinger, Entwicklungshelferin und Fotografin.

Denn wer in Rosarno landet, kommt nicht wieder weg. Viele der Flüchtlinge, die es von Libyen über Lampedusa nach Italien schaffen, bleiben in den ländlichen Regionen Italiens hängen. „Selbst wer als politischer Flüchtling anerkannt wird, kann nur selten mit staatlicher Hilfe oder ähnlichem rechnen“ erklärt Carole Reckinger. „Oft wird den Leuten von den Ministerien gesagt: Wir werden dich anrufen. Bis sich etwas tut, können jedoch Monate oder Jahre vergehen.“

Um zu überleben, schlagen sich die meisten der Flüchtlinge als Tagelöhner auf den Orangenplantagen durch. Sie pflücken die Orangen, die später überall in Europa in den Supermärkten zu kaufen sind. „Noch vor einigen Jahren gab es eine regelrechte Völkerwanderung von afrikanischen Flüchtlingen quer durch Italien, immer auf der Suche nach Arbeit auf Gemüse- und Obstplantagen“ erklärt die Fotografin. „Heute bleiben die allermeisten an einer Stelle. Wegen sinkender Preise für die Waren und einem Überschuss an Arbeitskräften lohnt es sich oft nicht mehr, die lange Reise auf sich zu nehmen.“

Also bleiben sie in Rosarno, das ganze Jahr über. Und hausen mal in einer Art Notunterkunft – „aber nur die wenigsten haben das Glück, dort unterzukommen“ – mal in Slums aus Zelten und Wellblechhütten, mal im Wald, unter Plastikplanen und Pappkartons. Auch in den wenigen Notunterkünften kommen nur die wenigsten der Flüchtlinge in Containern unter. Arbeit auf den Orangenplantagen gibt es in der Regel nur ein paar Wochen im Jahr, um Weihnachten herum. „Das Geld, das die Tagelöhner dort verdienen, muss für das ganze Jahr reichen“ erzählt Reckinger. „Einige halten sich auch mit kleinen Gelegenheitsjobs über Wasser.“

„Früh morgens begeben sich Tausende Flüchtlinge auf einen Fußmarsch in die Innenstadt, wo es einen ‚Arbeitsstrich` gibt“, erinnert sich Carole Reckinger. „Dort werden sie angeheuert und in Lieferwagen verfrachtet, die sie zu den Plantagen bringen.“ 25 Euro bringt ein Tag Arbeit auf einer Plantage in der Regel, es gibt aber auch Bauern, die pro Kiste zahlen – 50 Cent für 22 Kilogramm Orange, ein Euro für 22 Kilogramm Mandarinen.

Den Alltag der in Rosarno Gestrandeten dokumentieren, ihre Arbeits- und Lebensbedingungen, ihre Hoffnungslosigkeit, ihr Elend zu zeigen, ohne dem Voyeurismus zu verfallen – das ist das Ziel der Ausstellung „Bitter Oranges“, die ab dem 2. Dezember im „Neimënster“ zu sehen ist.

„Unser Ziel war es nicht, einfach durch die Slums zu marschieren und Fotos zu schießen, sondern eher etwas mit den Menschen dort auf die Beine zu stellen“ berichtet die Fotografin. „Wir haben lange überlegt, wie wir den Alltag rüberbringen könnten, ohne respektlos zu sein.“ Die Lösung: „Wir haben dann einfach einigen der Jungs Kameras in die Hand gedrückt und es ihnen überlassen, was sie wie zeigen wollten.“

In der Ausstellung werden Fotos sowohl von Flüchtlingen als auch von Carole Reckinger zu sehen sein. „Wir haben versucht, eine Geschichte um die Fotos aufzubauen und Erklärungen zu geben“, sagt sie. „Letztendlich haben wir aber versucht, die Texte zu den Fotos so nüchtern wie möglich zu halten – es ist am Betrachter, sich seine Meinung zu bilden.“

„Keiner soll sagen können: Wir haben es nicht gewusst“, sagt die Fotografin, die gemeinsam mit den Anthropologen Gilles Reckinger und Diane Reiners an der Ausstellung gearbeitet hat. „Während die europäische Union sich mit einem Friedensnobelpreis schmückt und der ganzen Welt Lektionen in Sachen Demokratie und Menschenrechte erteilt, werden diese Werte mitten in Europa mit Füßen getreten.“ Carole Reckinger sagt es kompromisslos: „Der Umgang mit Flüchtlingen in der EU ist menschenunwürdig.“

Ob sie denn jetzt keine Orangen mehr esse, wird Reckinger in letzter Zeit öfter gefragt. „Natürlich esse ich immer noch Orangen!“ erwidert sie dann und fügt hinzu: „Es geht doch nicht um ein bestimmtes Obst. Es geht um ein System, das auf der Suche nach dem maximalen Profit und immerwährendem Wachstum jegliche Ethik und Moral über Bord geworfen hat.“

Ab dem 2. Dezember im „Neimënster“.

Mehr Informationen unter www.bitter-oranges.com


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