INKLUSION: Wertlos auf dem Arbeitsmarkt

Seinen Lebensunterhalt durch eine frei gewählte oder frei angenommene Arbeit verdienen zu können, fordert die Behindertenrechtskonvention. In Luxemburg ist man von diesem Grundsatz noch weit entfernt …

Ohne seine Behinderung wäre er vielleicht Förster geworden … Der Syndikatssekretär beim „Département des travailleurs handicapés“, Joël Delvaux hat es täglich mit Klagen von Menschen mit Behinderung über Diskriminierung bei der Arbeitssuche oder am Arbeitsplatz zu tun. (Foto: Joël Delvaux – privat)

Christophe Muller hat es geschafft, so scheint es. Trotz Hörschädigung arbeitet er seit 2006 im Werk von Goodyear in Colmar-Berg in der Produktion. „Ich find den Job okay“, meint Muller. Nach einer oralen Schulausbildung absolvierte er in Winnenden bei Stuttgart eine Ausbildung zum Elektrotechniker und schiebt heute Schichten in der Produktion der Autoreifen-Firma. Obwohl seine Kollegen hören, klappt es mit der Kommunikation. Auch mit dem Personalchef hat Muller eine Möglichkeit gefunden, sich zu verständigen. Im Zweifelsfall greift er zu Stift und Papier. Ein Paradebeispiel für gelungene Inklusion auf dem regulären, sprich „ersten“ Arbeitsmarkt? Die meisten Menschen mit einer Behinderung haben nicht so ein Glück wie Muller. Und auch er selbst räumt ein, dass es nicht gerade ein breites Angebot an Möglichkeiten für Gehörlose gibt. Habe man endlich eine Arbeitsstelle gefunden, so sei man eigentlich immer nur an ein und demselben Arbeitsplatz tätig – ein Leben lang. Ihren Traumjob, in dem sie ihre Fähigkeiten entfalten können, finden die wenigsten Menschen mit einer Behinderung.

Dabei sieht Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die in Luxemburg 2011 ratifiziert wurde, ein Recht behinderter Menschen auf Arbeit auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen vor. Dieses Recht schließt die Möglichkeit ein, den Lebensunterhalt durch eine Arbeit zu verdienen, die frei gewählt oder frei angenommen wird. Und der Artikel legt fest, dass dieses Recht „das Recht auf die Möglichkeit der Arbeit in einem offenen, einbeziehenden und zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld“ einschließt.

Bei den Bestimmungen der Behindertenrechtskonvention handelt es sich lediglich um normative Setzungen.

Die UN-BRK fordert im Bereich der Erwerbsarbeit also Selbstbestimmung und volle Teilhabe. Doch handelt es sich bei diesen Bestimmungen lediglich um normative Setzungen. Solange staatliche wie private Betriebe dieser Bestimmung nicht nachkommen, kann man lediglich auf den guten Willen der Arbeitgeber hoffen. Luxemburg sieht zwar im Bereich der öffentlichen Verwaltung eine Quotierung von fünf Prozent und im Privatsektor eine von drei bis vier Prozent vor, doch drohen bei Nicht-Einhaltung dieser Quoten keinerlei Sanktionen. Solche wären aber nötig, um die Betriebe wirklich in die Pflicht zu nehmen. Immerhin versprach Arbeitsminister Schmit anläßlich einer Podiumsdiskussion des OGBL, die Gemeinden in Zukunft an ihre Fünf-Prozent-Verpflichtung zu erinnern, Sanktionen durch Geldbußen schloss Schmit nicht aus.

Ähnlich wie die umstrittene Frauenquote, die Gleichstellung sichern soll, ist auch eine „Behinderten-Quote“ noch immer vonnöten, weil Betriebe meistens nicht von sich aus auf die Fähigkeiten von behinderten ArbeitnehmerInnen setzen. „Viele Betriebe könnten sich noch nicht vorstellen, Behinderte einzustellen“ bestätigt der Präsident von „Info-Handicap“, Silvio Sagramola. „Diversity“ ist nicht gefragt, sondern Leistung. Spezifische analytische Fähigkeiten, die etwa Menschen mit einem Asperger-Syndrom – einer Form von Autismus – mitbringen, werden nicht zur Geltung gebracht, sondern problematisiert. So scheint es nur logisch, dass in einer Leistungsgesellschaft die Schwachen mit einer sichtbaren Behinderung meist unter den Tisch fallen.

Rund 1.335 Arbeitsuchende waren als „salariés handicapés“ im Oktober 2014 bei der Adem gemeldet. Hinzu kommen laut den Angaben des Arbeitsamtes 489 Arbeitsuchende, die als „salariés handicapés“ anerkannt sind und gleichzeitig „in den Genuss einer externen beruflichen Wiedereingliederung“ (reclassement externe) seitens der Arbeitsagentur kommen. Nach Angaben des „Service salariés handicapés“ sind rund 2.500 behinderte Menschen in den ersten Arbeitsmarkt integriert. Rund 1.000 Menschen mit einer Behinderung arbeiten in Werkstätten, sogenannten „ateliers protégés“. Das klingt nicht alarmierend, doch beträgt die Arbeitslosigkeit bei behinderten Menschen, rechnet man jene die in einer Beschäftigungsmaßnahme sind nicht mit ein, rund 34 Prozent. Personen mit einer Behinderung sind damit in Luxemburg statistisch fünfmal häufiger arbeitslos als andere. Wie passt das zu dem Gebot der UN-BRK, nach dem eine Diskriminierung aufgrund einer Behinderung im Beruf verboten ist?

„Diversity“ ist nicht gefragt, sondern Leistung.

„Lässt die Produktivität eines Arbeitnehmers im Betrieb nach, so ist es einfacher, sich seiner zu entledigen als ihn zu unterstützen“, konstatiert Joël Delvaux vom „Département des travailleurs handicapés“ des OGBL. Eine gute Ausbildung für Menschen mit Behinderung ist so noch immer das A und O für ihre spätere „Konkurrenzfähigkeit“ auf dem ohnehin hart umkämpften Arbeitsmarkt. An einem inklusiven Schulsystem, in dem Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen, führt daher auch kein Weg vorbei. Doch sind Überlegungen zu einer inklusiven Schule in Luxemburg über das Anfangsstadium noch nicht hinausgekommen – zumindest in der Politik. „Soziale Selektivität“ und Elitenförderung haben Priorität vor den Bestrebungen, Schwache von klein auf zu inkludieren. Die „Schule für alle“ scheint in der jetzigen Schulpolitik nicht in Sicht. „Wir funktionieren hier leider noch immer zu viel mit Sonderstrukturen“, bedauert so auch „Nëmme mat eis“-Präsident Patrick Hurst.

Doch scheitert eine Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt oft auch am Mangel an Möglichkeiten. Das Modell einer persönliche Assistenz wird hierzulande nur in seltenen Fällen bewilligt und ist deshalb auch noch kaum bekannt. „Job-Coaching-Modelle“ sind rar, und auf ihre Expertise greift die Adem nur selten zurück. Die „Association d’aide par le travail thérapeutique pour personnes psychotiques“ (ATP), die Job-Coaching anbietet und sich für die Reintegration von psychisch Kranken auf den Arbeitsmarkt einsetzt, muss sich derzeit zu weiten Teilen über den europäischen Sozialfonds finanzieren. Eine Sensibilität für psychisch Kranke, die also eine nicht-sichtbare Behinderung haben, ist in den meisten Betrieben kaum vorhanden.

Überdies führt zur Anerkennung des Statuts als behinderter Arbeitnehmer ein beschwerlicher Weg mit vielen Hindernissen und oft langen Wartezeiten. Ist der Status schließlich anerkannt, so stehen dem Antragsteller – neben sechs zusätzlichen Urlaubstagen – eine Reihe von Maßnahmen zur Förderung seiner Integration in den regulären Arbeitsmarkt zu, wie etwa eine staatliche Lohnbeteiligung, eine behindertengerechte Anpassung des Arbeitsplatzes sowie gegebenenfalls eine Umschulung.

Auf der Grundlage einer medizinischen Untersuchung wird eine Akte angelegt, die an die Kommission für Orientierung und berufliche Wiedereingliederung weitergeleitet wird. Diese trifft dann die Entscheidung darüber, ob der Antragsteller in den regulären Arbeitsmarkt eingegliedert oder an eine Werkstatt verwiesen wird. Zumindest besteht auch in den Werkstätten seit der letzten Gesetzesreform (2003) ein Anspruch auf den gesetzlichen (sozialen) Mindestlohn. Aussicht auf ein höheres Gehalt haben jedoch nur die wenigsten.

Personen mit einer Behinderung sind in Luxemburg statistisch fünfmal häufiger arbeitslos als andere.

Als sich Patrick Hurst vor Jahren auf dem Arbeitsamt arbeitssuchend meldete, sagte man ihm, es sei quasi hoffnungslos. Ein privater Arbeitgeber schloss eine Einstellung sofort und kategorisch mit der Begründung aus, dass für die Stelle jemand mit Führerschein gesucht werde, erzählt der blinde Präsident von „Nëmme mat eis“, der heute an einer Schule unterrichtet. Ähnlich schlechte Erfahrungen auf dem Arbeitsamt hat auch Christophe Muller gemacht. Als Gehörloser könne er es eigentlich vergessen, hieß es, er solle doch erstmal ein Praktikum machen. Die Prozedur bis zur Anerkennung seines Statuts als behinderter Arbeitnehmer, zog sich lange hin. „Ein Jahr war bisher die Rekordzeit“, meint Joël Delvaux. Dass die Mühlen bei der Adem zu langsam mahlen, ist ein Problem, das Menschen mit Behinderung in Luxemburg einhellig beklagen. Dies hänge damit zusammen, dass viele ihre Unterlagen nicht vollständig einreichen, lautet die Erklärung von Adem-Angestellten.

Als Ausländer mit einer Behinderung habe man beim Arbeitsamt zudem besonders schlechte Karten, berichtet Delvaux. Die Kommentare, die ihm Betroffene zutragen, seien eindeutig unter der Gürtellinie und grenzten an Diskriminierung. Aber nicht nur das Arbeitsamt lässt es mitunter an Respekt gegenüber arbeitssuchenden Menschen mit einer Behinderung fehlen, selbst beim Familien- und Integrationsministerium scheint man im Umgang mit Menschen mit einer geistigen Behinderung oder „mit einer Lernschwäche“ wie es seit neuestem im politisch korrekten Jargon heißt, nicht gerade geübt. So stellte eine Mitarbeiterin des Familienministeriums, die vor zehn Tagen eine Veranstaltung der Chancengleichheitskommission in Differdingen zum Thema „Inklusion auf dem Arbeitsmarkt“ moderierte, einem geistig behinderten Teilnehmer des Rundtischgesprächs, der in einem „atelier protégé“ der Ligue HMC tätig ist, tatsächlich die Frage, ob er über eine Betätigung auf dem ersten Arbeitsmarkt nachgedacht habe und wie er zum Statut des behinderten Arbeitnehmers stehe. Nachdem der Mann einzelne Worte zu stammeln begann, sprang ihm eine Mitarbeiterin der Ligue HMC aus dem Publikum bei und wiederholte die Fragen in einfachen Worten. Für eine barrierefreie Kommunikation mit Menschen mit einer Lernschwäche bedarf es einer „Leichten Sprache“, und die muss, ähnlich wie Gebärdensprache, erlernt werden. Gerade MitarbeiterInnen von Ämtern müssten also darin geschult werden. Andernfalls führt man die Menschen öffentlich vor, statt sie ernstzunehmen.

Um Anerkennung kämpfen und sich täglich beweisen müssen Menschen mit einer Behinderung letztlich Tag für Tag. „Christophe hat enormes Glück gehabt – die meisten Gehörlosen stoßen aufgrund der Sprachensituation im Alltag in Luxemburg auf Barrieren“, meint die Präsidentin des Gehörlosenvereins Daaflux Nicole Sibenaler. „Ich fühle mich meistens so, als müsse ich mich ständig beweisen, meine Tauglichkeit nachweisen „wie ein Auto bei der Fahrzeugkontrolle“. Und selbst der Arbeitsminister gab anläßlich der
OGBL-Veranstaltung vergangene Woche zu bedenken, „vielleicht ist es besser, in den nächsten Jahren weniger in teure Gebäude zu investieren und mehr in Menschen“. Schließlich sei das eine Investition, die sich lohnt, denn die Kinder von heute seien die Arbeitnehmer von morgen. Ob in Zeiten zwanghafter Sparpolitik Ausbildung und Reintegration von Menschen mit Behinderung wirklich Priorität haben werden?

Am 3. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung, findet in der Abtei Neumünster um 18.30 Uhr die Veranstaltung „Außergewöhnliche Menschen – außergewöhnliche Projekte statt“ (siehe Agenda S. 7).


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