Jugoslawien-Tribunal
: Letzter Akt für Karadžić


In Den Haag wird kommenden Donnerstag das Urteil gegen den bosnisch-serbischen Ex-Präsidenten Radovan Karadžić verkündet. Der Prozess spiegelt den fragilen Zustand auf dem Balkan wider.

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Die Staatsanwaltschaft will Radovan Karadžić lebenslänglich hinter Gitter sehen, doch er selbst beurteilt seine Chancen auf einen Freispruch optimistisch: Unser Bild zeigt den ehemaligen bosnisch-serbischen Präsidenten bei seinem ersten Auftritt vor dem Jugoslawien-Tribunal am 31. Juli 2008 in Den Haag. (Foto: ICTY photos / Flickr)

497 Verhandlungstage, 565 Zeugen, 11.000 Beweisstücke mit fast 80.000 Seiten Umfang – diese Zahlen deuten die prominente Stellung an, die der Prozess gegen Radovan Karadžić im Rahmen des Jugoslawien-Tribunals der Vereinten Nationen (ICTY) einnimmt. Karadžić, zwischen 1992 und 1996 Präsident der bosnisch-serbischen Republik und zugleich Hauptkommandeur ihrer Streitkräfte, musste sich in elf Anklagepunkten verantworten, darunter Genozid in Srebrenica sowie anderen bosnischen Ortschaften, Mord, Deportationen, Geiselnahme und ungesetzliche Angriffe auf Zivilisten. Am 24. März wird in Den Haag das Urteil gegen Karadžić verkündet.

Bereits im Herbst 2014 waren in der Verfahrenskammer III die Abschluss-Plädoyers gehalten worden: Die Anklage forderte eine lebenslängliche Haftstrafe, sieht sie doch Karadžić als Drahtzieher des Massakers von Srebrenica, der Belagerung Sarajevos und „treibende Kraft der Politik der ethnischen Säuberung“. Der Angeklagte, sich nach wie vor für unschuldig haltend, räumte individuelle Verbrechen seitens der bosnisch-serbischen Armee ein, die er aber nicht angeordnet habe. „Ich habe ein reines Gewissen, doch ein schweres Herz, denn der Krieg war nicht mein Wunsch“, so Karadžić.

„Extrem komplex“ nennt Serge Brammertz, der Chefankläger des Tribunals, im Rückblick den Prozess. Das Urteil wird wohl der bislang meistbeachtete Richterspruch des ICTY werden, nachdem Slobodan Milošević 2006 vor dem Abschluss seines Falls an einem Herzinfarkt verstorben war. Das Verfahren gegen den bosnisch-serbischen Kommandanten Ratko Mladić läuft noch bis Ende 2017. Die Einschätzung Brammertz‘ bezieht sich nicht allein auf Aktenberge und Zeugenaussagen: insbesondere zu Beginn des Karadžić-Prozesses war dieser geprägt von Unterbrechungen, Abwesenheit des Angeklagten und dessen Beschwerde, ihm werde ein fairer Prozess verweigert. Chefankläger Brammertz weist diesen Vorwurf entschieden zurück und betont, Karadžić, der sich in Den Haag selbst verteidigt hat, habe dazu ausreichend Gelegenheit bekommen und Hunderte Zeugen befragt.

Brammertz ist realistisch genug, den fragilen Zustand der Nachkriegsgesellschaften Ex-Jugoslawiens zu sehen. Für die Arbeit des ICTY bilden sie einen durchaus prekären Rahmen: „Manche Menschen in der Region denken, das Tribunal gefährde den Frieden eher. Immer wenn in Den Haag ein Urteil gefällt wird, freut sich die eine Gruppe, und die andere ist wütend.“ Unumwunden gibt Brammertz zu, die politische Kultur des Nationalismus in den Nachfolgestaaten unterschätzt zu haben. „Wie wollen wir vorankommen, solange 
es in Bosnien drei Geschichtsbücher gibt?“

Nicht zuletzt der Fall Karadžić verdeutlicht diese Realität. Auf der einen Seite stehen da Opfer-Organisationen wie die „Mütter von Srebrenica“, die auch zur Urteilsverkündung wieder nach Den Haag kommen werden. Anlässlich der Schluss-Plädoyers kommentierte Sprecherin Munira Subašić
: „Wir erwarten, dass der Verbrecher Karadžić lebenslänglich bekommt und er nicht nur des Genozids von Srebrenica schuldig befunden wird, sondern auch des Genozids in anderen Städten Bosniens.“

„Manche Menschen in der Region denken, das Tribunal gefährde den Frieden.“

In Belgrad steht derweil der Menschenrechtsaktivistin Anita Mitić ein Prozess bevor, weil sie im Juli 2015 zum 20-jährigen Jubiläum der Srebrenica-Massaker im Internet zu einer Gedenkfeier für die Opfer aufgerufen hatte. Sie soll gegen das Versammlungsverbot verstoßen haben, mit dem das Innenministerium Gedenkveranstaltungen und Proteste rechter Gruppierungen verhindern wollte. Bei einer Debatte zum Thema Srebrenica bilanzierte kürzlich Nemanja Stjepanović, Mitglied des Belgrader „Humanitarian Law Center“: „21 Jahre nach dem Genozid sind dank Zeugenaussagen vor Gericht und Beweisen alle Fakten in Details bekanntgemacht worden. Doch viele Menschen wissen das entweder nicht oder wollen es nicht wissen.“

Bei der Rechtsprechung in Den Haag sollen politische Rahmenbedingungen außen vor bleiben. Genau dies bemängelt Nena Tromp-Vrkić, in Kroatien aufgewachsene Lektorin für Holocaust- und Genozid-Studien an der Universität Amsterdam. Als Mitglied der Recherche-Abteilung am Jugoslawien-Tribunal sammelte sie einst Beweismaterial gegen Slobodan Milošević. In ihrer Doktorarbeit zum Thema wies sie diesem die direkte Verantwortung für Srebrenica zu. Zugleich warnt sie vor einer „Über-Verfolgung“ einzelner Angeklagter: „Kein politischer Führer kann jahrelang verantwortlich für Massenverbrechen sein, ohne dass staatliche Institutionen eine Rolle spielen“, so Tromp. Wenn ein komplexer Sachverhalt durch Personalisierung vereinfacht werde, könne dies leicht dazu führen, dass die gesellschaftlichen und institutionellen Ursachen von Ereignissen nicht mehr gesehen werden. Dies gelte „absolut“ auch für den Fall Karadžić, der zu einer Art Sündenbock werde.

Wer den fünfjährigen Prozess in Den Haag verfolgte, wurde in der Tat immer wieder auf dessen politischen Kontext verwiesen. Der Propagandagehalt von Karadžić’ unablässig wiederholter Rede vom kleinen, bedrohten serbischen Volk, dessen heroischer Verteidigung er sich verschrieben habe, war dabei offensichtlich. Doch gab es dieses Leitmotiv nicht bei allen Konfliktparteien im ehemaligen Jugoslawien und seiner fatalen ethno-nationalistischen Dynamik? Die zentrale Frage ist, wie sich aus einem Dickicht an Fakten, Mythen und Deutungen eine annähernd objektive Wahrheit etablieren lässt.

„Es gibt keinen Disput darüber, dass 1992 in vielen Ortschaften Bosniens Menschen vertrieben wurden“, sagt der Anwalt Peter Robinson, der Karadžić während des Verfahrens in Den Haag beriet und begleitete. „Aber bei Kriminalfällen geht es um Absichten. Die Frage ist also: war es beabsichtigt, die bosnischen Muslime als ethnische Gruppe zu zerstören und vom Erdboden zu vertilgen?“ Was seinen Klienten anbelangt, nuanciert Robinson zumal beim Thema Srebrenica. „Sicherlich war er beteiligt an der Entscheidung, Srebrenica einzunehmen. Aber dass Gefangene exekutiert würden, war etwas, in das er absolut nicht involviert war und das er nicht wollte.“

Zwei Wochen vor dem Urteil ist Robinson bezüglich Karadžić’ Aussichten nicht sonderlich zuversichtlich. „Ich denke, dass das institutionelle Interesse, ihn verurteilt zu sehen, zu groß ist. Der Gerichtshof wurde gegründet um diejenigen, die während des Kriegs im früheren Jugoslawien in den höchsten Positionen waren, zur Verantwortung zu ziehen. Da scheint es einfach unvorstellbar, dass sie ihn nicht verurteilen. Das würde als ein riesiges Versagen gesehen werden.“ Karadžić dagegen, so Robinson, sei tatsächlich optimis-
tisch. „Er denkt, wenn dies ein richtiger Gerichtshof ist, werden sie seine Unschuld sehen.“

In diesem Licht sieht Robinson auch Karadžić’ Entscheidung, sich selbst zu verteidigen. „Sein Ziel war es, seine Version der Geschichte zu erzählen. Und das kann er besser, wenn er dazu an jedem Tag des Verfahrens Gelegenheit hat, statt nur für ein paar Wochen während der Zeugenaussagen. „Wenn man also sieht, was in seinem Fall möglich war und was seine Ziele waren, war es eine vernünftige Entscheidung. Kein Anwalt kann ihm hier einen Freispruch verschaffen.“ Sicher ist sich Robinson unterdessen, dass der Fall Karadžić wie die meisten vom Jugoslawien-Tribunal gesprochenen Urteile in Berufung gehen wird. „Entweder seitens der Verteidigung, der Anklage oder von beiden.“

Angesichts der aktuellen Weltlage lächelt Chefankläger Brammertz ein wenig gequält angesichts der einstmals mit dem Jugoslawien-Tribunal verbundenen Erwartung, „die Welt könnte durch internationale Justiz sicherer werden“, auch wenn er selbst noch immer darauf hofft. Die zur Urteilsverkündung zahlreich erwarteten internationalen Medien sind ein ferner Widerschein dieser Hoffnung.

Tobias Müller berichtet für die woxx vorwiegend aus Belgien und den Niederlanden.

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