Lage der Nation: Alles was zählt

Wirtschaft oder Umwelt? Soziales oder Gesellschaftspolitik? Die diesjährigen Rede zur Lage der Nation zeigt: Die Regierung setzt sich für vieles ein – nur nicht im gleichen Maße.

Das „Team Bettel“ beim Ausklügeln der Steuerreform 2016? 
Nein, die United Cooks‘ Society anno 1863 bei der Zubereitung eines Riesen-Plumpuddings für die Working Poor. (Abbildung: Wikimedia / http://wellcomeimages.org / CC-BY 4.0)

Das „Team Bettel“ beim Ausklügeln der Steuerreform 2016? Nein, die United Cooks’ Society anno 1863 bei der Zubereitung eines Riesen-Plumpuddings für die Working Poor. (Abbildung: Wikimedia / http://wellcomeimages.org / CC-BY 4.0)

„Die Aussichten sind positiv, und die Regierung strengt sich weiterhin an, damit diese Aussichten positiv bleiben.“ Dieser Satz gegen Ende der Rede zur Lage der Nation erinnert an das, was bei dieser alljährlichen Zeremonie im Zentrum steht: die Welt, wie sie die Regierung sieht. Was erscheint dem Premierminister so wichtig, dass er es in seine Rede aufnimmt, ja, es sogar gleich zu Anfang anspricht?

Dieses Jahr gab es eine klare Antwort: Was zählt, ist die Finanz- und Wirtschaftspolitik. Und: Dem Finanzplatz gebührt ein Ehrenplatz. In den ersten fünf Minuten seiner Rede vom Dienstag freute sich Xavier Bettel: „Wir sind die Nummer eins in der Eurozone.“ In punkto Transparenz sei das Land von allen internationalen grauen und schwarzen Listen gestrichen worden, und die Ratingagenturen bestätigten regelmäßig das „Triple A“. Wohl um die Stimmung nicht zu trüben, ließ der Premier das leidige Thema der Luxleaks unerwähnt – obwohl der Beginn des Prozesses gegen den Whistleblower Antoine Deltour am selben Tag unübersehbar an Luxemburgs unrühmliche Rolle als Steuerparadies gemahnte.

Nach einem kurzen Exkurs über den Rückgang der Arbeitslosigkeit kehrte Bettel dann gleich zum Thema Wirtschaft zurück. Unter anderem lobte er den Ausbau der Logistikbranche, kündigte neue Fördermaßnahmen für das Unternehmertum an und pries die guten Rahmenbedingungen für den IT-Sektor. Auch bei den Ausführungen zur Steuerreform im mittleren Teil der Rede stand die Wirtschaft an erster Stelle. Zu Luxemburgs Wirtschaftsmodell gehöre, dass das steuerliche Umfeld „kompetitiv“ sei, begründete er die konsequente Senkung der Betriebsbesteuerung. Und stellte eine an den Ausgang der internationalen Verhandlungen über die „Assiette fiscale“ gekoppelte weitere „Anpassung“ des Steuersatzes in Aussicht.

Lage der Nation 
und Lebenslagen

Das klingt alles nicht sehr aufregend. Nach seiner Express-Rede vom vergangenen Jahr ließ sich Bettel diesmal etwas mehr Zeit, blieb aber weit unter den zwei Stunden von 2014. Zum Glück, denn noch mehr vage Ankündigungen und unwichtige Details hätte man nicht hören wollen. Bettels Rhetorik reicht bei weitem nicht an die seines Vorgängers heran. Immerhin zitierte er Jean-Claude Juncker zum Thema nachhaltige Finanzpolitik und machte beim Thema Administrative Vereinfachung eine pfiffige Anspielung: „Früher war das Chefsache, heute ist es Tatsache.“ Auch ein paar Metaphern über Kinderschuhe und Blasen oder über Teller und Besteck streute er in seine Rede ein.

Rhetorischer Höhepunkt war zweifellos die Überleitung vom „État de la Nation“ zum „État personnel“ – der Lebenssituation der sozial schwächeren Menschen. „Es sind aber diese Einzelschicksale, die mich auch bewegen (…) die mich motivieren und jeden Tag antreiben, Politik zu machen.“ In Xavier Bettels Mund klingt diese Äußerung persönlicher Betroffenheit durchaus glaubwürdig – wie vor einem Jahr, als er laut über Luxemburg im Zweiten Weltkrieg nachdachte (woxx 1318). Dieser menschliche Zug ist Bettels Trumpfkarte – einem Politik-Routinier wie Jean-Claude Juncker hat man eine Rhetorik dieser Art irgendwann nicht mehr abgenommen.

Für die Menschen, „die ihre Post nicht mehr öffnen, weil sie schlechte Neuigkeiten fürchten“, hatte der Premier eine gute Nachricht. Die Arbeitslosigkeit geht zurück. 1.882 Arbeitslose weniger seit Beginn der Legislatur, das sind „1.882 Personen und Familien, die Licht am Ende des Tunnels erblicken“, so Bettel. Für die anderen verwies er auf die Modernisierung des Arbeitsamts – und auf eine Reform des RMG.

Auch bei der Steuerreform steht für die Regierung die Wettbewerbsfähigkeit an erster Stelle, danach aber kommt das Soziale als „zweite Säule“ – so, wie die LSAP die zweite Geige spielt, ist man versucht zu sagen. Bettel war bemüht, der Reform, die die Mittelschicht begünstigt (woxx 1361), einen Anstrich sozialer Gerechtigkeit zu geben. Die steuerlichen Veränderungen machten sich „am meisten bei den Menschen bemerkbar, bei denen die Bedürfnisse am größten sind“.

„Wir bauen!“

Dass die Abgabenpolitik der Regierung sozial ausgerichtet sei, ist aber nur Wunschdenken. Zum einen, weil ein Teil der vorliegenden Steuersenkungen nichts als eine Wiedergutmachung für die vorübergehend erhobenen „Kinderbetreuungs-Abgabe“ (woxx 1279) und der nicht rückgängig gemachten TVA-Erhöhung sind. Zum anderen, weil Maßnahmen wie Vergünstigungen beim „Chèque-repas“ und Erhöhung der Steuerfreibeträge für Dienstpersonal gerade nicht den sozial Schwächsten zugute kommen. Tiefpunkt der Rede war der Rechtfertigungsversuch für die Abschaffung der Kindergeld-Staffelung – die dem Staat Einsparungen in Millionenhöhe bringt: „Gleichberechtigung ist uns wichtig. Auch und vor allem bei den Kindern.“

Ein Lichtblick war dagegen die Aussage zur Preisexplosion auf dem Wohnungsmarkt. „Wer diese Entwicklung stoppen will, muss bauen – und wir bauen!“, versicherte der Premier. Die von ihm genannten Zahlen klangen beeindruckend: 3.509 zusätzlich geplante Wohnungen und über 50 Hektar Arbed-Ländereien die erschlossen werden sollen. Das konnte halbwegs über die anderen Maßnahmen hinwegtrösten: Steuervorteile für Immobiliengeschäfte der oberen Mittelschicht und neue, potenziell preistreibende, Mietsubventionen – die zu der erklärten Absicht, nicht länger „den Leuten das Geld auf die Hand zu geben“, in ziemlichem Widerspruch stehen.

Blau-Rosa-Grün in Wort und Tat

Beurteilt man den Stellenwert eines Themas danach, wie oft es in der Rede auftauchte, so ist dem Premier neben der Wohnproblematik offenbar auch die Lage der Alleinerzieherinnen und -erzieher wichtig. Das verwundert wenig, denn hier vereinigt sich der soziale Anspruch mit dem auf Fortschrittlichkeit. So empfahl Bettel – wie mehrfach vor ihm Juncker – die Lektüre des Caritas-Sozialalmanachs (woxx 1367), dem zu entnehmen sei, dass das Armutsrisiko für Alleinerziehende besonders hoch ist. Und er bekräftigte, dass man der Verschiedenheit der Familienformen Rechnung tragen werde. Darüber hinaus gab es allerdings kaum Aussagen zu gesellschaftspolitischen Fragen. Wie bereits 2015 kann man sich hierüber nur wundern, ist es doch gerade dieser Politikbereich, in dem die Positionen der Koalitionspartner einander am nächsten sind.

Wenig Platz nahm auch die Umweltpolitik ein. Sie war, wie in den zwei Jahren zuvor, in den hinteren Teil der Rede verbannt worden – sieht man einmal von der, eher antiökologischen, Ankündigung ab, im Zuge der Standortpolitik Kommodo, Naturschutz und Landesplanung zu „vereinfachen“. Die Rangfolge ist klar: Blau-Rosa-Grün, bei den Ausführungen zur Steuerreform, bei der allgemeinen Struktur der Rede … und bei der konkreten Regierungsarbeit.

Trotzdem, Bettel schien sich ehrlich über die Maßnahmen zur Verbesserung der Mobilität zu freuen und ging detailliert auf die Bahn-, Park-and-Ride- und Tram-Ausbaupläne ein. Außerdem überraschte er mit einer deutlichen Absage an die Atomenergie, die „auf längere Sicht mehr Probleme schafft, als sie löst“. Schade nur, dass danach für die erneuerbaren Energien gerade mal zwei Sätze drin waren. Skeptisch dürften Umweltfreunde auch die Ankündigung eines staatlichen „Ökokontos“ aufnehmen: Mit diesem sollen private Akteure sich für zerstörerische Bauprojekte freikaufen können – die öffentliche Hand kümmert sich im Gegenzug um Kompensationsmaßnahmen.

An einem luxemburgischen Green New Deal scheint die Regierung nicht zu arbeiten. Obwohl das Wort „Zukunft“ über 30 Mal in seiner Rede auftauchte, war Bettel sich sicher: „Wir brauchen keinen Zukunftstisch.“ Um zu wissen, worauf das Luxemburger Modell aufgebaut sei, benötige man den so wenig wie eine Kristallkugel: Das Modell basiere darauf „dass der Motor dreht, der Beschäftigungsstand steigt und wir es fertigbringen, neue Wirtschaftsbereiche zu entwickeln.“ Ob nachhaltig oder nicht, Hauptsache Wachstum.

Kein Zukunftstisch und leere Stühle

Kaum verwunderlich, dass der Name Jeremy Rifkin nicht fiel. Der Prophet der dritten industriellen Revolution und Berater der Regierung steht für eine intelligente und umweltverträgliche Wirtschaftspolitik, wohingegen die Steuerreform sich auf Geschenke – für Firmen und Privatpersonen – beschränkt. Auch zu der weltweit weiterhin schwelenden Wirtschaftskrise verlor Bettel kein Wort. Vorausschauend sei die Haushaltspolitik der Regierung gewesen, so der Premier – tatsächlich bestand sie, ohne deshalb besonders schlecht gewesen zu sein, vor allem aus Trial-and-Error.

Eine Funktion der Rede zur Lage der Nation ist die einer positiven Selbstdarstellung von Premier und Regierung – so betrachtet hat Bettel einiges Potenzial verschenkt. Man hörte zum Beispiel, über die menschenfreundlichen Aussagen zur Flüchtlingskrise hinaus, kaum etwas über EU- und Außenpolitik – früher einmal eine ausgewiesene DP-Domäne. Wichtige gesellschaftspolitische Baustellen wie die Trennung von Kirche und Staat wurden ebenfalls keiner Erwähnung gewürdigt. Auch die Frage der Integration der ausländischen Mitbürger blieb ausgeklammert – was nach dem Referendums-Debakel zwar verständlich ist, aber nicht gerade von besonderem Mut zeugt. Und schließlich hätte man von einem liberalen Politiker auch unbedingt konkrete Aussagen zu Geheimdienstreform, Notstandsgesetz und anderen, die Grundrechte berührenden Vorhaben erwartet.

Alles in allem ist es das Fehlen einer erkennbaren Position und einer kohärenten Strategie, das die Regierung wie den Premier schlecht aussehen lässt. Zur Mitte der Legislaturperiode, zwei Jahre nach Bettels erstem Lage-der-Nation-Auftritt, ist von der Aufbruchstimmung von damals (woxx 1261) nichts mehr zu spüren. Es sieht ganz danach aus, dass die Steuergeschenke – und das Wachstum, mit dem sie finanziert wurden – der Höhe- und auch Endpunkt der ersten blau-rosa-grünen Koalition sind. Ob das aber gut gehen kann?

Die Rede (auf Luxemburgisch): 
www.gouvernement.lu/5935612/26-etat-nation-lu

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