Laurie Penny im Interview: „Die Revolution kommt langsam“

Auf Einladung des Cid Fraen an Gender hat die britische Journalistin und Autorin Laurie Penny am 6. November ihr neues Buch „Bitch Doktrin: Gender, Macht und Sehnsucht“ im Kulturzentrum Neumünster vorgestellt. Wir haben mit der jungen Feministin gesprochen.

Die 31-jährige Penny schreibt nicht nur Bücher und Essays, sondern ist auch auf Twitter aktiv und betreibt den Webblog „Penny Red“. (© www.edition-nautilus.de)

woxx: Muss die Gesellschaft in sich zusammenfallen, damit eine wirkliche Revolution möglich wird?


Laurie Penny: Ich begegne oft Männern, vor allem in der Linken, die der Meinung sind, dass es nur möglich ist, eine neue Welt aufzubauen, nachdem die gegenwärtige komplett zerstört wurde. Es gibt Menschen die sagen „Trump ist eine gute Sache. Die aktuelle Gesellschaft wird kollabieren und wir werden eine bessere aufbauen“. Aber das passiert nicht. Das passiert nie. Nach einem größeren Desaster kommt es nicht zu Revolutionen. Stattdessen bleibt es an den Frauen hängen, die Scherben aufzusammeln und anderen zu helfen. Eine Revolution findet langsam und auf unerwartete Weise statt. Sogar die russische Revolution brauchte Jahre, sie begann schon 1905. Es kommt nur sehr selten vor, dass ein einziger historischer Moment alles verändert. Und selbst wenn es danach aussieht, gibt es immer auch einen Prolog und einen Epilog.

In Ihren Augen verändert sich die Gesellschaft also eher durch Reformen als durch eine Revolution?


Ich bin nicht der Ansicht, dass man sich zwischen Reform und Revolution entscheiden muss. Ich glaube, dass beides zugleich möglich ist. Menschen können sich im aktuellen System dafür einsetzen, dass sich das Leben von Einzelpersonen bessert. Gleichzeitig ist es möglich, dafür zu kämpfen, dass sich das System verändert. Dass man sich für kleinere Reformen einsetzt, heißt nicht notwendigerweise, dass man sich keinen großen sozialen Wandel wünscht.

Sie bezeichnen sich selbst als Antikapitalistin. Die Abschaffung des Kapitalismus würde aber innerhalb kürzester Zeit riesige Veränderungen mit sich bringen.


Der Kapitalismus ist dabei, sich selbst zu zerstören. Was wir im Moment haben ist eh kein reiner Kapitalismus, sondern ein Unternehmens-Feudalismus. Die Publikation der Paradise Papers ist ein weiterer Beweis dafür. In Europa und Amerika haben wir längst nicht mehr die ausgeglichene, kapitalistische Sozialdemokratie wie noch im frühen 20. Jahrhundert – falls es eine solche überhaupt jemals gab. Ich glaube in der Tat, dass das kapitalistische System einer grundlegenden Veränderung bedarf, das kann aber auch zu Beginn mithilfe von Reformen passieren. Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens zum Beispiel erfordert eine radikale Reform des Systems. Man glaubt zwar, dass diese Reform nur im Kapitalismus möglich ist, aber sie würde auch die Natur des Kapitalismus verändern.

In einem rezenten Essay mit dem Titel „Non-Compete Clause“ fordern Sie Frauen dazu auf, nicht mehr miteinander zu konkurrieren. Wie kann das funktionieren in einer Gesellschaft, die so viel Wert auf Wettstreit und Erfolgsstreben legt?


Wenn du in einem System arbeitest, in dem du mit anderen konkurrieren musst, konkurriere einfach mit Männern. Hör auf, dich mit Frauen zu messen. Meiner Erfahrung nach, ist das gar nicht so schwer. Männer rechnen gar nicht damit, das heißt, man kommt richtig weit, bevor die merken, dass man nicht mit ihnen ausgehen, sondern ihren Job haben will. Das ist natürlich keine antikapitalistische Forderung, sondern eine antipatriarchale Forderung. Es ist eine Strategie, die uns dabei hilft, weniger nach den Regeln des neoliberalen Patriarchats zu spielen.

Für viele ist es aber eine beängstigende Vorstellung, nicht danach zu streben, besser zu sein als andere Frauen.


Das stimmt. Unser ganzes Leben lang wird uns beigebracht, das beste Mädchen zu sein. Aber wir sind keine Produkte, wir schulden der Welt nicht die Performanz einer bestimmten Form von Weiblichkeit. Ein Großteil meines Lebens war von Konkurrenzverhältnissen bestimmt. Eifersucht und mangelnde Solidarität haben mich viele Freundschaften gekostet. Ich wünschte, mir hätte damals jemand gesagt, ich solle aufhören, mich mit anderen Frauen zu messen.

Wir lernen von klein auf, mit anderen zu konkurrieren. Wo sehen Sie Möglichkeiten, Solidarität zu erlernen?


Man muss üben. Bei Tabuthemen wie diesen ist es zunächst einmal wichtig, das Problem zu benennen und einzusehen, wie sinnlos diese Systeme sind. Wir können nicht kontrollieren, wie andere sich uns gegenüber verhalten, sondern nur, was wir selber tun. Deshalb müssen wir mit gutem Beispiel vorangehen. Ich reagiere einfach auf Konkurrenzverhalten nicht mehr mit Konkurrenzverhalten.

In Ihrem neuen Buch schreiben Sie über den Zusammenhang von Objektivität und Identitätspolitiken. Eine Darstellungsperspektive werde dann als besonders objektiv angesehen, wenn es sich um die eines weißen, heterosexuellen Cis-Mannes handelt. Wie können wir uns eine solche Sichtweise abgewöhnen?


Der springende Punkt bei dem Ganzen ist: niemand ist objektiv und alles ist Identitätspolitik. Die persönliche Selbstwahrnehmung hat einen Einfluss darauf, wie man schreibt und welche politischen Positionen man vertritt. Die Vorstellung, dass im Journalismus weiße, westliche Männer aus der Mittelschicht besonders objektiv sind, muss dringend hinterfragt werden. Ich befürworte einen Journalismus, der Vorannahmen und Einflüsse offenlegt. Ein Journalismus, der versucht, so unparteiisch wie möglich zu sein, hat zwar seine Berechtigung, dazu ist aber eine rigorose Selbstanalyse nötig.

Die Problematik stellt sich aber nicht nur für JournalistInnen.


In der Tat. Die Vorstellung, dass manche Politiken als Identitätspolitiken wahrgenommen werden und andere als reale Politiken, ist beleidigend und eine intellektuelle Bankrotterklärung. Was ist White Supremacy anderes als Identitätspolitik? Was ist Neoliberalismus, wenn nicht Identitätspolitik? Die Vorstellung, dass Politik darin besteht, Änderungen für Individuen herbeizuführen – das ist Identitätspolitik! Eine Widerstandsbewegung muss verstehen, dass, wenn man sich den politischen Positionen anderer widersetzt, man zugleich immer auch eine Bedrohung für deren Identität darstellt. Auch damit muss sich auseinandergesetzt werden.

Ein ähnliches Phänomen lässt sich in der Popkultur beobachten, wenn ein Film erst dann als politisch wahrgenommen wird, wenn es darin beispielsweise um schwarze Menschen geht.


Genau! Es gibt zum Beispiel die Vorstellung, dass „Wonder Woman“ eine politische Agenda hat, „Superman“ jedoch nicht. Dabei ist letzterer ein Imperialist, er verkörpert die amerikanische Denkweise. Haben Sie „Superman: Red Son“ gelesen? Das war eine kurze Comicreihe von DC. Die Prämisse lautet: Stellen Sie sich vor, Superman sei in Sibirien, statt in Kansas gelandet. Auf seiner Kleidung sind Hammer und Sichel abgebildet, was für Wahrheit, Gerechtigkeit und die ewige Ausdehnung des sowjetischen Imperiums steht. Es gibt in den Comics auch eine Batman-Figur, bei der es sich um einen Anarchisten handelt. Es ist wundervoll. Aber ja, die Vorstellung, dass „Superman“ nicht politisch ist, weil es dabei um den idealen weißen Typen geht, ist absurd. Eine der größten Herausforderungen besteht darin, politische Agenden sichtbarer zu machen.

In einem Ihrer Essays schreiben Sie, dass Sie in Ihren frühen 20ern heterosexuelle Beziehungen als Form der Tyrannei ansahen. Sind Sie immer noch dieser Meinung?


Ja, bin ich. Ich denke, es ist schwierig, eine monogame, heterosexuelle Beziehung zu haben, in der nicht in irgendeiner Weise Missbrauch stattfindet. Ich habe das oft beobachten können. Es ist wichtig darüber zu reden. Statistisch gesehen bedeutet die Ehe immer etwas Gutes für Männer. Verheiratete Männer beziehungsweise Männer, die verheiratet waren haben eine höhere Lebenserwartung, ein höheres, stabileres Einkommen, ein niedrigeres Risiko psychisch krank zu werden. Bei Frauen ist das Gegenteil der Fall. Heterosexuelle Monogamie scheint also, allgemein betrachtet, ein ziemlich guter Deal für Männer zu sein. Natürlich kann in einer Partnerschaft potenziell jeder den anderen oder die andere missbrauchen, aber es ist höchste Zeit, dass wir wieder anfangen, diese Dinge zu hinterfragen. Seit den 1990er-Jahren herrscht die Annahme, im Feminismus ginge es darum, dass Frauen alles haben können: Karriere und Familie zugleich. Was aber, wenn du das nicht willst? Fuck it. Im Augenblick will ich meine Karriere mit Star Trek schauen verbinden. Das ist das Leben, das ich will. Das ist meine work-life-balance.

In Ihrem Texten sprechen Sie sich immer wieder für polyamouröse Beziehungsformen aus.


Ich selbst war die meiste Zeit meines Erwachsenenlebens polyamourös. Polyamouröse Beziehungen setzen voraus, dass man darüber redet, was passiert. Bei Polyamorie geht es nicht in der Hauptsache um Sex, sondern darum, dass und wie darüber geredet wird. Diese Konversationen sind das, was Polyamorie zum Beispiel vom Konzept der Freien Liebe der 1960er-Jahre unterscheidet. Ich glaube, auch in homosexuellen Beziehungen finden diese Gespräche öfter statt als in heterosexuellen. Homosexuelle Menschen sind nicht so sehr gewöhnt an Geschichten darüber, wie ihre Beziehungen sein sollten. Sie sind also weniger befangen. Vielen monogamen Menschen käme es zugute, ihre Beziehungen zu queeren, zu problematisieren. Es ist nie gut, darüber zu spekulieren, was eine andere Person fühlt oder will. Am besten, man fragt einfach nach.


Laurie Penny: Bitch Doktrin. Gender, Macht und Sehnsucht

„Hautfarbe, Gender und Sexualität sind in der aktuellen Krise keine untergeordneten Themen. Sie sind Grundlage und Ausdruck der Krise.“ Seit dem Erscheinen von „Fleischmarkt. Weibliche Körper im Kapitalismus“ hat Laurie Pennys Wut nicht nachgelassen. Wie schon in „Fleischmarkt“ geht es auch in „Bitch Doktrin“ um die Entmachtung und Kontrolle weiblicher Körper im Spätkapitalismus, daneben aber noch um diverse andere Themen wie Hate Speech, politische Korrektheit, die Angst vor einer feministischen Utopie und James Bond. Den Kampf für die Rechte ethnischer und sexueller Minderheiten sieht Penny als zentralen Teil der feministischen Bewegung: „Wenn wir Frauen nicht gewinnen, gewinnt niemand. Wenn Queere, an den Rand Gedrängte, Freaks und Außenseiter nicht frei leben können, dann sind unsere Freiheiten das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt wurden.“ Das aber lässt sich, so die britische Journalistin und Autorin, nur durch Widerstand und Solidarität bewerkstelligen. „Bitch Doktrin“ ist all denjenigen zu empfehlen, die sich, wie Penny, eine queerfeministische Revolution wünschen oder sich auch einfach nur einen Überblick darüber verschaffen wollen, was es damit auf sich hat.
Laurie Penny, „Bitch Doktrin: Gender, Macht und Sehnsucht“. Aus dem Englischen von Anne Emmert. Edition Nautilus, Hamburg, 316 Seiten, 18 €.


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