Markt und Werte: Rockstar der Moralphilosophie


Michael J. Sandel kritisiert in „Moral und Politik“ die Neutralität des Staates gegenüber moralischen Fragen und warnt vor der Ausdehnung von Marktprinzipien in alle Bereiche der Politik.

Nimmt die Freiheitsideale des Liberalismus ins Visier: der Moralphilosoph Michael J. Sandel. (Foto: Youtube)

Nimmt die Freiheitsideale des Liberalismus ins Visier: der Moralphilosoph Michael J. Sandel. (Foto: Youtube)

Der moralphilosophische Zugang zu Fragen der politischen Ökonomie hat nicht ausgedient. Wie wichtig solche gesellschaftspolitischen Perspektiven sind, führt unter anderem der amerikanische Philosoph Michael J. Sandel vor Augen. Kritisch greift der Harvard-Professor etwa in seinem jüngst auf Deutsch veröffentlichten Buch „Moral und Politik“ einen Vorschlag des Rechtsprofessors Peter H. Schuck von der Yale-Universität auf. Schuck stellt sich die Einrichtung eines globalen Marktes für Flüchtlingsquoten vor. Ein internationales Gremium soll jedem Land eine Quote zur Aufnahme von Flüchtlingen zuweisen, die auf dem jeweiligen nationalen Wohlstand beruht. Anschließend könnten die Länder dann untereinander mit diesen Verpflichtungen zur Flüchtlingsaufnahme handeln.

Wenn zum Beispiel ein reiches Land wie Luxemburg eine bestimmte Zahl von Flüchtlingen zugewiesen bekäme, diese aber nicht aufnehmen wollte, könnte es ein ärmeres Land dafür bezahlen, sie einreisen zu lassen. Davon, so Schuck, würden dann alle profitieren: Die ärmeren Länder hätten eine neue Quelle für Staatseinnahmen, und Luxemburg würde seinen Verpflichtungen nachkommen, indem es die Flüchtlinge auslagert. Zudem würden die wohlhabenden Länder wahrscheinlich höhere Flüchtlingsquoten akzeptieren, wenn sie sich herauskaufen könnten. Das erinnert stark an die Deals mit Emissionsrechten – und an einen Ablasshandel.

Die Logik des Marktes auf die Flüchtlingsthematik zu übertragen, klingt nicht nur zynisch, sondern ist es auch. Sandel weist darauf hin, dass ein Markt für Flüchtlinge unsere Einstellung zu ihnen verändere. Schucks Idee habe etwas „Widerliches an sich“, denn „Märkte beeinflussen die gesellschaftlichen Normen“. So würden im zitierten Beispiel Flüchtlinge zur bloßen Ware.

Als weiteres Beispiel schildert Sandel, wie in israelischen Kindergärten einige Eltern ihre Kinder zu spät abholten: Daraufhin wurde eine Geldbuße eingeführt, was jedoch die Zahl der verspäteten Abholungen nicht etwa verringerte – im Gegenteil: Sie nahmen sogar zu. Für Sandel ein Beweis dafür, dass finanzieller Druck nicht alles ist.

Sandels Kritik am Neoliberalismus zielt auf eine Wiederbelebung sozialer Fähigkeiten wie Streit und Konflikt.

Ein anderer Fall handelt von einer Umfrage unter Einwohnern einer Schweizer Gemeinde, die entscheiden sollten, ob sie ein atomares Endlager bei sich genehmigen würden, wenn das schweizerische Parlament dies beschlösse. Die Einwohner stimmten mit 51 Prozent zu. Anschließend wurden sie gefragt, ob sie auch zustimmen würden, wenn sie eine jährliche Ausgleichszahlung erhielten. Überraschenderweise führte dies nicht zu einer Erhöhung der Zustimmungsquote. Die Bereitschaft der Bürger halbierte sich sogar von 51 auf 25 Prozent. Doch warum? Geld ist eben nicht alles, argumentiert Sandel. Vielmehr spiegle die Bereitschaft der Bürger, ein Endlager zu akzeptieren, deren Gemeinschaftsgeist wider. Eine Bezahlung werde hingegen als Bestechung begriffen. Die Einführung von Marktnormen verdrängt also den Sinn von staatsbürgerlichen Pflichten.

Der 62-jährige US-Philosoph veranschaulicht, welch praktischen Bezug seine Moralphilosophie hat. In Harvard füllt er riesige Hörsäle, in Südkorea sogar Stadien, und in China soll er angeblich Millionen von Fans haben. In Stuttgart trat er auf dem Evangelischen Kirchentag auf. Sandel gilt als „Popstar der Philosophie“ oder „Rockstar der Moral“ und ähnelt bisweilen einem Motivationstrainer.

Dabei zielt seine Kritik am Neoliberalismus auf eine Wiederbelebung sozialer Fähigkeiten wie Streit und Konflikt. Er analysiert, wie die Moral ihm zufolge aus dem politischen Diskurs verschwand. Für Sandel liegt dies vor allem am Erfolg nicht nur des Neoliberalismus, sondern des liberalen Theoriemodells des 2002 verstorbenen John Rawls, dessen meistbeachtetes Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ 1971 erschienen ist. Rawls‘ Konzept vom „Schleier des Nichtwissens“ habe den Streit um moralische Fragen aus der Politik verbannt. Liberale seien „allergisch gegen den Begriff der Werte“, behauptet Sandel. Das habe zu einem moralischen Vakuum geführt, „das leicht mit intoleranten moralistischen Stimmen gefüllt werden kann.“

Sandel nimmt die Freiheitsideale des Liberalismus ins Visier. „Die Menschen wollen, dass es im öffentlichen Leben um größere Dinge geht, um Werte und Überzeugungen“, schreibt er. „Wer so tut, als könnte man neutral sein, erzeugt Ressentiments, weil die Leute merken, dass ihre Ansichten unter den Teppich gekehrt werden.“ US-Präsident Barack Obama habe in seiner Präsidentschaftskampagne 2008 und in der ersten Phase seiner Amtszeit immerhin die „moralische Sehnsucht“ der Menschen verstanden. Dass er sie danach nicht erfüllen konnte, stehe auf einem anderen Blatt.

Sandel unterzog Rawls Theorie eines individualistischen Liberalismus bereits 1982 in seinem Buch „Liberalism and the Limits of Justice“ einer Kritik. Diese griff er später unter anderem in dem 2013 auf Deutsch erschienen Buch „Gerechtigkeit“ wieder auf. Basierend auf seinen Einführungskursen an der Uni, stellt er unterschiedliche Konzepte von Gerechtigkeit darin vor. Von den Utilitaristen, für die das größte Glück der größten Anzahl von Menschen das grundlegende Kriterium des moralischen Handelns bedeutet, bis zu den Ideen Immanuel Kants oder Rawls – Sandel lockert seine theoretischen Diskurse immer wieder mit Beispielen aus dem Alltag auf.

Er plädiert für eine Politik, die nach den Vorstellungen des guten Lebens sucht und anschließend diese in Gesetze einfließen lässt. Als Vorbild dient ihm Aristoteles mit dem Diktum, das Ziel von Politik sei das gute Leben. Anleihen an Aristoteles nahm bereits der schottische Philosoph Alasdair MacIntyre in seinem 1981 publizierten Buch „After Virtue“ (dt. „Der Verlust der Tugend“, 1995). MacIntyre ist wie Sandel und dessen philosophischer Lehrvater, der Kanadier Charles Taylor, ein Hauptvertreter des Kommunitarismus, die eine stärkere Besinnung auf Werte wie Gemeinsinn und Solidarität einfordern.

Menschliche Identität und menschliches Handeln sind nicht möglich ohne die intersubjektive Akzeptanz, schreibt etwa Taylor in „Negative Freiheit“ (1988). Er kritisiert die neuzeitliche Idee von der menschlichen Freiheit und dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen als verkürztes Menschenbild. Werte-
relativismus und ein „Individualismus der Selbstverwirklichung“ machten es unmöglich, moralische Streitfragen zu lösen.

„Allein in politischer Gemeinschaft“, sagt Sandel, darin Aristoteles folgend, „können wir unsere spezifisch menschliche Sprachfähigkeit ausüben, denn nur in einer Polis beraten wir uns mit anderen über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit und die Natur des guten Lebens.“

„Antike Theorien zur Gerechtigkeit beginnen mit Tugend, moderne mit Freiheit“, so Sandel. Ihm geht es um eine moralische Ausrichtung der Politik. Dabei sind seine Ideen wenig revolutionär, sollen es auch gar nicht sein. Statt der Quoten für Flüchtlinge und eines „menschlichen“ Emissionshandels fordert er, die Ursachen der Flucht zu bekämpfen. Die Flüchtlingsfrage ist folglich nichts anderes als eine Frage der Gerechtigkeit. Derweil beobachtet er, wie der Glaube an den Markt die moralischen Werte abgelöst hat und die Ausdehnung des marktkonformen Denkens die Unterscheidung zwischen Marktdenken und moralischem Denken erschwert.

Ein ums andere Mal liefert Sandel konkrete Beispiele, was auch eine Stärke des Buches ist, obwohl viele Beispiele dem US-amerikanischen Kontext verhaftet bleiben. Aufbau und Stil geben den Duktus seiner Vorträge wider. Sandel vereinfacht, veranschaulicht – doch auf philosophischer Ebene ergibt diese Ansammlung nicht viel Neues. Als philosophisch orientierte Anregung für politische Debatten kann das Buch aber eine nützliche Hilfestellung sein. Ein moralischer Diskurs, lehrt uns Sandel, muss nicht im Widerspruch zu einer liberalen und pluralistischen Gesellschaft stehen. Er kann sie ergänzen und bereichern. Denn schließlich beruht das liberale Denken selbst auf moralischen Werten.

Michael J. Sandel: Moral und Politik. 
Aus dem amerikanischen Englisch von Helmut Reuter. Ullstein Verlag, 351 Seiten.

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