Max und Willy Goergen
: Schreiben gegen 
die Revolution


Die zwei fundamentalen Ereignisse des Jahres 1917 – der Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg und die Russische Revolution – lösen auch in Luxemburg umfangreiche mediale Deutungsprozesse aus.

Ansicht des großherzoglichen Palais vom 10. Januar 1919 und handschriftlicher Hinweis auf die „révolution (non sanglante) à Luxembourg“ auf einer zeitgenössischen Postkarte. (Foto: unbekannt. Privatsammlung)

Während die Stationierung amerikanischer Besatzungstruppen im Großherzogtum (November 1918 bis Juli 1919) zur Entstehung eines voluminösen Literaturbestandes führt, widmet sich eine bedeutend kleinere Anzahl von Texten jenen Entwicklungen, die, dynamisiert durch die gewaltsamen Umbrüche im Osten, das Land kurzzeitig, jedoch umso heftiger erfassen. In der literarischen Repräsentation dieser historischen Gemengelage spielen die Schriftsteller Willy und Max Goergen, Vater und Sohn, eine besonders prominente Rolle.

Revolutionswinter 1918-1919

Weit davon entfernt, das zerrüttete öffentliche Leben zu stabilisieren, entlässt der Waffenstillstand Luxemburg vielmehr in einen Zustand akuter Krise. Vor dem Hintergrund einer deutlichen Radikalisierung der politischen Meinung sowie der militanten Emanzipationsbestrebungen verschiedener sozialer Schichten und Berufsgruppen, erweisen sich differente politisch-ideologische Orientierungen, die die Gestaltung der Zukunft betreffen, als zunehmend unvereinbar. So wird einerseits der Anschluss Luxemburgs an die Nachbarländer Frankreich oder Belgien erwogen, andererseits dem Fortbestand der Monarchie die Forderung nach Einführung einer republikanischen Ordnung entgegengesetzt. Die Großherzogin Marie Adelheid, deren Entscheidungen den Siegermächten nicht lediglich als Beweis persönlicher Germanophilie, sondern zugleich als Bekenntnis Luxemburgs zur Politik des deutschen Aggressors gelten, wird von französischer Seite zum Thronverzicht gedrängt. Im Inland fordern unterdessen republikanische Kreise die Absetzung der Dynastie insgesamt. Das Escher Tageblatt veröffentlicht bereits am 8. November 1918 einen anonymen Beitrag mit dem Titel Der Abend der Braganza, der unter Anspielung auf revolutionäre Ereignisse andernorts das baldige Ende der bisherigen Verhältnisse ankündigt: „Anzeichen deuten darauf hin, daß der Veitstanz der Kronen, der wie eine zweite spanische Krankheit im Osten bereits manchen dieser Kleinodien über die Straße rollen ließ, auch unsere Gegenden in seinen Bereich zu ziehen anfängt.“ Die hier angekündigte Entwicklung tritt ein, als am 19. Dezember die Abgeordnetenkammer mit nur knapper Mehrheit gegen die sofortige Einführung der Republik entscheidet. Die Lage verdichtet sich im Verlauf der kommenden Wochen dahingehend, dass am 9. Januar 1919 die neugegründete Action républicaine die Bildung eines Wohlfahrtsausschusses bekannt gibt und die Republik ausruft. Zur gleichen Zeit nehmen die Reformbestrebungen der in Luxemburg-Stadt kasernierten Freiwilligenkompanie eine zunehmend antidynastische Färbung an: Während die Soldaten ursprünglich eine allgemeine Statusaufwertung des Verbandes anstreben, die auch revolutionär-egalitäre Handlungsmöglichkeiten wie die freie Offizierswahl umfassen sollte, schließen sie sich nun unter der Führung des Feldwebels Emile Eiffes den Revolutionskräften an und unterstützen deren Forderung nach der Gründung der Republik. Erst das Eingreifen französischer Besatzungstruppen ermöglicht der Regierung die Rückkehr in die Kammer. Trotz der weitgehenden Wiederherstellung des Status quo muss Marie Adelheid, innen- und außenpolitisch isoliert, am selben 9. Januar zugunsten ihrer Schwester Charlotte abdanken.

Revolution vs. Agrarismus

Ebendiesen Teilaspekt der historischen Situation an der Jahreswende 1918-1919 greift Max Goergen in der Erzählung Der Rebell (1925) auf. Es wird jedoch rasch deutlich, dass der ereignishistorische Kontext dem Autor lediglich als Kulisse zur Entfaltung seines bevorzugten Themas dient, nämlich der dörflichen Lebenswelt mit ihren Sozial- und Mentalitätsstrukturen. Die unübersehbar ideologische Ausrichtung des literarischen Ausdrucks erklärt sich vor allem aus Goergens Nähe zum Luxemburger Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege (Landwûol). Konstitutiv für dessen Profil ist ein militanter Agrardiskurs, der auch im übrigen Europa der Zwischenkriegszeit seine Mobilisierungsfähigkeit unter Beweis stellt. Teil dieses Ideenkomplexes ist das – in einem Land an der Schwelle zur Vollindustrialisierung utopisch anmutende – Vorhaben zur Neubesiedlung des ländlichen Raums; diese hält man für das geeignete Mittel, die demographischen und sozialen Missstände der modernen Industriegesellschaft zu beheben. Die dezidierte Absage an die expandierende Landflucht nimmt auch in Goergens Werk eine zentrale Stelle ein, die „Rückkehr zur Scholle“ erscheint als unerlässliche Bedingung der persönlichen bzw. nationalen Identitätsfindung. Die Übereinstimmung der Handlungsführung und Personenzeichnung mit der Programmatik des Landwûol, die den moralischen Nutzen der Reagrarisierung für das Einzelindividuum und die Gesamtgesellschaft gleichermaßen postuliert, ist dabei unschwer zu erkennen.

Die Hauptfigur der Erzählung ist Jäng, ein an den Unruhen beteiligter Kadett der Freiwilligenkompanie. Zur Bewertung seines Aufbegehrens gegen die bestehenden Macht- und Gesellschafsstrukturen verwendet der Schriftsteller ein komplexes und nuanciertes Stilmittelregister; so erklärt die phonetisch kontaminierte Form ‚Ravelaßion‘ revolutionäre Bestrebungen schon aus linguistischer Warte zu einem mit der Kultur und Ethik des Bauernstandes unvereinbaren, sich selbst der korrekten Verbalisierung entziehenden Phänomen. Es überrascht daher kaum, dass Jängs divergentes Verhalten auf der Grundlage des Gegensatzes von Stadt und Land und somit von Landwirtschaft und anderen Bereichen der sozialen Produktion gedeutet wird: „Da hast du’s mit deiner Stadt! […] Die Kinder verderben, das bringen sie noch fertig. […] Unser Jäng ist ein ‚Roter‘, ein Ravelaßionär!“ Aus dieser Sichweise pervertiert die Urbanität die intimsten menschlichen Lebensbereiche; so erscheint es nur folgerichtig, dass die Mutter des Protagonisten, als sie ihren Sohn aus der Hauptstadt heimbringen will, diesen in einem Bordell vorfindet. Der Agrarideologe Goergen begnügt sich jedoch keineswegs damit, die Revolution in sexuelle Ausschweifungen ausarten zu lassen und auf diese Weise sittenmoralisch zu diskreditieren. Mit der Rückkehr des Rebellen ins Dorf führt er vor, wie revolutionäre Zustände, obwohl mit der Agrarordnung gänzlich unvereinbar, dennoch in ihrem Sinne produktiv gemacht werden können. Volle Glaubwürdigkeit erlangt Jängs Rekonversion zum ruralen Wertekatalog durch die Erneuerung seiner Verbindung mit dem Bauernmädchen Sisy. Wie wichtig dieses Moment vollständiger Resozialisierung ist, macht die von Pierre Blanc besorgte Illustration der Erstveröffentlichung deutlich, die das junge Paar vor dem Hintergrund eines erntereifen Feldes zeigt – Sinnbild einer zu agrarkonservativen Zwecken vereinnahmten und auf diese Weise domestizierten Revolution.

Pierre Blanc: Illustrationen zu Max Goergens Erzählung Der Rebell. Unten die Darstellung des ins Heimatdorf zurückgekehrten Protagonisten. (On: Luxemburger landwirtschaftlicher Genossenschaftskalender 9 (1925), S. 37)

Revolution vs. Klerikalismus

„Sie dachte gleich, ihr Junge werde es jetzt auch so bunt treiben wie die ‚Buschtewicken‘, von denen sie all die Winterabende hindurch die gruseligsten Geschichten erzählt hatten.“ In diesem Passus aus der Erzählung Der Rebell verdichtet sich die Verunsicherung (bildungs)bürgerlicher Kreise durch die gesellschaftlichen Umwälzungen zum Schreckgespenst des Bolschewismus, den Goergen, ebenfalls durch den Gebrauch der deformierten Phonetik, zu einem nicht-luxemburgischen Phänomen erklärt. Tatsächlich kursiert der Bolschewikenbegriff im Winter 1918-1919 in weiten Teilen der einheimischen Presse, wobei sein prägnantestes Merkmal gerade die weitgehende Bedeutungsunschärfe ist. So unterzeichnen einerseits Autoren linksgerichteter Publikationsorgane, wie der Gewerkschaftszeitungen Die Volksstimme oder Der Gewerkschaftler, ihre kapitalismuskritischen Beiträge häufig mit der Selbstbezeichung „Ein Bolschewik“. Damit kontrastiert augenfällig die Berichterstattung der konservativen und liberalen Presse, vor allem des Luxemburger Wortes, z.B. in einem Artikel vom 25. November 1918. Die Tatsache, dass die Ausführungen dort nicht die republikanische Bewegung, sondern die annexionistische Ligue française betreffen, führt überzeugend die semantische Dehnbarkeit des Terminus vor Augen: „Wir sind bei den paar Luxemburger Bolschewisten! Kein Wort der Verurteilung ist stark genug, um uns gegen ihren Landesverrat zu erheben.“ Dass es sich beim Bolschewismus um ein nahezu unbegrenzt einsetzbares Passepartout-Wort handelt, erkennt indes hellsichtig Die Schmiede in einem Beitrag vom 15. November 1919: „Wenn ein Arbeiter hier in unserem Herrgottsländchen einen Vorgesetzten auf eine Ungerechtigkeit aufmerksam macht, oder sonst eine gerechte Forderung verteidigt, gleich heißt es: ‚der Bolschewik‘. Setzt ein Arbeitervertreter in der Kammer all seine Energie ein, um eine ganz selbstverständliche Forderung durchzubringen, gleich schreien alle reaktionären Elemente: ‚der Agent des Bolschewismus‘. […] Deshalb auch wird in der gesamten Presse der Bourgeoisie der Bolschewismus als der Inbegriff alles Schändlichen und Unmöglichen hingestellt.“

Dieser Tendenz entspricht vollständig Willy Goergens Gedicht De Bolschewik (1918), in dem die Fülle stereotyper Qualifizierungen durchaus an das vom Kulturtheoretiker Homi Bhabha beschriebene ‚manichäische Delirium‘ erinnert: Dem Bolschewiken werden Arbeitsscheu, Selbstgefälligkeit, Werteunterwanderung, gezielte Irreführung der Massen, Perfidie usw. attestiert. Die letzte Strophe bedient sich überdies tief aus dem Fundus religiöser Denkfiguren, indem sie dem Agitator einen Pakt mit dem Teufel bescheinigt: „Si sti mam Deiwel all am Bond / A briechten d’Hémecht op den Hond. / Fort mat dem Bolschewik!“ Auf welche konkreten Geschehnisse sich dieser Text bezieht, bleibt letztlich unklar; anzunehmen sind nicht nur die revolutionären Unruhen nach Verkündigung des Waffenstillstandes, sondern auch Entwicklungen und Ereignisse der Jahre zuvor – etwa die Linksradikalisierung der Luxemburger Sozialdemokratie ab 1916, die Begrüßung der Sowjetordnung durch einige Abgeordnete in der historischen Kammersitzung vom 24. April 1917, die Streikbewegung in den Industriezentren Esch und Differdingen im Juni desselben Jahres bzw. die mit ihr einhergehenden Anfänge der organisierten Arbeiterbewegung sowie nicht zuletzt die Oktoberrevolution selbst. Fest steht jedoch, dass Goergens Lyrik den Bemühungen proletarischer Schichten um politische und soziale Teilhabe gewohnheitsmäßig ablehnend gegenübersteht. Der gesellschaftlichen Revision im Sinne einer Umverteilung des Besitzes zieht der Schriftsteller entschieden den karitativen Ausgleich vor; dementsprechend ermahnen zahlreiche seiner Gedichte das Kapital an seine Wohlfahrtspflicht gegenüber der Arbeiterschaft, wobei sie nicht versäumen, neben der symbolischen auch die ökonomische Rentabilität der Karitas zu unterstreichen. Aufschlussreich ist z.B. En Ârmeleitslidd (1915), in dem der Dichter vordergründig die Funktion eines Sprachrohrs des Proletariats übernimmt, de facto jedoch bestehende hierarchische und gesellschaftspaternalistische Strukturen nicht nur befürwortet, sondern auch ästhetisch sublimiert. Diese Denkhaltung ist mit hoher Wahrscheinlichkeit im Wirkungsbereich der katholischen Soziallehre, besonders der Enzyklika Rerum novarum (1891) zu situieren, die die Lösung sozialer Missstände ohne eine Egalisierung der Besitzverhältnisse anstrebt und mit der verbindlichen Festlegung von Rechten und Pflichten der Arbeiter und des Patronats einen autoritativen Lösungsansatz der Arbeiterfrage anbietet. Dabei setzt die emphatische Hervorhebung der Wohlfahrt die Kirche als Mediationsinstanz zwischen den Klassen ein und sichert ihr so den normativen Anspruch auf die Gestaltung gesellschaftlicher Vorgänge.

1926 wird Goergen die Figur des Bolschewiken im Gedicht Mir hale fèst aktualisieren. Erschienen zu einer Zeit, als sowohl der spürbare Wirtschaftsaufschwung mit wachsender Beschäftigung als auch die zunehmende Dialogbereitschaft der Gewerkschaften und die Reorganisation der Arbeitervertretung durch die Gründung bzw. Wiedereinführung von Berufskammern und Arbeiterdelegationen in den Betrieben die Spannungen der vergangenen Jahre allmählich glätten, lässt dieser Text eher auf das Weiterbestehen binärer Deutungsmuster im Denkhabitus des Autors schließen als auf die Fortdauer gesellschaftlicher Polarisierungsprozesse. Bei näherer Betrachtung bestätigt seine Aufnahme in die stark konfessionell ausgerichtete Sammlung D’Klacke lauden. Fromm Lidder a Gedichter und die Verknüpfung des Bolschewikentopos mit demjenigen der als wirksames Gegenmittel erachteten Religion die konsequente literarische Umsetzung ultramontanen Gedankenguts. Folglich verwundert es nicht, dass der Dichter damit inkompatible revolutionäre Prozesse in der Weise aus dem Großherzogtum externalisiert, dass der (atheistische) Bolschewik aus peripheren Regionen, möglicherweise der Sowjetunion, ins katholische Land einzudringen versucht: „De Wullert wëllt sech rân hei schmoggeln / Mat Schmêchlen an all Deiwels-trick. / Mé halte-là! hei gëllt kê Mogeln: / ‚Bass du Guttfrend oder Bolschewik?‘“ Wie die folgenden Strophen immer deutlicher zu verstehen geben, kann seine Abwehr lediglich mithilfe der Kirche als oberster moralischer Lenkungsinstanz gelingen; so wird nicht nur die Unverzichtbarkeit des Klerus bei der Lösung sozialer Fragen unterstrichen, sondern auch der katholische Konfessionalismus öffentlichkeitswirksam mit dem Narrativ der Heimattreue verbunden: „Am Num vun Dém, dén operstânen, / Gi mir un d’Schaff mat jongem Mutt; / Da gêt de be’se Gêscht zu schânen / An d’Hémecht bleiwt gesond an gutt.“ Dieses Beispiel lässt einmal mehr Strategien erkennen, mit deren Hilfe revolutionäre Ideologeme einem weltanschaulichen Rigorismus dienstbar gemacht werden, der für weite Teile der damaligen Luxemburger Kulturproduktion noch charakteristisch war; Max und Willy Goergen zählen sicherlich zu seinen exponiertesten Vertretern.

Der vorliegende Text ist eine Kurzfassung des Artikels „Bass du Guttfrend oder Bolschewik?“. Revolution und Restitution im Werk der Schriftsteller Willy und Max Goergen. In: Fundstücke = Trouvailles 2014/2015. Hg. von Claude D. Conter. Mersch: Centre national de littérature 2016, S. 88-109.

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