Nachtzug nach Lissabon (3)

Lissabon ist nicht nur die Hauptstadt einer noch recht jungen Republik, sondern auch Schauplatz einer komplexen Vergangenheit. Teil 3 der Mini-Serie über Lissabon geht ihren Spuren nach.

In der Frühstücksbäckerei um die Ecke fallen mir erst beim zweiten Besuch die etwas vergilbten Fotos auf, die die Wände zieren. Es sind historische Darstellungen, bestimmt fast ein Jahrhundert alt. Sie zeigen ein älteres Paar – sie, hochgewachsen, in eleganten Roben, er, etwas pummelig und mit einem gezwirbelten Schnurrbart, in Uniform – in verschiedenen feierlichen Kontexten: in einer Kutsche, auf einer Tribüne, usw. Ich frage mich naiv, ob es der frühere Bäckermeister sein könnte, vielleicht der Unternehmensgründer. Beim Zahlen spreche ich die Verkäuferin neugierig auf das abgebildete Paar an. „Os reis!“ ruft sie etwas barsch, das Königspaar! Nun erst geht mir ein Licht auf: Auf den Fotos werden also Don Carlos I und Amalia, und mit ihnen die letzten Tage der Monarchie dargestellt, die 1910 durch die Ausrufung der Republik abgeschafft wurde. Die Nostalgie ist eigentlich wenig überraschend, denn im Stadtbild sind die den Monarch*innen gewidmeten Monumente, Plätze und Straßen Legion.

Während ich in San Sebastian mitten im Stadtzentrum über ein Denkmal zur Erinnerung an die Gefallenen im Kampf gegen General Francos Truppen im Spanischen Bürgerkrieg gestolpert war, muss man in Lissabon dagegen aktiv suchen, um Denkmälern oder architektonischen Verweisen auf die Nelkenrevolution zu begegnen, wie etwa eine Tafel im Bahnhof Santa Apolonia oder das Monument von João Cutileiro im Park Eduardo VII.

Quelle: Wikipedia, Matthew Robey from Bristol, UK – Lisbon – Belem Tower

Ein strategisch gut gelegenes Denkmal dagegen ist das „Monumento aos Combatentes do Ultramar“ am Flussufer in Belém. Ursprünglich zur Erinnerung an die in den Kolonialkriegen gefallenen portugiesischen Soldaten gedacht, wurde es später allen gefallenen Soldaten gewidmet, „die im Dienste Portugals starben“, eine mehr oder minder elegante Manier, Diskussionen um Portugals koloniale Vergangenheit zu umschiffen. Denn Konfliktpotenzial gäbe es durchaus, denkt man etwa an die gar nicht so entfernte Zeit des portugiesischen Kolonialismus, der erst mit der Nelkenrevolution zu Ende ging.

Auch die Rolle Portugals beim Sklavenhandel wird gerne heruntergespielt. Neuerdings sorgen solche Themen allerdings für mehr Aufmerksamkeit in Wissenschaft und Presse. So kritisiert die Journalistin Fernanda Câncio im „Diário de Notícias“ den Historiker João Pedro Marques, der die Kritiker*innen an der herkömmlichen Geschichtsdarstellung als „Flagellanten von Portugal“ und „politisch korrekte Geister“ darstellt.[1] Und die Historikerin Irene Flunser Pimentel, die sich mit den Verbrechen von Salazars Sicherheitspolizei Pide, die auch in den einstigen Kolonien aktiv war, beschäftigt hat, schreibt: „Die Tabus zu Fragen der portugiesischen Kolonisierung, einschließlich Rassismus, sind noch latent.“[2]

Diese Sprachlosigkeit der portugiesischen Gesellschaft erkennt man auch bei anderen Themen. In einem Magazin-Artikel lese ich: „Die Welle der #MeToo-Bewegung hat in Portugal ein Meer des Schweigens provoziert.“ Den Grund für dieses gesammelte Schweigen sieht der Soziologe Bernardo Coelho in dem geschlossenen portugiesischen Arbeitsmarkt, auf dem sich die Menschen gegenseitig kennen, wo es viele Abhängigkeiten und Verflechtungen gibt“.[3]

Einige Tage später besuche ich den nahegelegenen, hübschen Badeort Cascais, der übrigens mit der Schnellbahn auch für Zugreisende leicht erreichbar ist. In der Haupturlaubszeit sind die Strände allerdings völlig überlastet, weshalb ich dem Rat meiner Portugiesischlehrerin folge und, auch per Bahn, den etwas ruhigeren kleinen Strand von Praia das Avencas aufsuche. Das Wasser des Atlantiks ist allerdings auch mitten im Sommer noch eiskalt, was die Einheimischen aber keinesfalls davon abhält, inmitten der Wellen einen längeren Plausch miteinander zu halten.

Am Tag darauf sehe ich mir das von Architekt Eduardo Souto de Moura entworfene und 2009 in Cascais eröffnete Museum „Casa das Historias Paula Rego“ an. Die in Lissabon geborene, aber in London lebende Malerin hat sich durch ihre künstlerische Auseinandersetzung und moderne Reinterpretation von Volkssagen einen Namen gemacht.

Angel (1998) von Paula Rego. Quelle: Flickr

Doch Rego setzte sich bereits zu Zeiten Salazars mit der Diktatur auseinander, und ihre Auseinandersetzung mit Machtstrukturen findet man ebenfalls in ihren Familien- und Liebesszenen: Immer geht es um Macht, Gewalt und Furcht, aber auch um Verführung und Transgression. Rego ist so zu einer Art attitrierten Tabubrecherin in der portugiesischen Gesellschaft geworden, die jedoch weiterhin an ihrer eigenen Sprachlosigkeit krankt. (Schluss folgt)

[1] Câncio, Fernanda: Portugal, a escravatura e o „historicamente correto“. In: Diárioo de Notícias, 29.7.2018, S. 10.
[2] Carlos, João: Historiadora defende “Comissão da Verdade” para esclarecer crimes coloniais em África. In: https://p.dw.com/p/2mhVL. Flunser Pimentel, Irene: O caso da Pide. Foram julgados os principais agentes da Ditadura portuguesa? Lissabon 2017.
[3] Bernardino, Carla: O amor depois do #MeToo. In: https://www.delas.pt/como-engatar-sem-arriscar-uma-acusacao-de-assedio.

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