Nation: Was ist das Problem?

Seit jeher wird das Konzept der „Nation“ kontrovers diskutiert. Eine hierzulande in den sozialen Netzwerken kürzlich entstandene Polemik zeigt, dass es zwar viele Meinungen gibt, aber vor allem unbeantwortete Fragen.

Das „Antinationale Fest“ in der „Gantenbeensmillen“ der Jonk Lénk war als Safe Space und Gegenverantstaltung zum traditionellen Nationalfeiertag angelegt. (Foto: Jonk Lénk)

Manchmal kommt das Festhalten an bestimmten Werten und Traditionen erst dann besonders zum Vorschein, wenn diese als bedroht wahrgenommen werden. Beim Luxemburger Nationalstolz wird dies immer wieder sichtbar, wenn es darum geht, ein wenig von „luxemburgischen Traditionen“ abzurücken: beim Referendum zum EinwohnerInnenwahlrecht, bei Diskussionen rund um den jeweiligen Stellenwert der offiziellen Landessprachen, oder auch, wie zuletzt, als die Jonk Lénk die Daseinsberechtigung des Nationalfeiertags öffentlich in Frage stellten. In den darauffolgenden Tagen wurde, vor allem in den sozialen Netzwerken, hitzig über das Thema diskutiert.

Auslöser für die Polemik war weniger die inhaltliche Position von Jonk Lénk. Vor allem auf drei Sätze bezog sich die allgemeine Empörung: „Fick den Großherzog! Fick Luxemburg! Fick den Kapitalismus!“. Es wurde – zurecht – kritisiert, dass es sich dabei um eine sexualisierte, machistische Sprache handelt. Mit einer solchen Ausdrucksweise hätten Jonk Lénk verhindert, dass eine konstruktive Diskussion habe entstehen können. Darüber hinaus war aber auch immer wieder von Diffamation die Rede, in manchen Kommentaren sogar von „Aufruf zum Hass“. Gespickt war die Kritik von durchgehender Jugendfeindlichkeit.

Dennoch wurde in den Diskussionen sporadisch auf Konzepte wie „Nation“ und „Grenzen“ Bezug genommen. Dabei schälten sich mehrere Positionen heraus. Zu glauben, es gäbe nur die BefürworterInnen des Nationalfeiertags auf der einen und dessen GegnerInnen auf der anderen Seite, wäre also verfehlt. Spannende Fragen, die sich daraus ergeben: Wie wurde argumentiert? Welche Bedeutung haben Nation und Nationalfeiertag für die Diskussionsteilnehmenden? Welche positiven bzw. negativen Assoziationen sind mit diesen Konzepten verbunden?

Zunächst ein paar Worte zum Kontext, in welchem die Polemik sich entfaltete: Am 22. Juni – also am Vorabend von Nationalfeiertag – hatten Jonk Lénk zu einem „Antinationalen Fest“ eingeladen. Bei dieser Veranstaltung wurde eine Rede gehalten, während der die bereits zitierten Sätze fielen. Zwei Tage später veröffentlichte die Jugendorganisation den Text auf ihrer Facebook-Seite. Parallel dazu hatte sie eine Broschüre zum Thema „Nation“ ausgearbeitet, welche auf ihrer Internetseite zu finden ist. Durch diese drei Aktionen machte die Organisation ihre Position deutlich. Auf eine breite Reaktion stieß aber allein die Rede.

Was ist Nation?

Aus der Sicht von Jonk Lénk steht „Nation“ für Ausgrenzung und Rassismus. Es gehe dabei immer darum, ein „wir“ zu schaffen, das sich von anderen abgrenzt. Die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen der Bildung von Nationen und rassistischen Tendenzen ist umstritten. Auf der einen Seite wird die Ansicht vertreten, dass bereits der Prozess der Identitätsbildung, der eine Abgrenzung vom anderen beinhaltet, Rassismus hervorbringe. Dieser Sichtweise zufolge wird im Entstehungsprozess einer Nation also zwangsläufig Rassismus hervorgebracht. Auf der anderen Seite wird davon ausgegangen, dass es dazu noch zusätzlicher Bestimmungen bedarf, die nicht notwendig in jedem Verständnis von Nation enthalten sind. Dazu zählt etwa die Vorstellung, dass allen BürgerInnen einer Nation ein gemeinsamer Ursprung oder die gleiche Ethnizität zugrunde liegen. Nation wird hier als Gemeinschaft verstanden, die schon immer die gleiche Kultur, Sprache, Religion und Geschichte hatte. Nach dieser zweiten Auffassung führt das Verständnis von Nation als rein politischem Zusammenschluss noch nicht zu Rassismus.

In der theoretischen Auseinandersetzung hat die Frage, ob Xenophobie zu Nationen oder Nationen zu Xenophobie führen durchaus ihre Berechtigung. In der Praxis lässt sich jedoch nur schwerlich eine solche Trennlinie ziehen. So spricht der britische Politologe Anthony Smith von der Nationalisierung als keinem einmaligen Akt, sondern als einem Prozess. Die Behauptung von Homogenität und einer damit einhergehenden kollektiven Identität muss demnach immer wieder hergestellt werden, und zwar, wie es Smith formuliert, durch Vereinheitlichung, Einschluss und Ausgrenzung. Für Jonk Lénk manifestiert sich die Praxis der Abschottung insbesondere an den Grenzen, entlang derer „Frontex für uns patrouilliert“. Dementsprechend fange der Prozess der Nationalisierung also nicht erst im eigenen Land an, sondern beginne bereits im Mittelmeer. Aus all diesen Gründen wünschen Jonk Lénk sich die Abschaffung von Nationen und Grenzen.

In den Facebook-Kommentaren zu der Rede von Jong Lénk ist zum Teil eine deutlich positivere Auffassung von Nation und Grenzen zu erkennen. So schreibt zum Beispiel ein User, Nation sei der Grundstein einer funktionierenden Gesellschaft. Im anderen Falle drohe Anarchie. Ist damit gemeint, dass ohne Nationen keine Demokratie denkbar wäre?

Mit dieser Ansicht steht der Kommentator jedenfalls nicht alleine da, wird sie doch unter anderem auch von dem im April verstorbenen US-Politologen und Autoren Benjamin Barber vertreten. Dieser sah in der Nation den natürlichen Raum für soziale Solidarität und Demokratie. Ganz konkret sei Patriotismus eine notwendige Voraussetzung für den Zusammenhalt und das soziale bzw. politische Engagement der StaatsbürgerInnen. Dabei meinte er aber explizit nicht nationalen Patriotismus, sondern „Städtepatriotismus“, welcher seiner Meinung nach nicht auf Ausgrenzung beruhe.

„Anarchie“ ist vielleicht aber auch in einem weiteren Sinne als Krieg aller gegen alle gemeint. So war Philosoph John Locke der Ansicht, dass in menschlichen Gesellschaften ohne staatliches Machtmonopol das Recht des Stärkeren herrsche. Der Nationalstaat bewahre den Menschen vor seinem Geltungs- und Machtstreben und garantiere dadurch Frieden. Ohne Grenzen fänden wir uns wieder in der Steinzeit vor, heißt es in einem anderen Facebook-Kommentar. Ist hier „Steinzeit“ in einem ähnlichen Sinne gemeint wie im vorigen Kommentar „Anarchie“? In beiden Kommentaren scheint jedenfalls eine Angst vor dem Verlust bestimmter moderner Errungenschaften durch.

Ein Verständnis von einer positiven Wirkkraft von „Nation“ ist auch in weiteren Beiträgen erkennbar. So zum Beispiel, wenn es an einer Stelle heißt, der Staat schütze die Grundrechte, Grenzen garantierten die Freiheit. Die positiven Auswirkungen des Nationalstaats, die in oben erwähntem Kommentar nur vage als „funktionierende Gesellschaft“ bezeichnet wurden, werden hier konkret benannt: Der Nationalstaat garantiert Rechte und Freiheit. Weiter gedacht bedeutet dies, dass alle BürgerInnen einer Nation dieselben Rechte und Freiheiten genießen. Nach dieser Auffassung steht die Nation als politisch begründeter Zusammenschluss im Vordergrund, bei welchem die Herkunft und Ethnizität der StaatsbürgerInnen keine Rolle spielt. Öffnet man die Grenzen, so scheint der User nahezulegen, geraten manche dieser Rechte in Gefahr. Es stellt sich die Frage, wie dieser User eine Nation bewertet, in welcher manche Rechte nur einem Teil der Bevölkerung zukommen.

An Nationalfeiertag ist die Hauptstadt traditionellerweise mit rot-weiß-blauen Fahnen geschmückt. (Foto: Wikimedia Commons)

Auch die Initiative „Wee2050/Nee2015“ reagierte auf ihrer Facebook-Seite auf den Post von Jonk Lénk. Inhaltlich wird sich allerdings nur wenig zu den von der Jugendorganisation angesprochenen Themen geäußert. Es wird lediglich ein Zusammenhang hergestellt zwischen einer Kritik an der Monarchie und dem Wunsch, dass Luxemburg seine Identität verlieren solle. Innerhalb der Facebook-Diskussion wurde die Monarchie bzw. Großherzog Henri meist nur im Zusammenhang mit dem sexualisierten Sprachgebrauch von Jonk Lénk angesprochen. Zu den wenigen inhaltlichen Aussagen zählt etwa jene, wonach „unsere Monarchie ein Garant gegen die Radikalisierung des Staates“ sei oder dass es Luxemburg ohne Monarchie wahrscheinlich noch schlechter gehe. Auch Jonk Lénk hatten in ihrer Rede die monarchische Staatsordnung als „Symbol der Nation“ thematisiert. Der Großherzog wurde mit Herrschaft, Ungleichheit und Aristokratie assoziiert.

Auf ihrer Internetseite argumentiert die Initiative Wee2050, das Land habe für die „Souveränität Luxemburgs“ viele Opfer erbringen müssen. Die Souveränität aufzugeben, – Wee2050 zufolge das Resultat einer Entscheidung für das „Ausländerwahlrecht“ – würde das Ende einer Nation bedeuten. Sprachlich wird hier ein Bezug zur Abwendung von Fremdbestimmung hergestellt. Nicht nur wird darauf verwiesen, dass Luxemburg die eigene Unabhängigkeit gegenüber anderen Ländern erkämpfen musste, sondern dass es sich dabei um einen fortwährenden Prozess handelt. Allerdings wird die Bedrohung heutzutage nicht mehr außerhalb der eigenen Grenzen verortet, sondern in der Mitte der Gesellschaft – nämlich von Seiten der MitbewohnerInnen ohne luxemburgischem Pass. Damit nimmt Wee2050 implizit Bezug auf die Konzepte der äußeren und inneren Souveränität. Letzteres verwendet die Bundeszentrale für politische Bildung für Staaten, welche „frei und unabhängig über die Art der Regierung, das Rechtssystem und die Gesellschaftsordnung innerhalb ihres Staatsgebietes bestimmen“. Nur dass Wee2050 nicht fordert, dass alle MitbürgerInnen hierüber bestimmen können, sondern ausschließlich jene mit luxemburgischem Ausweis.

So sehr die Positionen der genannten KommentatorInnen und Wee2050 sich auch in einzelnen Punkten voneinander unterscheiden mögen, so ist ihnen doch gemeinsam, dass die Abschaffung von Nationen und Grenze mit Rückentwicklung und Verlust – von Rechten, Freiheiten und Souveränität – verbunden wird. Nach Ansicht von Jonk Lénk dagegen birgt die Abschaffung von Nationen und Grenzen das Potenzial für eine gerechtere, diskriminationsfreie Gesellschaft.

Eine Kommentatorin auf der Facebook-Page der Jugendorganisation tritt dieser Ansicht mit gemischten Gefühlen entgegen. Sie schreibt, dass Nationen und Grenzen zwar ursprünglich dazu geschaffen wurden, um die eigene Kultur vor fremden Einflüssen zu schützen. Dies sei letzten Endes aber nur durch Unterdrückung und Gewalt zu bewerkstelligen. Andererseits würden sich „Kulturgrenzen“ aber auch nicht dadurch auflösen, dass man Landesgrenzen abschaffe. Deshalb, so die Userin abschließend, biete die Forderung von Jonk Lénk, keine wirkliche Lösung. Sie scheint also der Meinung, dass das Bedürfnis die „eigene“ vor den Einflüssen „fremder“ Kulturen zu schützen, immer fortbestehen wird, mit oder ohne territoriale Grenzen.

(Foto: Wikipedia)

Was wird gefeiert ?

In ihrer Rede machen Jonk Lénk drei Elemente aus, die ihrer Meinung nach alljährlich im Zentrum der Feierlichkeiten vom 23. Juni stehen: „Nation“, „Monarchie“ und „Kapitalismus“. Diese Aspekte verunmöglichen der Organisation zufolge eine offene Gesellschaft. Mit ihrem „antinationalen Fest“ wollten sie deshalb eine Gegenbewegung zu einer von ihnen als solche wahrgenommenen gesellschaftlichen „Fehlentwicklung“ ermöglichen. Im Beschreibungstext des Facebook-Events ist zu lesen: „Wenn wir feiern, dann feiern wir keine Nation, sondern unsere gemeinsame Vision von einer Zukunft ohne Nationen und Grenzen. Wir feiern eine Zukunft ohne Diskrimination ausgelöst durch den Ausweis, Hautfarbe, Geschlecht und der sexuellen Orientierung“. Zwar sei es in Ordnung, Gemeinsamkeiten zu feiern, jedoch problematisch, wenn es sich dabei um die Nationalität handelt. „Partypatriotismus“ sei nur „angeblich harmlos“, die Vorstellung, dass an Nationalfeiertag Luxemburger und Portugiesen zusammen feiern würden, eine Lüge.

„Warum darf man sein Land nicht feiern?“, fragt darauf eine Userin. „Ich bin sehr froh, in Luxemburg geboren worden zu sein und das Glück zu haben, dass es mir heute so gut geht! Uns geht es gut und wir leben hierzulande im Frieden, also lasst die Leute das feiern und erinnert sie an ihren Wohlstand und dass sie teilen sollen!“ Luxemburg wird hier mit Frieden und Wohlstand assoziiert und ebendies wiederum als Grund zum Feiern angesehen. Genau an diesem Punkt tritt erneut zutage, wie festgefahren die Debatte ist. Vieles, das von den einen als Grund zum Feiern angesehen wird, beurteilen die anderen als kritikwürdig: Abgrenzung, Monarchie als Symbol, Wohlstand.

Lassen sich diese Widersprüche überwinden? Wieviel ist ein Lösungsvorschlag – in diesem Fall die Abschaffung von Nation und Grenzen – wert, wenn viele kein Problem mit dem Status quo sehen? Im Laufe der Debatte wurde vor allem eines deutlich: Viele Fragen bleiben offen und eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit den thematisierten Problematiken scheint mehr als dringend.


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