Niederlande
: Im Irrgarten der Identitätspolitik


Bei den niederländischen Gemeindewahlen treffen insbesondere in Rotterdam rechte auf migrantisch geprägte Parteien. Interessenpolitik wird zusehends mit identitären Ideologien verquickt. Für kommunale Themen ist allenfalls am Rande noch Platz.

Ihm dienen selbst die Kommunalwahlen als Plattform für den „Volksaufstand“: Geert Wilders auf einer Demonstration seiner Partei PVV gegen die Politik der Regierung, Islamisierung und die „Diskriminierung der Niederländer“ am 20. Januar 2018 in Rotterdam. (Foto: EPA-EFE/Robin Utrecht)

Ein Raunen geht durch die Reihen. Erwartungsvoll drängen Hunderte Menschen, ausgestattet mit rot-weiß-blauen Fahnen, vom Rotterdamer Bahnhofsplatz in Richtung eines grasbewachsenen Hügels, der gänzlich unspektakulär an den Tram-Schienen liegt. Umringt von Personenschützern steht dort ein Mann im blauen Jacket. Geert Wilders ist gekommen, und er sagt der Regierung den Kampf an.

Genug hat er, von der „Diskriminierung der Niederländer“, von Elite, Islamisierung und Asylbewerbern, die alles umsonst bekommen, während rechtschaffene Einheimische ihre Pflegekosten nicht zahlen können. Doch damit ist jetzt Schluss: „Ich rufe das Volk massenhaft zum Widerstand auf!“, tönt es durch die kalte Luft. „Die Niederländer werden sich ihr Land zurückholen!“ Genau hier, in Rotterdam, soll bei den Kommunalwahlen am 21. März der Anfang gemacht werden.

Öffentliche Auftritte der „Partij voor de Vrijheid“ (PVV) sind immer gut durchdacht. Natürlich ist es kein Zufall, dass die Partei ihre Auftaktveranstaltung zu den Kommunalwahlen in Rotterdam, wo sie erstmals auf Gemeindeebene antritt, gleich in eine Demonstration zu nationalen Themen umfunktioniert. Die Hafenmetropole Rotterdam ist eine Hochburg der sogenannten Rechtspopulisten. Vor einem Jahr, bei den Parlamentswahlen, lag die PVV hier knapp auf dem zweiten Platz. Rund jede siebte Stimme ging an die Partei.

Es ist die typische Mischung aus Extremisten und Leuten, die gemäß einer informellen Sprachregelung mittlerweile gern als „besorgte Bürger“ bezeichnet werden, die sich Ende Januar zu dem Spektakel in Rotterdam eingefunden hat. „Pegida“ ist vertreten, die 2014 in Dresden gegründete Vereinigung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ hat mittlerweile europaweit Ableger hevorgebracht. Die Neonazis von der „Nederlandse Volks-Unie“ (NVU) sind ebenfalls da, auch Mitglieder der völkischen Voorpost-Bewegung verteilen Flugblätter. Eine Delegation des flämisch-separatistischen „Vlaams Belang“ stimmt lauthals den identitären Schlachtruf „eigen volk eerst“ an. „Geht doch nach Hause nach Belgien“, ruft ein einzelner Gegendemonstrant ihnen ironisch zu.

Ähnlich grotesk mutet es an, dass der Belgier Filip Dewinter, eine Galionsfigur des „Vlaams Belang“, gemeinsam mit Wilders ein Transparent in die Höhe hält, auf dem „Die Niederlande gehören uns“ geschrieben steht. Eines ist klar: Hier wird Anfang 2018 mehr verhandelt als die Frage, wer in den Stadträten das Sagen hat. Wesentlich mehr.

Auf einmal sind da noch andere Gegendemonstranten: zwei, drei Dutzend mögen es wohl sein, viele von ihnen jung, und sie sind offenbar gut organisiert. Innerhalb von Sekunden haben sie sich auf einer Stufe des Platzes in Position gebracht. Sie tragen weiße Windjacken mit zwei stilisierten, ineinander geschlagenen Händen: das Logo von „Denk“, einer jungen Partei, die ebenfalls zum ersten Mal in Rotterdam an den Kommunalwahlen teilnimmt. Auch sie entrollen jetzt ein Transparent: „Die Niederlande gehören uns allen!“, steht darauf.

Der Verfall der Sozialdemokratie ist ausgerechnet in der alten Arbeiterhochburg Rotterdam besonders weit fortgeschritten.

Der PVV direkt entgegentreten: Diese Strategie wählt „Denk“ nicht zum ersten Mal. Man sieht sich als Gegenpol zu Diskriminierung und Ausgrenzung, als Stimme für Zusammenhalt und Inklusion. „Rotterdam ist eine Weltstadt. Hier wohnen Menschen mit allerlei verschiedenen Hintergründen“, sagt Tunahan Kuzu, einer der beiden Gründer der Partei. Einst saß er für die Sozialdemokraten im Stadtrat. Nun steht er vor dem Theater, jemand von „Denk“ schwenkt die grün-weiße Fahne Rotterdams, und eine Reihe Polizisten schiebt sich zwischen die beiden Kundgebungen. „Dort stehen Leute voller Hass, die ihr großer Führer hierher gerufen hat“, spöttelt Kuzu. „Viele davon sind nicht mal von hier. Wir dagegen: alles Rotterdamer!“

Die Frage, wer in den Niederlanden dazu gehört und wer nicht, bekommt Symbolcharakter in dieser Stadt. Ähnlich wie das kleine Land in Nordwesteuropa für seine Nachbarn als Pionier gilt, nimmt Rotterdam Entwicklungen vorweg, die in anderen Städten folgen. Kurz nach dem Millennium sagte mit Pim Fortuyn hier der erste moderne Rechtspopulist dem Establishment den Kampf an. 2009 wurde mit Ahmed Aboutaleb erstmals ein Migrant Bürgermeister einer europäischen Metropole.

Aktuell gibt es noch einen weiteren Grund, weshalb Europa auf diese Stadt schauen sollte, mit seiner Bevölkerung von mehr als 170 Nationalitäten. Der Verfall der Sozialdemokratie ist ausgerechnet in dieser alten Arbeiterhochburg besonders weit fortgeschritten. Begünstigt hat das Parteien, die auf Identität setzen.

Viele Wähler, die die „Partei der Arbeit“ (PvdA) verloren hat, sind bei den Rechtspopulisten gelandet, und inzwischen auch bei „Denk“ – was auf Türkisch „gleich“ bedeutet. So wie sie sich jetzt vor dem Theater entgegenstehen, konkurrieren sie ums Elektorat der Hafenstadt. In armen Vierteln wie Feijenoord wurden PVV und „Denk“ bei der Parlamentswahl vor einem Jahr die stärksten Parteien. Beide wollen diese Position nun untermauern.

Den größten Rückhalt hat „Denk“ bei den Rotterdamern türkischer Herkunft. Und just in Türkei-spezifischen Fragen zeigt die Partei Profil: wenn es um kritische Journalisten wie Can Dündar oder um Erdogan-Gegner geht, liegt „Denk“ zuverlässig auf AKP-Linie. Vor einem Monat stimmten fünf „Denk“-Abgeordnete in Den Haag dafür, dass die Niederlande den Genozid an den Armeniern anerkennen. Worauf Tunahan Kuzu ihnen öffentlich vorhielt, sie müssten sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen.

Dass „Denk“ in den Rotterdamer Stadtrat gewählt wird, ist sehr wahrscheinlich. Ebenso wahrscheinlich wird man dort auf Vertreter einer lokalen Partei treffen, die oft im gleichen Atemzug genannt wird: „Nida“. Deutlicher noch als „Denk“ postuliert sich „Nida“ als Teil der politischen Linken. „Rotterdamer DNA, islamisch inspiriert“, ist ihr Slogan. „Nida ist ein Begriff aus dem Koran und bedeutet Aufruf oder Stimme“, so die Selbstbeschreibung. Bei den Kommunalwahlen von 2014 hatte die Partei auf Anhieb zwei Sitze erobert.

Noch bevor der Wahlkampf in Rotterdam begonnen hatte, waren die Schlagzeilen von „Denk“ und „Nida“ bestimmt. Kurzfristig gibt es Gerüchte, die vermeintlichen „Migrantenparteien“ könnten die Kräfte bündeln. Bei „Nida“ ist man diesbezüglich gespalten. Nourdine El Ouali, „politischer Leiter“ der Partei und einer ihrer beiden Vertreter im Rotterdamer Stadtrat, sprach sich dagegen aus. Aydin Peksert, der den anderen Sitz innehat, erklärte hingegen schon vor einem Jahr seine Sympathie für „Denk“. In den vergangenen Wochen geriet Peksert in den Verdacht, für „Denk“ zu spionieren und wurde aus der Partei geworfen. Kurz darauf erschien sein Name auf der Kandidatenliste von „Denk“. Peksert berichtete, El Ouli habe ihn nicht nur „Verräter“, sondern auch „munafiq“ genannt: „äußerlich ein Muslim, innerlich nicht“.

Ende Januar lud „Nida“ zum Neujahrsempfang in ein Restaurant in Ijsselmonde im Süden der Stadt. Kurz davor hatte man die Liste der Kandidaten bekannt gegeben. An erster Stelle erneut: Nourdine El Ouali. Auf der Veranstaltung stimmte der 36-jährige Pädagoge die Mitglieder und Anhänger auf die Wahlen ein: „Stadtgenossen!“, ruft er antillianischen, holländischen und maghrebinischen Rotterdamern zu, „wir stehen vor einer historischen Chance: Dem misstrauischen, kleingeistigen Blick auf unsere Stadt können wir Vertrauen und Liebe entgegensetzen und sie inklusiver, sozialer und nachhaltiger machen!“

Was aber meint „Nida“ mit „islamischer Inspiration“? El Ouali, ein freundlicher, zugänglicher Zeitgenosse, nahm sich nach seiner Rede Zeit für diese Frage. Die Antwort indes blieb vage. Er spricht vom Islam als „Ansporn zum Guten“ und „Quelle positiver Energie“ und der Notwendigkeit, Islamfeindlichkeit etwas entgegenzusetzen. Eine muslimische Partei sei „Nida“ nicht: „Auf der Liste stehen alle möglichen Menschen. Gläubig oder nicht, spielt keine Rolle.“ Eher gehe es um universelle Punkte wie die radikale Gleichheit aller Menschen – „auf die der Islam aber kein Monopol hat“.

Bei „Leefbaar Rotterdam“ kriegt man ob solcher Konzepte das kalte Grausen. Die Partei, aus der 2001 Pim Fortuyn hervorging, ist die populistische Ursuppe der Niederlande. Die letzten Kommunalwahlen 2014 gewann sie mit Abstand und stellt seither drei von sechs städtischen, den Luxemburger Schöffen vergleichbaren Dezernenten – noch so eine Rotterdamer Premiere. Im aktuellen Wahlkampf setzt man, wie sollte es anders sein, auf das Thema Identität. An einem Februar-Abend hat „Leefbar“ ins Weltmuseum am Maasufer geladen. Eine Podiumsdiskussion steht an. Thema: die „Weg mit uns-Debatte“.

„Weg mit uns“ ist eins dieser Schlagworte, bei denen die Stimmung in den Niederlanden hochkocht. Es geht um die vermeintliche Abschaffung der kulturellen Identität im Zuge von Multikulti und politischer Korrektheit. Auf dem Podium fliegen innerhalb kürzester Zeit die Fetzen: zwischen einem linken und einem rechten Publizisten, der Erdogan-kritischen Moderatorin türkischer Herkunft Ebru Umar, und Farid Azarkan, der für „Denk“ im Parlament in Den Haag sitzt. Azarkan hat eine Gruppe Unterstützer mitgebracht, die johlt, buht und ruft. Auch der Rest des Publikums geht lebhaft mit.

Einmal mehr zeigt sich, dass diese Kommunalwahlen thematisch vollkommen überfrachtet sind. Man streitet über die Frage, ob Migration „ein Anschlag auf unsere Identität“ sei. Aber auch über den Vorschlag, die Denkmäler vermeintlicher „Seehelden“ aus der niederländischen Geschichte wegen deren Verstrickungen in Kolonialismus und Sklavenhandel mit einem Disclaimer zu versehen – und, Gegenvorschlag, eine entsprechende Kennzeichnung an der Eingangstür zu Moscheen, die auf die gewalttätige Geschichte des Islam verweist. „Leefbaar“-Politiker fordern Migranten auf, aus ihrer Opfer-Rolle zu kommen. Farid Azarkan hält dagegen: „Weg mit uns – was für eine Opfer-Mentalität ist das denn?”

Später am Abend ist Joost Eerdmans, der Spitzenkandidat von „Leefbaar“, besorgt über die wachsende Zahl ethnisch definierter Parteien. „Früher wählten Ausländer Sozialdemokraten. Jetzt überlegen sie, wo sie besser zur Geltung kommen und wählen eine Partei, die aus der Türkei gelenkt wird, oder eine islamische. Es gibt sogar eine Partei für Afrikaner! Bald haben wir eine für jede Nationalität”, so der Spitzenkandidat.

Eerdmans, 47, war in den letzten vier Jahren Dezernent für Sicherheit in Rotterdam. Einst saß er für die Partei Pim Fortuyns im Parlament in Den Haag. Die Stadt sieht er nun „an einer Kreuzung“: geht es weiter auf dem Weg, den Rotterdam zuletzt einschlug? Wird der harte Kurs in punkto Integration und Sicherheit fortgesetzt? Oder gewinnt das „Opferdenken“ überhand, das Eerdmans migrantischen Parteien unterstellt? Einer Sache ist sich Eerdmans gewiss: Die Niederlande blicken auf seine Stadt. „Hier kommt alles zusammen: „Denk“, „Nida“, die PVV und wir. Der Fokus liegt wie immer auf Rotterdam!“

Tobias Müller berichtet für die woxx aus Belgien und den Niederlanden und hat sich vor den dortigen Wahlen in Rotterdam umgehört.

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