Nigeria
: Erster Platz in Terrorismus

Trotz der Erfolge beim Kampf gegen Boko Haram gelingt es den Islamisten, ihre Aktivitäten über die Grenzen Nigerias hinweg auszuweiten. Ins Visier nehmen sie vor allem sogenannte weiche Ziele.

Will konsequent gegen die Terrorgruppe Boko Haram vorgehen: Der nigerianische Präsident Muhammadu Buhari, der seit März dieses Jahres im Amt ist. (Foto: Chatham House)

Will konsequent gegen die Terrorgruppe Boko Haram vorgehen: Der nigerianische Präsident Muhammadu Buhari, der seit März dieses Jahres im Amt ist. (Foto: Chatham House)

Sie suchten sich den Markttag aus. Drei junge Frauen mischten sich am Samstag unter die Händler und Kunden auf der Insel Koulfoua im Tschad-See und zündeten den Sprengstoff, den sie am Leib trugen. Mindestens 30 Menschen kamen bei dem koordinierten Anschlag im südlichen Tschad ums Leben, Dutzende wurden verletzt. Auch der seit einiger Zeit geltende Ausnahmezustand und die starke Präsenz des tschadischen Militärs konnten den Angriff nicht verhindern.

Der Terror der Islamisten von Boko Haram macht längst nicht mehr Halt vor Landesgrenzen, sie operieren in Nordostnigeria, dem südlichen Tschad und Niger sowie dem nördlichen Teil Kameruns. Nachdem das nigerianische Militär im März eine Großoffensive gegen Boko Haram gestartet hatte, zogen sich die Jihadisten in entlegene Landstriche des Sambisa-Waldes im Bundesstaat Borno und in den Norden Kameruns zurück. Doch auch dort haben sie mit der Verfolgung durch das Militär zu rechnen.

Kürzlich meldete das Verteidigungsministerium Kameruns, in dessen nördlicher Provinz Boko Haram sehr aktiv ist, eine erfolgreiche Operation. Mindestens 100 Terroristen seien getötet worden und man habe 900 Geiseln befreit. Alle Länder, in denen Boko Haram aktiv ist, haben ihre militärischen Operationen gegen die Gruppe intensiviert und so die Islamisten in die Defensive gebracht. Die von ihnen kontrollierten Landstriche im Nordosten Nigerias sind zu einem großen Teil zurückerobert worden, und so verlegt sich Boko Haram auf sogenannte weiche Ziele.

Es sind vor allem Selbstmordattentate, mit denen seit mehreren Monaten die Menschen in Kano, Yobe und Maiduguri, im Süden des Niger und den anderen Anrainerstaaten des Tschad-Sees terrorisiert werden. Nachdem Boko Haram sich zurückziehen musste, brauchte die Gruppe anscheinend einige Zeit, um ihre Taktik an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Mit der Armee, die nun besser ausgerüstet und motiviert zu sein scheint als in den Jahren zuvor, kann sie es in direkten Gefechten nur schwer aufnehmen. Deshalb verlegt sie sich auf logistisch weniger aufwendige Methoden.

Bis Ende dieses Monats, so verkündete es wiederholt der seit März dieses Jahres amtierende nigerianische Präsident Muhammadu Buhari, wolle man den islamistischen Terror beendet haben. Um das zu erreichen, wurde kurz nach seinem Amtsantritt die gesamte Führungsriege der Armee ausgewechselt, eine regionale Eingreiftruppe mit Soldaten aus dem Tschad, dem Niger, Kamerun sowie Benin gebildet und das Hauptquartier der nigerianischen Truppen aus Abuja nach Maiduguri, die Hauptstadt des Bundesstaats Borno, verlegt.

Alles deutet darauf hin, dass unter Buhari – anders als unter seinem Vorgänger Goodluck Jonathan – der Kampf gegen die aufständischen Islamisten höchste Priorität genießt. Behoben werden soll das Problem der schlechten Ausrüstung und der fehlenden Motivation der Truppen, zudem sollen Kommandeure ihre Soldaten nicht mehr aus sicherer Entfernung in den Kampf schicken. Auch gegen diejenigen, die sich aus dem Budget für Sicherheit und Verteidigung in den vergangenen Jahren illegal bereicherten, soll nun konsequenter vorgegangen werden.

Anfang Dezember wurden Sambo Dasuki, der nationaler Sicherheitsberater unter Präsident Jonathan war, und mehrere seiner Vertrauten verhaftet. Dasuki wird vorgeworfen, insgesamt zwei Milliarden US-Dollar veruntreut zu haben, die eigentlich für den Kampf gegen Boko Haram vorgesehen waren. Das ist selbst für das korrupte politische System Nigerias ein erstaunlich hoher Betrag.

Dasuki ist der erste hochrangige Politiker der Vorgängerregierung, dem nun wegen Korruption der Prozess gemacht werden soll. Von dem Geld sollten zwölf Helikopter, vier Kampfflugzeuge und Munition gekauft werden, was jedoch nie geschah. Währenddessen beklagten sich die Soldaten an der Front über fehlende Munition und schlechte Ausrüstung.

Es bleibt abzuwarten, ob es sich bei der derzeitigen Verfolgung von Korruption und Unterschlagung um politisch motivierte Aktionen handelt, wie die Betroffenen immer wieder beteuern, oder ob es Buhari mit dem Kampf gegen die kriminellen Machenschaften auf höchster Ebene ernst meint. Der Präsident selbst gilt vielen Beobachtern als unbestechlich und ist als pensionierter General mit den Problemen der kämpfenden Truppen bestens vertraut.

Laut Amnesty wurden im Antiterrorkampf mehr als 7.000 Männer und Jungen in Gefängnissen des Militärs getötet.

Neben der Veruntreuung von Geld, das für den Kampf gegen die Terroristen vorgesehen war, gibt es noch ein weiteres gravierendes Problem im Antiterrorkampf, dessen sich die neue Regierung umgehend annehmen muss. Wie aus einem Bericht von Amnesty International (AI) vom Juni dieses Jahres hervorgeht, wurden im Zuge der Aufstandsbekämpfung mehr als 7.000 Männer und Jungen in Gefängnissen des Militärs getötet, auch außerhalb der Knastmauern seien 1.200 Menschen ermordet worden.

„Diese widerlichen Zeugnisse zeigen auf, wie Tausende junge Männer und Jungen unbegründet verhaftet wurden und vorsätzlich umgebracht oder dem Tode überlassen wurden in Gefangenschaft unter entsetzlichen Bedingungen. Sie liefern eine starke Basis für Ermittlungen bezüglich der möglicherweise kriminellen Verantwortung von Mitgliedern des Militärs, einschließlich jener in den höchsten Positionen“, so Salil Shetty, der Generalsekretär von AI, in einer Pressemitteilung. Der Bericht benennt namentlich hohe Militärangehörige, einschließlich der ehemaligen Befehlshaber, die für die Verbrechen verantwortlich sein sollen.

Sollte sich an diesen Zuständen nichts ändern, wird es für Boko Haram ein Leichtes sein, neue Rekruten zu finden. Gefangen zwischen einer islamistischen Mördertruppe und einem nicht selten ebenso brutal agierenden Militär sehen viele junge Männer nur die Wahl, sich den Terroristen anzuschließen oder zu fliehen.

Weit über zwei Millionen Nigerianerinnen und Nigerianer wurden in der siebenjährigen Terrorkampagne vertrieben. Und auch für Nachbarländer wie den Niger oder Kamerun stellt Boko Haram trotz der jüngsten Erfolgsmeldungen immer noch eine enorme Bedrohung dar.

Im Norden Kameruns zum Beispiel wird immer wieder davon berichtet, wie es den Islamisten gelingt, mit finanziellen Anreizen neue Rekruten zu gewinnen. Die Region ist weit abgelegen von den Zentren des Landes und wurde in den vergangenen Jahrzehnten von der Zentralregierung sträflich vernachlässigt. So berichten lokale Beamte davon, wie es Boko Haram mit einer Mischung aus Zwang und Geld gelingt, junge und nicht mehr so junge Kameruner für ihren Kampf zu rekrutieren. Der Sold im Dienst der Islamisten soll ein Vielfaches des Mindestlohns von 72 US-Dollar im Monat betragen.

So scheint es verfrüht, wenn jetzt die nigerianische Regierung die vor dem Terror Boko Harams geflohenen Menschen auffordert, in ihre Herkunftsgebiete zurückzukehren. Meist erwartet sie dort nichts anderes als eine komplett zerstörte Infrastruktur. Die Unsicherheit und die Angst vor einer Rückkehr der Islamisten sind groß. Neben der militärischen Offensive sollten der Wiederaufbau und die Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten hohe Priorität genießen. Der Nordosten Nigerias gilt ohnehin seit Jahrzehnten als ärmste Region des Landes – ein Umstand, der nicht wenige in die Arme von Boko Haram trieb.

Im Ranking des weltweiten Terrors steht Boko Haram noch vor dem „Islamischen Staat“, dem die Organisation im März die Gefolgschaft geschworen hat, auf dem Spitzenplatz. Nirgendwo wurden 2014 so viele Menschen durch terroristische Aktivitäten getötet wie im Norden Nigerias und in den grenznahen Regionen der Nachbarstaaten. Trotz der Erfolgsmeldungen der vergangenen Monate ist Boko Haram noch lange nicht besiegt, und der Kampf um die Herzen und Köpfe der Bevölkerung wird nicht weniger erfordern als einen Wandel der Entwicklungspolitik für die betroffenen Regionen, die den Menschen eine Perspektive jenseits von Gewalt, Vertreibung und einem Leben in Armut geben kann.

Ruben Eberlein ist Afrikanist und arbeitet als freier Journalist.

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